Kontingenz und Notwendigkeit bei Spinoza und Leibniz
Sebastian Bender (Georg-August-Universität Göttingen) –
Im Alltag gehen wir normalerweise davon aus, dass sich viele Dinge auch anders hätten zutragen können. Im Herbst 2021 ist Olaf Scholz Bundeskanzler geworden, es hätte aber auch anders kommen können. Heute morgen habe ich Müsli zum Frühstück gegessen, ich hätte mich aber auch für Croissants mit Marmelade entscheiden können. Tatsächlich sind sich Tom und Tine gestern früh im Treppenhaus begegnet, das war aber purer Zufall – wäre Tine eine Minute später aufgestanden oder hätte Tom zwei Minuten länger geduscht, dann wären sie sich wohl kaum begegnet. Aber ist es bei genauerer Betrachtung tatsächlich so, dass sich die Dinge auch anders hätten zutragen können? Oder ist vielleicht jedes Detail im Universum ‚vorherbestimmt‘? Stand schon immer fest, dass alles genauso geschehen wird, wie es tatsächlich geschieht? Über diese Fragen streiten PhilosophInnen bereits seit Jahrtausenden.
Einige besonders radikale Antworten auf diese Frage findet man bei den sogenannten ‚rationalistischen‘ AutorInnen des 17. Jahrhunderts. Besonders deutlich wird dies am Fall Baruch de Spinozas. Spinoza weist entschieden zurück, dass es so etwas wie Zufall oder Kontingenz überhaupt gibt. In Lehrsatz 33 des ersten Teils seines Hauptwerkes Ethik hält er fest: „Die Dinge haben auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden können, als sie hervorgebracht worden sind“.1 Spinoza geht also davon aus, dass alles mit absoluter Notwendigkeit genau so geschehen muss, wie es tatsächlich geschieht. Nichts hätte anders sein können. Etwas technischer ausgedrückt: Alle Wahrheiten sind notwendige Wahrheiten, die wirkliche Welt ist also die einzige mögliche Welt. Diese Position Spinozas bezeichnet man in der heutigen Literatur häufig als Nezessitarismus. Dem Nezessitarismus zufolge beruht der Eindruck, dass sich vieles in der Welt auch anders verhalten könnte, auf einer Täuschung, die unserer unzureichenden Informationslage geschuldet ist. Würden wir vollständig durchschauen, wie sich die Dinge wirklich verhalten, würden wir einsehen, dass alles mit absoluter Notwendigkeit geschieht.
Die These des Nezessitarismus ist nicht mit derjenigen des Determinismus zu verwechseln. Eine Deterministin geht davon aus, dass sich aus (i) einer vollständigen Beschreibung der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt sowie (ii) den Naturgesetzen alle anderen Weltzustände zu allen anderen Zeitpunkten ableiten lassen.2 Aber der Determinismus lässt Raum für Kontingenz: So hätten erstens die Naturgesetze andere sein können und zweitens hätte der Anfangszustand der Welt ein anderer sein können—schließlich diktieren die Naturgesetze allein nicht jedes Detail in der Welt. Eine bestimmte Art des Zufalls mag es in einer deterministischen Welt tatsächlich nicht geben (nämlich eine Art des Zufalls, die nicht-deterministische Naturgesetze voraussetzt). Aber DeterministInnen behaupten normalerweise nicht, dass die Welt überhaupt nicht anders hätte sein können. Sie können problemlos anerkennen, dass es echte Kontingenz gibt.
Die allermeisten DeterministInnen würden wohl die These, dass unsere Welt die einzig mögliche Welt ist, als abwegig zurückweisen. Doch genau diese These vertritt Spinoza. Er leugnet jegliche Kontingenz und geht damit deutlich weiter als ‚bloße‘ DeterministInnen. Für ihn haben also alle Wahrheiten denselben Status wie z. B. der Satz ‚2 + 2 = 4‘– dass ich heute Morgen Müsli gegessen habe, ist somit im selben Sinne notwendig wie basale mathematische Sätze. Während es in der Philosophiegeschichte unzählige Beispiele deterministischer Positionen gibt, trifft man nezessitaristische Positionen wie diejenige Spinozas nur äußerst selten an (Parmenides ist vermutlich ebenfalls Nezessitarist).
Spinozas Nezessitarismus zufolge ist in einem gewissen Sinne alles in der Welt ‚vorherbestimmt‘. So ausgedrückt könnte man ihn aber leicht missverstehen, da dies suggeriert, dass die Abläufe in der Welt von jemandem vorherbestimmt sind – also von einer Akteurin oder einem Akteur (oder zumindest von einer akteursartigen Entität). Dies ist aber keineswegs Spinozas Position. Er glaubt nicht, dass Gott oder eine andere transzendente Macht den gesamten Weltverlauf von vornherein festgelegt hat. Im oben zitierten Lehrsatz hält Spinoza ausdrücklich fest, dass die Abläufe in der Welt sich mit Notwendigkeit aus Gottes Natur (bzw. Essenz) ergeben. Nicht einmal Gott hätte also die Welt anders einrichten können.
Tatsächlich geht Spinoza auch überhaupt nicht davon aus, dass es einen persönlichen, mit einem Willen ausgestatteten Gott gibt. Stattdessen vertritt er einen sogenannten Substanzmonismus; dieser Position zufolge gibt es nur eine Substanz: Gott oder die Natur. Spinoza identifiziert also Gott mit der Welt. Alle anderen nicht-göttlichen Dinge – Pflaumen, Flaschen, Kühlschränke, Bäume, Schmetterlinge und auch Menschen – sind nichts anderes als Modi (Zustandsweisen) der einen göttlichen Substanz. Spinoza drückt dies häufig auch aus, indem er sagt, dass die Modi in der Substanz sind und durch diese Substanz begriffen werden.3
Wie argumentiert Spinoza für seinen Nezessitarismus? Seine Begründung dafür hängt einerseits eng mit dem Substanzmonismus zusammen. Andererseits spielt auch das typisch rationalistische Prinzip des zureichenden Grundes, dem zufolge es für alle Tatsachen eine Erklärung oder einen Grund gibt, eine zentrale Rolle. Da die letzte Erklärung (bzw. der letzte Grund) für alles in der göttlichen Substanz zu suchen ist, leuchtet es ein, warum Spinoza davon ausgeht, dass die Dinge genau so geschehen müssen, wie sie es tatsächlich tun. Gott ist ein notwendiges Wesen, seine Natur (oder Essenz) ist also notwendigerweise so beschaffen, wie sie ist – es ist also unmöglich und unvorstellbar, dass Gott hätte anders sein können, als er tatsächlich ist. Da aber alle anderen Dinge von Gott abhängen und ‚in‘ Gott sind, ist es gar nicht so überraschend, dass Spinoza daraus schließt, dass alles mit absoluter Notwendigkeit geschieht. (Spinoza geht sogar so weit zu sagen, dass alle Dinge auf begriffliche Weise von Gott abhängen; ihm zufolge ist es also begrifflich unmöglich, dass die Welt anders ist, als sie tatsächlich ist.)
Spinozas nezessitaristische Position schlug in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert hohe Wellen und provozierte viel Widerspruch. Er wurde von vielen, u. a. von Immanuel Kant, zum Feind der Freiheit erklärt. Eine ähnliche Sorge hatte bereits Gottfried Wilhelm Leibniz etwa hundert Jahre früher. Wie viele andere PhilosophInnen auch, geht Leibniz davon aus, dass Kontingenz eine notwendige Bedingung für Freiheit ist – und zwar sowohl für die menschliche als auch für die göttliche Freiheit.
Was Leibniz’ Fall besonders interessant macht, ist der Umstand, dass er viele Aspekte des von Spinoza vertretenen rationalistischen Programms teilt. Insbesondere vertritt auch Leibniz das Prinzip des zureichenden Grundes (tatsächlich ist Leibniz der mit Abstand bekannteste Vertreter dieses Prinzips). Bezüglich der Konzeption Gottes unterscheiden sich Spinoza und Leibniz allerdings deutlich. Während Spinoza einen persönlichen, transzendenten Gott rundheraus ablehnt, hält Leibniz an einer solchen Vorstellung fest. Laut Leibniz gibt es einen persönlichen Gott, dem ‚vor‘ der Schöpfung (dieses ‚vor‘ ist nicht zeitlich zu verstehen) unendlich viele Welten zur Auswahl stehen. Da Gott niemals ohne Grund handelt – und da er außerdem allgütig, allmächtig und allwissend ist – wählt er die beste aller möglichen Welt aus und erschafft diese.
Leibniz’ Vorschlag kann als ein Versuch begriffen werden, ein rationalistisches System zu errichten, das die Kontingenz der Welt bewahrt. Anders als Spinoza geht Leibniz davon aus, dass es einen echten Unterschied zwischen notwendigen Wahrheiten (wie etwa mathematischen Sätzen) auf der einen Seite und kontingenten Wahrheiten auf der anderen Seite gibt. Eine Frage, die sich mit Blick auf Leibniz’ System stellt und die ihn selbst zeit seines Lebens umtreibt, ist allerdings, ob er diesen Unterschied zwischen notwendigen und kontingenten Wahrheiten wirklich aufrechterhalten kann. Dabei gesteht er zu, dass zwar alles von Gott vorherbestimmt ist, er betont aber, dass dies keineswegs bedeutet, dass alles mit Notwendigkeit geschieht. Die Unterscheidung zwischen Vorherbestimmtheit und Notwendigkeit ist für ihn also von zentraler Bedeutung.
Nun geht allerdings auch Leibniz davon aus, dass Gott notwendigerweise so ist, wie er ist. Und da Gott – als vollständig rationaler Akteur – nicht ‚einfach so‘ handelt, sondern immer aus den besten Gründen heraus (in Einklang mit dem Prinzip des zureichenden Grundes), scheint dies die Konsequenz zu haben, dass Gott notwendigerweise die beste aller möglichen Welten wählt. Damit scheint aber die Kontingenz, die Leibniz eigentlich zu sichern sucht, wieder in Gefahr zu geraten. Die nicht-aktualisierten ‚möglichen Welten‘, so die Sorge, scheinen in gar keinem relevanten Sinne überhaupt möglich zu sein, da Gott gar nicht anders kann, als die beste Welt zu erschaffen. Wenn aber Gottes Wahl völlig alternativlos ist, dann scheint wiederum alles mit Notwendigkeit zu geschehen, genau wie bei Spinoza.
Wie geht Leibniz mit diesem Problem um? Diese Frage kann hier nicht umfassend beantwortet werden, ich möchte aber kurz zwei wichtige Aspekte seiner Strategie vorstellen.4 Erstens differenziert Leibniz zwischen verschiedenen Arten und Quellen der Notwendigkeit. Während er bei Spinoza eine blinde Notwendigkeit am Werk sieht, die sich einfach so auf unaufhaltsame Weise entfaltet (ohne dass eine Akteurin oder ein Akteur involviert ist), hält er Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten für bloß moralisch notwendig. Mit Blick auf Gottes Güte, so Leibniz, ist es in der Tat notwendig, dass Gott das Beste erschafft. Wir können aber auch lediglich Gottes Allmacht in den Blick nehmen, kraft derer er auch viele andere mögliche Welten hätte erschaffen können. In einem bestimmten Sinn hat Gott also durchaus eine Wahl, ganz einfach, weil er in seinem Verstand mehrere (genau genommen: unendlich viele) Optionen zur Erschaffung der Welt vorfindet. Das ist bei Spinoza gleich aus zwei Gründen ausgeschlossen: Weder gibt es für ihn überhaupt andere mögliche Welten in irgendeinem Sinne, noch gibt es für ihn einen persönlichen Gott, der irgendeine Auswahl treffen könnte, die an einem bestimmten Standard (etwa der Güte) orientiert ist.
Der zweite Punkt hängt mit dem ersten Punkt zusammen. Bei Spinoza folgt alles in der Welt aus der Essenz Gottes. Die Dinge und Ereignisse in der Welt folgen also aus der Essenz Gottes genauso wie es aus der Essenz eines Dreieckes folgt, dass die Innenwinkelsumme des Dreiecks 180 Grad beträgt. Bei Leibniz ist dies anders. Gottes Essenz legt nicht fest, wie sich die Dinge in der Welt verhalten.5 Zwar würde Gott ohne Grund handeln, wenn er eine suboptimale Welt erschaffen würde. Aber eine solche Wahl ist Leibniz zufolge nicht begrifflich unmöglich, sie ist nicht inkompatibel mit Gottes Essenz. Allerdings – und dies ist ein etwas überraschendes Resultat – scheint Leibniz darauf festgelegt zu sein, dass Gott zumindest prinzipiell in der Lage ist, ohne Grund zu handeln, auch wenn Gott dies de facto niemals tut. Dies kann man als einen gegenüber Spinoza leicht abgeschwächten Rationalismus begreifen.
Sowohl Spinoza als auch Leibniz gehen also davon aus, dass in gewisser Hinsicht alles in unserer Welt vorherbestimmt ist; hinsichtlich der Art der Vorherbestimmung unterscheiden sich die beiden Rationalisten allerdings deutlich voneinander. Für Spinoza folgen alle Abläufe in der Welt mit Notwendigkeit aus der göttlichen Essenz. Für Leibniz hingegen haben alle Geschehnisse in der Welt ihren Grund im Willen Gottes, der kontingenterweise das Beste wählt.
Sebastian Bender ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Geschichte der Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Philosophie der Neuzeit (17. und 18. Jahrhundert), insbesondere Metaphysik, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes und politische Philosophie der Neuzeit.
1 E1p33. Zitate von Spinoza stammen aus: Spinoza, Baruch de. Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hrsg. und übers. von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner (1999). Die Ethik wird auf die übliche Weise zitiert. Dabei steht die erste Ziffer für den Teil und das anschließende Kürzel für die Art der Passage (hier verwendete Kürzel: def = Definition, p = Lehrsatz).
2 Siehe etwa: Sattig, Thomas. 2015. The Double Lives of Objects. An Essay in the Metaphysics of the Ordinary World. Oxford: Oxford University Press: 166.
3 Siehe E1def5.
4 Eine umfassende Darstellung präsentiere ich in: Bender, Sebastian. Leibniz’ Metaphysik der Modalität. Berlin & Boston. De Gruyter (2016). Für eine ausführliche Diskussion des Prinzips des zureichenden Grundes bei Leibniz, siehe: Bender, Sebastian. „Localizing Violations of the Principle of Sufficient Reason – Leibniz on the Modal Status of the PSR.” Journal of Modern Philosophy 4.11 (2022): 1-20.
5 Siehe etwa Reihe VI, Bd. 4, 1453 in: Leibniz, G. W. Sämtliche Schriften und Briefe. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Darmstadt, Leipzig, Berlin: Akademie Verlag, 1923–.