Dreimal Zufall bei Kant

Anne Tilkorn (Berlin)


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Ich unterscheide drei Begriffe von Zufälligkeit: modale, teleologische und ästhetische. Der Schwerpunkt liegt auf der ästhetischen Zufälligkeit, denn weder im Bereich der theoretischen Philosophie, noch in dem der Teleologie, spielt die Zufälligkeit eine so bedeutende Rolle wie in der Ästhetik. Die unterschiedlichen Positionen will ich im Folgenden von einander abgrenzen. Ich beginne mit dem Zufall in der Welt der Erfahrung, komme zweitens zum Zusammenhang von Zufall und Zweckmäßigkeit in der Teleologie und drittens zu der Zufälligkeit, die den ästhetischen Kosmos konstituiert.

Erstens: modale Zufälligkeit

Der kantischen Philosophie scheint zunächst nichts ferner zu liegen als die Beschäftigung mit dem Zufall, hat sie es sich doch zum Ziel gesetzt, die notwendigen Bedingungen möglicher Erkenntnis überhaupt reflektierend offenzulegen. Dabei geht es nun nicht um das daseiende Wirkliche – sonst würde die transzendentale Recherche mit empirischer Wissenschaft zusammenfallen – sondern es geht um die Konditionen, die eine Wissenschaft erst möglich machen, um ihre Voraussetzungen. Auf dieser Ebene transzendentaler Gesetzgebung nun seinerseits etwas Zufälliges anzusiedeln, würde das Bestreben Kants zerstören, wissenschaftliche Aussagen über die objektive Welt zu begründen. Gesetze, die ihren notwendigen Status aufgäben, wären keine Gesetze mehr. Sie wären nicht mehr zu unterscheiden, von dem, was sie bestimmen und hätten ihre Geltungsebene verlassen. Trotzdem taucht die Zufälligkeit an exponierter Stelle in Kants theoretischer Philosophie auf: in der Kategorientafel. Kann die Zufälligkeit also Gesetz sein?! Die Irritation kann beseitigt werden, denn die Kategorie der Zufälligkeit ist eine Modalkategorie. Damit gehört sie gerade nicht zu den einen Gegenstand bestimmenden Verstandesbegriffen, sondern drückt vielmehr aus, wie sich das von den Kategorien der Quantität, Qualität und Relation konstituierte Ding zum Erkenntnisvermögen selbst verhält.1

Wird ein Ereignis als zufällig beurteilt, so bedeutet dies, die*der Urteilende reflektiert in ihrer*seiner Beurteilung explizit nicht auf das dem Vorgang zugrunde liegende Kausalgesetz. Es bedeutet nicht, dass die angeschaute Wirkung, z. B. bei der Ziehung der Lottozahlen das Herausfallen eines bestimmten mit einer Zahl versehenen Bällchens aus einer sich drehenden Plastiktonne, keine Ursache hätte. Die Modalkategorie nimmt gewissermaßen über den beurteilten Gegenstand die urteilende Person selbst in den Blick. Beim Beispiel der Lottozahlen reflektiert nun die Beobachter*in nicht nur nicht auf das Kausalgesetz, sondern weiß auch schlichtweg nicht mit welcher Geschwindigkeit, welchem Einfallswinkel usw. sich der Ball in der Masse der Bälle bewegt; das Herausfallen genau dieses Bällchens ist durch die Unkenntnis all dieser Parameter für die Urteilende aus dem Kausalnexus herausgelöst, sie nimmt keinen Bezug auf das Kausalgesetz und setzt das Ereignis als für sie*ihn zufälliges.

Der hier beschriebene Weltbezug ist ein theoretischer. Bälle, Plastikbehälter und ihre Bewegung sind Teil objektiver Erfahrung. Die konstatierte Zufälligkeit tut der Gesetzlichkeit der die Dinge konstituierenden, nicht-modalen Verstandesbegriffe keinen Abbruch, sondern drückt nichts anderes aus als die Relation der*des Urteilenden zu jener allgemeinen Gesetzlichkeit.

Zweitens: Zufall und Teleologie

In der Theorie war das Zufällige eine Ausnahme und betraf nur den Spezialfall eines aus dem allgemein geltenden Kausalzusammenhang isolierten Ereignisses. In der Kritik der Urteilskraft dagegen, also dort, wo es darum geht, das zu verstehen, wofür das Gesetz noch nicht gefunden ist, d.h. das Besondere, ist der Status des Zufälligen ein grundlegenderer. Teleologisch bedeutet „zielgerichtet“ und nur so ist ein Organismus für uns verständlich. Aus der Perspektive der Verstandeskategorien ist ein Naturprodukt zufällig. Zufällig, weil sich hier für den Verstand eine Erklärungslücke auftut. Vergleicht man zum Beispiel eine Rose mit einem Tisch wird das klar: Dass der Tisch mittels der Kausalgesetze entstanden ist, ist nicht zufällig, denn der*die Herstellende hat sich diese Gesetze zum Mittel gemacht. Der Tisch als vorgestellter war bereits als Zweck da, bevor er realisiert wurde. Im Fall der Pflanze kann nun das bloße Kausalgesetz die entstandene Einheit nicht erklären, gibt es doch hier keine die Gesetze von vorneherein steuernde Vorstellung. Die zugrundeliegenden Gesetze und die entstandene Formeinheit ‚Rose‘ sind eben nicht wie beim Tisch miteinander verbunden. Für das, was der Verstand also als zufällig bezeichnen muss, stellt nun die reflektierende Urteilskraft einen regulativen Begriff bereit. Regulativ deshalb, weil dieser nicht wie die Verstandesbegriffe als allgemeiner das Besondere bestimmt, sondern weil er von dem Besonderen, das sich dem Allgemeinen entzogen hat, ausgeht. Erst mittels der regulativen Idee der Zweckmäßigkeit können die Gesetze als auf die Rose hinzielende verstanden werden. Es kann also ein Zusammenhang zwischen Zufälligkeit und Zweckmäßigkeit festgestellt werden, denn die Zweckmäßigkeit tritt da auf den Plan, wo der Verstand „Zufälliges“ konstatieren muss.

Kants Formulierung den „eigentümlichen Charakter der Dinge als Naturzwecke“ betreffend muss ernst genommen werden: Er sagt, dass die Form des Dings nicht nach bloßen Naturgesetzen möglich sein dürfe.2 Hätten wir nur die Naturgesetze zur Beurteilung zur Verfügung, dann könnten wir die Form dieses Dings nicht erklären. Genau das meint in diesem Zusammenhang die „Zufälligkeit der Form“.3 Die Zufälligkeit ist keine Erklärung, sondern drückt den Mangel an Erklärung aus. Da unsere Verstandesgesetze allein zur Begründung nicht ausreichen, müssen die Naturprodukte auf einen Vernunftbegriff rückbezogen werden. Erst über die Kausalität der Vernunft, d.h. den Zweckbegriff, können Ursache und Wirkung in den Blick kommen.4 Allerdings kann der Zweck nicht als Vorstellung eines Vernunftwesens gedacht werden, weil es sich dann um ein Kunst- und nicht mehr um ein Naturprodukt handelte. Um den Zweckbegriff auf ein Naturprodukt anwenden zu können, holt Kant ihn gewissermaßen in das Produkt selbst hinein und schließt damit aus, dass es sich hier um ein Produkt der Freiheit handelt: „Ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich in zweifachem Sinne) Ursache und Wirkung ist.“5 Zunächst wird also eine Kausalität, die nur durch Vernunft möglich ist, angenommen, gleichzeitig wird aber sofort ausgeschlossen, dass es sich dabei um einen Willen handelt, so dass die Natürlichkeit des Produkts gewahrt bleibt.

Was bedeutet es nun, „von sich selbst Ursache und Wirkung“ zu sein? Es handelt sich dabei nur dann nicht um einen Widerspruch, wenn verschiedene Hinsichten des „selbst“ gemeint sind. Zum einen die, dass „die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind.“6 Das Ding wird als Zweck gedacht und seine Idee oder sein Begriff bestimmen alles, was nötig ist, um ihn hervorzubringen. So wird die Zufälligkeit, d.h. die Unerklärbarkeit eliminiert, denn Ursache der Teile ist das Ganze, die Form-Einheit, der Zweck. Würde nicht noch ein zweites Kriterium hinzukommen, wäre dieses Ding aber wiederum bloß ein Kunstwerk.7 Es gilt deshalb zugleich, „daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.“8 So gelingt es, Vernunft- bzw. Zweckkausalität und Natur miteinander zu vereinbaren. Es gibt keinen äußeren Willen, der auf das Ganze abzielt, sondern es sind die Teile selbst, die sich gegenseitig und ihre Verbindung zu einer Form hervorbringen.9 Auch in einer von einem Vernunftwesen hergestellten Uhr ist jedes Teil um des anderen willen da und zusammen ergeben sie das Ganze. Im Gegensatz dazu bringt aber im Naturprodukt darüber hinaus jeder Teil den anderen hervor. Kant differenziert hier zwischen der lediglich bewegenden Kraft einer Maschine und der bildenden Kraft eines organisierten Wesens.10

Im Phänomen des Naturzwecks findet sich wie im Bereich menschlichen Handelns die Idee des Ganzen als ausschlaggebendes Moment. In einem grundlegenden Punkt unterscheidet sich die Funktion der Idee: Nur im Handeln ist sie tatsächlich Ursache für den Herstellungsvorgang. Hier, in der Natur, ist die Idee des Ganzen nicht Ursache, es gibt kein vernünftiges Wesen, das hier produzierend tätig ist, sondern sie ist unser Erkenntnisgrund, anhand dessen wir etwas über die Verbindung der Teile aussagen können. Nur qua der Idee der Einheit können wir der Zufälligkeit des Ganzen nach Verstandesregeln etwas entgegensetzen. Es ist das apriorische Prinzip der Zweckmäßigkeit, das der reflektierenden Urteilskraft erlaubt, einen Zweck anzunehmen, der dem Besonderen, d.h. der Verbindung der Teile die Regel gibt.11

Drittens: Zufälligkeit und Ästhetik

Die Perspektive der Teleologie ist letztlich eine am Verstand orientierte, d.h. die Natur wird weiterhin als ein objektiver Gegenstand aufgefasst. Es geht stets um allgemeine Objekte der Erfahrung.

Erst in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft tritt das sinnlich Gegebene aus dem Schatten jeglicher Verstandes- und Vernunftbegrifflichkeit. Die Autonomie des Urteils über das Natur- oder das Kunstschöne wird dabei nicht nur gegenüber objektiver Erkenntnis, sondern auch gegenüber moralischen Urteilen behauptet. Die Sphäre des Ästhetischen hat mit der objektiven Welt keinen Berührungspunkt mehr. Leitete der teleologische Begriff eines Naturzwecks als heuristischer die Forschung an, so bleibt einer Wissenschaft jegliche Zugriffsmöglichkeit auf den ästhetischen Kosmos verwehrt. Der Grund dafür, dass es für Urteile, die die ästhetische Valenz betreffen, keine Möglichkeit eines objektiven Beweises geben kann, ist die Privatheit des Lustempfindens der*des Urteilenden. Sie*er bezieht ihre*seine Vorstellung hier nicht wie beim objektiven Erkennen auf den Gegenstand, sondern auf ihr*sein Gefühl der Lust oder Unlust.12 Dieses Gefühl ist nur für die*den Urteilenden selbst, es ist nicht fremdbeobachtbar.

In den Fokus rückt jetzt die Sinnlichkeit selbst, das Sehen als Sehen. Bedingung dafür ist, dass die allgemeine Gesetzlichkeit, die im theoretischen wie auch im praktischen Weltbezug bestimmend tätig ist, aufgegeben wird. Es gibt kein allgemeingültiges Gesetz, das Empfindungen in ästhetische Lust transformiert. Weder die*der Produzent*in, noch die*der Rezipient*in von „etwas Schönem“ hat Regeln zur Verfügung, anhand derer sie*er dieses herzustellen oder sich ihm zu nähern hat. An die Stelle der Gesetzlichkeit tritt die Zufälligkeit. Erst wenn der Zugang zur Sinnlichkeit ein ungeregelter und damit zufälliger ist, d.h. wenn das Gesehene weder unter Begriffe subsumiert wird, noch ein moralisches Gesetz diktiert, was zu gefallen hat und was nicht, ist die Möglichkeit gegeben, dass ein genuin ästhetischer Kosmos eröffnet werden kann.13

Wie ist nun die Zufälligkeit, die an die Stelle der allgemeinen Gesetze tritt, zu denken? Ihre positive Kraft besteht darin, dass Einbildungskraft und Verstand in ein anderes, neues Verhältnis treten. Dem Eingebildeten wird ein gleichrangiger Platz eingeräumt, der Verstand und seine Begriffe haben die Rolle des Gesetzgebers aufgegeben und lassen sich auf eine spielerische Relation zum Gegebenen ein.14 Es ist die Zufälligkeit, die dabei im Verhältnis der Kompetenzen zueinander herrscht, die die Bedingung der Möglichkeit eines Zugangs zu dem gegebenen Sinnlichen darstellt, der vorher durch die immer schon darauf zugreifenden Verstandes- und Vernunftgesetze verstellt war. Die*der Vorstellende kann mit ihrer*seiner Vorstellung, die völlig ego-interne Vorstellung bleibt, anders umgehen als mit jener, die als Zeichen für allgemeine, der Wissenschaft zugängliche Objekte fungierte. Das im objektiven Weltbezug latent Gebrauchte wird im ästhetischen Spiel ernst genommen und aus seiner Latenz gehoben. Die Farb- oder Tonempfindungen transportieren keine Gegenständlichkeit mehr, sondern lassen die*den Betrachter*in15 sich auf ihre*seine eigene Tätigkeit des Sehens rückbeziehen.

Nicht die einzelne Farbempfindung ermöglicht nun die Schönheit eines Gemäldes – diese bliebe ausschließlich privat – sondern die Relationen, die zwischen den von der*dem Betrachtenden erzeugten Formbildungen aufgemacht werden. Die Anschauungsformen Raum und Zeit werden bestimmt von den materialen Empfindungen der*des Beobachters*in. Das Ordnungsgefüge, das diese*r nun innerhalb dieses Sehraumes eröffnet, die Bezüge, die sie*er zwischen den eingebildeten Formen heraussieht bzw. -denkt, kann sie*er benennen. Sie*er kann formulieren, wie sie*er sieht, ihr*sein Sehen nachvollziehbar machen, so dass ein Weg aus dem rein solipsistischen Genießen herausführt. Das Gefühl der Lust, das bei einem gelungenen Zusammenspiel von Einbilden und Reflektieren empfunden wird, ist ein tätig hergestelltes und insofern ist es für jede*n, die*der ihrer*seinerseits tätig wird, möglich, dieses Gefühl zu erlangen.

Nur wenn die Zufälligkeit im Verhältnis der Kompetenzen aufrecht erhalten bleibt, ist auch der Unterschied zu einem bloß passiven Auf-Sich-Wirken-Lassen des sinnlich Gegebenen gewahrt. Wird das zufällige Verhältnis aufgegeben – während die Funktion der verobjektivierenden Begriffe weiterhin aussetzt –, beginnt die Notwendigkeit eines Genießens, das im Gegensatz zum selbst hergestellten ästhetischen Freuen, von einem gleichsam erdrückenden und überwältigenden Charakter ist. Beim Angenehmen wird die Vorstellung einer Sache „lediglich auf das Subjekt bezogen, und dient zu gar keinem Erkenntnisse, auch nicht zu demjenigen, wodurch das Subjekt sich selbst erkennt.“16 Das bewusste Sehen des Sehens, ein Bewusstsein der eigenen Tätigkeit, findet hier nicht statt.

Maßgebliches Kriterium der Abgrenzung des Schönen vom Angenehmen bleibt die Differenz von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Die Notwendigkeit des Angenehmen zeigt sich darin, dass zwischen der empfundenen Lust und dem Entstehen der Lust keinerlei Vermittlung eingeschaltet ist. Die Lust am Angenehmen ist direkte Lust. Sie ist Resultat eines Kausalverhältnisses zwischen der empirischen Disposition des Subjekts und der bestimmten Qualität der vorgestellten Sache. Insofern ist das Ereignis des Lustgefühls durch kausale Regeln determiniert, es ist nicht zufällig, sondern Wirkung einer Ursache und kann in diesem Sinn als notwendig identifiziert werden. Die Regel, die den Urteilen über angenehme Dinge zugrunde liegt, ist letztlich das Gefühl der Lust selbst.17

Kants Paradigma für ein schönes Ding war ein schönes Naturprodukt. Nicht das schöne Naturding selbst, sondern die Natur, die als nicht-planend tätige auftritt, ist dabei Vorbild.18 Damit ist der Bereich der Zwecke und Begriffe, die in einer ästhetischen Beurteilung generell ohne Belang sind, von vorneherein ausgeblendet. Sobald die*der Künstler*in sich nun um ein solches „natürliches“, also um ein nicht-begriffliches Produzieren bemüht, unterscheidet sie*er sich zwangsläufig in einem wesentlichen Punkt von dem Geschehen in der Natur. Die Zufälligkeit, die sie*er zu erreichen sucht, ist jetzt eine bewusste, geplante Zufälligkeit oder `reflektierte Negativität´. Sie*er versetzt sich absichtlich in die Regellosigkeit, so dass aus dem Ungeplanten ein geplantes Ungeplantes geworden ist.

Hans Arp nannte einige seiner Werke „Nach den Gesetzen des Zufalls geordnet“. Einbildungskraft und Reflexion der*s Betrachter*in der heruntergefallenen Papierschnipsel lassen sich in eine zufällige Relation bringen, wenn aus den Formen immer neue Ordnungen herausgesehen werden können und diese wiederum auf den Unordnung versprechenden Titel bezogen werden. An diesem Beispiel wird nun nicht nur die Zufälligkeit auf seiten der*des Betrachter*in deutlich, sondern auch, dass der Begriff `Zufall´ jetzt die Bedeutung des Ausdrucks der Selbstreflexivität der Kunst gewonnen hat. Arp stellt den Zufall als Protagonisten in den Vordergrund.

Es können also drei Ebenen ästhetischer Zufälligkeit unterschieden werden: Zunächst der ganz kantische Zufall im Verhältnis der spielerisch auf einander bezogenen Vermögen der*des Urteilenden, dann der Zufall als Ausdruck der Selbstbewusstwerdung des Mediums Kunst und schließlich die Art und Weise, wie sich die*der Künstler*in die Zufälligkeit für ihre*seine Produktion zunutze macht.

Waren für Leonardo da Vinci unregelmäßige, fleckige Mauern, Wolkenformationen oder schlammige Pfützen noch eine Möglichkeit, der Phantasie auf die Sprünge zu helfen, so ist das Moment des Zufälligen im 20. Jahrhundert mehr und mehr in den Mittelpunkt vieler Werke gerückt. Die ästhetische Zufälligkeit ist der Zugang, dem es gelingt, dasjenige an dem Werk offenzulegen, das nicht bloß der Fall einer allgemeinen Regel ist, dasjenige, das seine Individualität, seine Einzigartigkeit ausmacht.


Anne Tilkorn macht Wissenschaftskommunikation am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, promovierte zum Begriff des Zufalls bei Kant an der LMU München und ist Mitglied der Spinoza-Gesellschaft.


1 „Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich: daß sie den Begriff, dem sie als Prädikate beigefüget werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. Wenn der Begriff eines Dinges schon ganz vollständig ist, so kann ich doch noch von diesem Gegenstande fragen, ob er bloß möglich, oder auch wirklich, oder, wenn er das letztere ist, ob er gar auch notwendig sei?“ I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. W. Weischedel, Frankfurt a. M. 1995, (KrV) B 266/A 129. An dieser Stelle nennt Kant die jeweils negativen Gegensätze nicht, in der Tafel der Kategorien dagegen führt er alle sechs Modalkategorien an (KrV B 106/A 80).

2 Kritik der Urteilskraft (KU) § 64, S. 284.

3 „Daß Naturzwecke im höchsten Grade zufällig sind, bedeutet natürlich nicht, daß sie durch Zufall entstanden seien. `Zufällig´ bedeutet, daß wir die Notwendigkeit der Entstehung nicht begreifen können. Im Zusammenhang mit Naturzwecken […] kann nicht einmal ein noch so phantastischer Maßstab für diese Entstehungswahrscheinlichkeit angegeben werden: zum ersten können wir sie nicht so auf Gott rückbeziehen, daß eine Wahrscheinlichkeitsziffer irgendwo auftauchte; zum zweiten können wir Organismen […] nicht selbst herstellen, und zum dritten – als zeitgenössisches Argument seit Leibniz – sind Organismen bis ins unendlich Kleinste organisiert.“ R. Spaemann/R. Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München 1981. S. 129/30.

4 „Überdem ist die objektive Zweckmäßigkeit, als Prinzip der Möglichkeit der Dinge der Natur, so weit davon entfernt, mit dem Begriffe derselben n o t w e n d i g zusammenzuhangen, daß sie vielmehr gerade das ist, worauf man sich beruft, um die Zufälligkeit derselben (der Natur) und ihrer Form daraus zu beweisen. Denn wenn man z.B. den Bau eines Vogels, die Höhlung in seinen Knochen, die Lage seiner Flügel zur Bewegung und des Schwanzes zum Steuern usw. anführt, so sagt man, daß alles nach dem bloßen nexus effectivus in der Natur, ohne noch eine besondere Art der Kausalität, nämlich die der Zwecke (nexus finalis), zu Hilfe zu nehmen, in höchsten Grade zufällig sei; d.i. daß sich die Natur, als bloßer Mechanismus betrachtet, auf tausendfache Art habe anders bilden können, ohne gerade auf die Einheit nach einem solchen Prinzip zu stoßen, und man also außer dem Begriffe der Natur, nicht in demselben den mindesten Grund dazu a priori allein anzutreffen hoffen dürfe.“ KU § 61, S. 268/9.

5 KU § 64, S. 286.

6 KU § 65, S. 290.

7 „Sofern aber ein Ding nur auf diese Art als möglich gedacht wird, ist es bloß ein Kunstwerk, d.i. das Produkt einer von der Materie (den Teilen) desselben unterschiedenen vernünftigen Ursache, deren Kausalität (in Herbeischaffung und Verbindung der Teile) durch ihre Idee von einem dadurch möglichen Ganzen […] bestimmt wird.“ Ebd.

8 KU § 65, S. 291.

9 Auch Lutz Koch weist auf die methodische Funktion der beiden Kriterien hin: „Durch das erste Moment wird der Zufall aus der Natur ausgeschlossen, durch das zweite hingegen der Wille und damit die Freiheit. Durch den Ausschluß des Zufalls wird die Verständlichkeit der (organischen) Natur gewahrt, durch Ausschluß der Freiheit wird die Natürlichkeit der Natur gerettet.“ Lutz Koch, Kants Begründung einer kritischen Teleologie. In: Jürgen-Eckhardt Pleines (Hrsg.): Teleologie. Würzburg 1994, S. 117.

10 Vgl. KU § 65, S. 292/93.

11 Stefan Büttner und Peter Reisinger kritisieren eingehend die Subreption, die diejenigen Biolog*innen begehen, die über den Begriff der Autopoiesis die Selbstorganisation als Realursache ansetzen, da die Einheit des Ganzen als konstitutive Ursache nur aufgrund der Realität einer teleologisch wirkenden intelligenten Ursache möglich ist. „Die Biologie befindet sich mit diesem Schritt in der Metaphysik, – d.h. sie beschreibt etwas was nur gedacht ist (Kants synthetische Urteile apriori) und prinzipiell empirisch nicht beobachtet werden kann.“ Büttner/Reisinger: Ist die autopoietische Einheit des Organismus beobachtbar? Kants Kritik am subreptiven Verfahren in Maturanas Biologietheorie. In: Achim Engstler/Hans-Dieter Klein (Hrsg.): Perspektiven und Probleme systematischer Philosophie. Harald Holz zum 65. Geburtstag. Bern 1996, S. 104.

12 „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekte zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subjekt das Gefühl der Lust oder Unlust desselben.“ KU § 1, 3.

13Aus dem zweiten Moment gefolgerte Erklärung des Schönen. Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.“ I. Kant, Kritik der Urteilskraft (KU), Hrsg. von Karl Vorländer, Hamburg 1993, 32 (Orig.pag.).

14 Wolfgang Bartuschat versucht zu zeigen, dass die KU „eine Theorie dessen geben kann, was in den beiden anderen Kritiken unbestimmt geblieben ist: „des in der Zufälligkeit sich offenbarenden Besonderen als solchen“. W. Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1972, 91.

15 Im Folgenden wird nur noch von einer*m Betrachter*in die Rede sein. Auch wenn der*die Zuhörer*in nicht explizit genannt wird, so muss das Gesagte auf analoge Weise immer auf den*die Hörenden abgebildet werden. Dabei muss folgendem Unterschied Rechnung getragen werden: Farben erscheinen uns als nebeneinander, Töne als nacheinander. Einmal muss das Augenmerk also auf Räumlichem, das andere Mal hingegen auf Zeitlichem liegen.

16 KU § 3, 7.

17 Vgl. Andrea Esser, Der transzendentale Ansatz in der Ästhetik und die Autonomie der Kunst. In: Dies. (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik. Berlin 1995, 10.

18 „Nicht die Nachahmung der Natur, sondern die Ursprüngliche Fruchtbarkeit der Natur ist der Grund der schönen Kunst.“ R 754, AA XV.