
Behinderung, Fortpflanzungsfreiheit und Konzepte guten Lebens
Von Isabella Marcinski-Michel, Pauline Reichenberger und Claudia Wiesemann (Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen)
Was macht ein gutes Leben aus? Für viele bedeutet es, Kinder zu haben und eine Familie zu gründen. Jahrhundertelang mussten sich insbesondere Frauen mit den biologischen Grenzen ihrer reproduktiven Jahre abfinden. Doch mit dem Aufkommen moderner medizinischer Innovationen, insbesondere denen der Reproduktionsmedizin, scheint diese Lebensphase zum Gegenstand von Planung, Kontrolle und Optimierung zu werden (King et al. 2023). Die Reproduktionsmedizin bietet eine breite Palette von Techniken wie die In-vitro-Fertilisation, die Samen- und Eizellenspende, Kryokonservierung von Keimzellen, die Präimplantations- und Pränataldiagnostik und nicht zuletzt Schwangerschaftsabbruch und Verhütung (Diedrich et al. 2018; King et al. 2023). Diese Techniken ermöglichen den Eingriff in den zeitlichen Ablauf der menschlichen Fortpflanzung, machen sie vorhersehbarer und kontrollierbarer und eröffnen somit Möglichkeiten einer zeitlichen Optimierung.
Dahinter stehen jedoch implizite oder explizite normative Konzepte des guten Lebens und der angemessenen Zeitlichkeit, die in medizinethischen Debatten bisher vergleichsweise wenig reflektiert wurden (Marcinski-Michel und Wiesemann 2024). Es ist davon auszugehen, dass sowohl die zentrale Idee des guten Lebens als auch die zeitliche Normierung wichtiger Lebensabschnitte wie die Familiengründung von Klasse, Ethnie, Geschlecht, Alter und nicht zuletzt ableistischen Körperkonzepten geprägt sind. Die kritische Disability-Forschung hat diese Ausschlüsse seit langem offengelegt und Instrumente entwickelt, um die dahinterstehenden (medizinischen) Machtstrukturen zu thematisieren (Garland-Thompson 2017). Das, was im Rahmen von Fortpflanzung als Behinderung angesehen werden kann, umfasst allerdings prinzipiell ein weites Spektrum: von den oft im Vordergrund stehenden Formen körperlicher und geistiger Behinderung über die weniger leicht sichtbaren genetisch verursachten Formen von Infertilität etwa bei Chromosomenaberrationen (Turner-Syndrom) oder bei vorzeitiger Menopause.
Der Diskurs über Reproduktion und Behinderung hat sich bisher hauptsächlich auf genetische Diagnostik und selektive Abtreibung konzentriert. Weniger im Vordergrund standen Menschen mit Behinderung als Subjekte von Fortpflanzungsentscheidungen und deren Nutzung von Fortpflanzungstechnologien. Dabei kann von einer großen Bandbreite von auf den ersten Blick gesellschaftlich sichtbaren Behinderungen (etwa von Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind) bis hin zu gesellschaftlich unsichtbaren Einschränkungen der Fortpflanzungsmöglichkeiten (etwa bei einem angeborenen Mangel einer Gebärmutter oder genetisch bedingt vorzeitigen Wechseljahren) ausgegangen werden, die ein differenziertes Vorgehen erfordern.
Die Frage, wie Menschen mit Behinderungen als reproduktive Subjekte Fortpflanzungsfreiheit und ein gutes Leben realisieren können, stand bisher kaum im Fokus medizinethischer Debatten. Um dies adäquat thematisieren zu können, ist eine Konzentration auf jene Barrieren sinnvoll, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, wenn es um Fortpflanzung, Sexualität und Familiengründung geht. Zugleich sollte reflektiert werden, welchen Einfluss die Fortpflanzungsmedizin auf das gute Leben – im Sinne von Selbstbestimmung, Teilhabe und Fürsorge – insbesondere für marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Behinderung hat. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern reproduktive Technologien sowohl neue Möglichkeiten eröffnen als auch bestehende Ausschlüsse und normative Grenzziehungen reproduzieren. Sind hier die Unterschiede von sichtbarer und unsichtbarer Behinderung relevant und von einer Ethik der Fortpflanzung entsprechend kritisch einzuholen? Kann darüber hinaus die unfreiwillige Kinderlosigkeit gar als eine Form unsichtbarer Behinderung verstanden werden?
Die 2006 verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention fasst Behinderung als Ergebnis einer Wechselwirkung von individuellen Beeinträchtigungen und historischen, kulturellen und politischen Faktoren auf (Köbsell 2023).
In Artikel 1 der Behindertenrechtskonvention heißt es entsprechend:
„Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ (Dusel 2025, S. 8)
Diese gleichberechtigte Teilhabe umfasse auch „Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaften“ (S. 19), deren Realisierungschancen zu gewährleisten seien, so Artikel 23 der Behindertenrechtskonvention. Hiermit sei auch „das Recht von Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenabstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung“ umfasst. Zudem sollten ihnen die „notwendigen Mittel zur Ausübung dieser Rechte zur Verfügung gestellt werden“ (S. 20).
Es können vielfältige Barrieren identifiziert werden, auf die Menschen mit Behinderung in westlichen Gesellschaften im Kontext von Fortpflanzung stoßen und die in ihrer Bedeutung von einer Ethik der Fortpflanzung kritisch zu reflektieren sind. Dazu zählen 1.) strukturelle und institutionelle Barrieren, 2.) medizinische und technologische Barrieren, 3.) psychosoziale Barrieren und 4.) gesellschaftliche und normative Barrieren.
- Historisch wurde Menschen mit Behinderung die Möglichkeit zur Elternschaft lange verwehrt. Strukturelle und institutionelle Barrieren führen immer noch dazu, dass für sie der Zugang zu gynäkologischen und fortpflanzungsmedizinischen Leistungen erschwert ist. Fortpflanzungswünschen von Menschen mit (sichtbaren) Behinderungen wird von Seiten des medizinischen Personals häufig mit Stereotypen und Vorurteilen begegnet. Dies erschwert die individuelle Entscheidungsfindung im Bereich von Fortpflanzung und Elternschaft.
- Medizinische und technologische Barrieren haben oftmals Fehldiagnosen und langwierige Behandlungen zur Folge. Diese sind beeinflusst durch Wissenslücken und persönliche Einstellungen von Ärzt*innen, so beispielsweise bezüglich der Frage, ob Menschen mit Behinderung überhaupt ihren Kinderwunsch realisieren können oder aber ihre Behinderung mit Infertilität einhergeht. Das führt oftmals dazu, dass Reproduktionstechnologien von Ärzt*innen nicht angeboten werden.
- Ungewollte Kinderlosigkeit stellt für jede Person mit Kinderwunsch eine erhebliche psychische und emotionale Belastung dar. Menschen mit Behinderung sind mit weiteren psychosozialen Belastungen konfrontiert – etwa wenn die Entscheidung über vorsorgliche Gewinnung einer Eizellreserve bei vorzeitigen Wechseljahren schon in jungen Jahren unter hohem Zeitdruck getroffen werden muss, da die Zeitfenster für solche Optionen begrenzt sind.
- Gesellschaftliche und normative Barrieren zeigen sich in der Verzahnung von Ableismus und Sexismus. Dabei wird der Diskurs über Behinderung und Reproduktion von normativen Vorstellungen von Attraktivität und Geschlecht beeinflusst. Menschen mit Behinderung wird oftmals sowohl die Sexualität als auch der Kinderwunsch abgesprochen. Dies führt zu einem Mangel an Aufklärung und adäquater reproduktiver Gesundheitsversorgung bei Menschen mit Behinderung. Der Mangel an Aufklärung steht im Widerspruch zu Artikel 23 der UN-Behindertenrechtskonvention, der das Recht von Menschen mit Behinderung auf Familie und Elternschaft garantiert – einschließlich des Zugangs zu Informationen, Aufklärung und reproduktiver Gesundheitsversorgung.
Kontrovers bleibt die Frage, ob und ggf. wie zwischen sichtbaren und unsichtbaren Formen von Behinderungen konzeptuell zu unterscheiden sei. Mit einer zu starken Akzentuierung der Gemeinsamkeiten ist die Gefahr einer Vernachlässigung der spezifischen Probleme von Menschen mit sichtbaren Behinderungen verbunden. So bestehen im Bereich von Fortpflanzung und Sexualität gesellschaftlich divergente Normalitätserwartungen. Menschen mit sichtbaren Behinderungen werden oftmals nicht als sexuell aktive und reproduktive Subjekte und damit auch nicht als potentielle Eltern wahrgenommen. Elternschaft wird hier nicht als mögliche Zukunftsperspektive und als Form eines guten Lebens adressiert (Rohmann 2021). Allerdings ist es notwendig, die Heterogenität der Gruppe von Menschen mit Behinderungen herauszuarbeiten und dabei die Kontextsensitivität der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Behinderung zu betonen. So sei die Zeit ein wesentlicher Faktor, der Dinge plötzlich sichtbar machen könne, die vorher unsichtbar waren oder auch gesellschaftlich nicht relevant.
Auch wenn der Begriff der Behinderung im Bereich der Ethik der Fortpflanzung als übergreifende Beschreibungskategorie beizubehalten ist, ist dieser jedoch intern auszudifferenzieren, um alle relevanten Facetten zu erfassen und gemeinsame sowie auch trennende Barrieren herauszuarbeiten. Die Möglichkeit zu Reproduktion und Familiengründung – als potentiell zentrale Bestandteile eines guten Lebens – muss auch für Menschen mit Behinderung uneingeschränkt zugänglich sein. Es gilt daher, bestehende Barrieren abzubauen, um allen Menschen, die einen Kinderwunsch haben, die Chance darauf unter gleichberechtigten Bedingungen zu ermöglichen.
Isabella Marcinski-Michel ist Post-Doc am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen. Hier arbeitet sie im Teilprojekt „Ethik der Reproduktionsmedizin“ der DFG-Forschungsgruppe „Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens“.
Pauline Reichenberger ist Masterstudentin der Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin und studentische Hilfskraft im Teilprojekt „Ethik der Reproduktionsmedizin” der DFG-Forschungsgruppe „Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens”.
Claudia Wiesemann ist Medizinethikerin und war Sprecherin der DFG-Forschungsgruppe 5022 „Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens“.
Literatur
Diedrich K, Al-Hasani S, Strowitzki T (2018) Reproduktionsmedizin in Deutschland – vom Embryonenschutzgesetz bis zur Präimplantationsdiagnostik. Gynäkologe 51:713–720. https://doi.org/10.1007/s00129-018-4248-y
Dusel, J (2025) Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen https://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/PublikationenErklaerungen/Broschuere_UNKonvention_KK.pdf?__blob=publicationFile&v=21 Gesehen 12. Mai 2025
Garland-Thomson R (2017) Disability Bioethics: From Theory to Practice. Kennedy Institute of Ethics Journal 27(2):323-339. https://doi.org/10.1353/ken.2017.0020
King V, Lodtka P, Marcinski-Michel I, Schreiber J, Wiesemann C (2023) Reproduktives Timing. Neue Formen und Ambivalenzen zeitlicher Optimierung von Fortpflanzung und ihre ethischen Herausforderungen. Ethik Med 35:43–56. https://doi.org/10.1007/s00481-022-00738-2
Köbsel S (2023) Behinderung – was ist das eigentlich? Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/themen/inklusion-teilhabe/behinderungen/521026/behinderung-was-ist-das-eigentlich/#node-content-title-6
Marcinski-Michel I, Wiesemann C (2024) Reproduktion und das gute Leben. Intersektionale Perspektiven. Transcript, Bielefeld
Rohmann K (2021) Zur Normalität der Elternschaft von Menschen mit Lernschwierigkeiten. In: Schondelmayer AC, Riegel C, Fitz-Klausner S (Hrsg) Familie und Normalität. Diskurse, Praxen und Aushandlungsprozesse. Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin, Toronto, 263-282