Die stigmatisierende Darstellung indigener Gemeinschaften auf Social Media

Von David Jost (Salzburg / Bonn)


Im Juni 2024 veröffentlichte der Webvideoproduzent Fritz Meinecke auf YouTube eine dreiteilige Videoreihe mit dem Titel Kannibalen[1]. In der Reportage reist er nach West-Papua (Indonesien), um tief im Dschungel die Stone-Korowai zu suchen. Das Besondere an dieser indigenen Gemeinschaft: Die Mitglieder betreiben – laut Titel und Beschreibung des Videos – Kannibalismus. Der Titel der Videos ist reißerisch und regt zum Anklicken an. Ein näherer Blick macht jedoch deutlich, dass bei der Darstellung der indigenen Menschen auf ähnlich demütigende und stigmatisierende Mechanismen zurückgegriffen wird wie bei den Völkerschauen des 19. Jahrhunderts.

Mechanismen der Völkerschauen

Völkerschauen[2] gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück, fanden überwiegend in Europa sowie Nordamerika statt und wurden bis in die 1930er Jahre betrieben. Ihr Ursprung steht in einem engen Verhältnis zu ‚Freak-Shows‘, in denen Menschen auf Grund außergewöhnlicher körperlicher Merkmale präsentiert und meist mit dem ‚Monströsen‘ oder ‚Bestialischen‘ in Verbindung gebracht wurden. Nicht selten wurden in den Shows auch Menschen aus fernen Ländern vorgeführt. Die Shows waren perfekt inszeniert und befeuerten die Neugier, Faszination und Ängste des Publikums. Die Menschen aus den ‚exotischen‘ Ländern wurden dabei als ‚Wilde‘ und ‚Primitive‘ stigmatisiert und mit Lendenschürzen, Knochenketten sowie Waffen dargestellt. In manchen Fällen wurden sie gar als ‚Vertreter:innen minderwertiger Menschenrassen‘ angekündigt.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückten Völkerschauen und ‚Eingeborenen-Dörfer‘ vermehrt in das Interesse der Öffentlichkeit. Sie standen entweder für sich und wurden beispielsweise in Zoologischen Gärten abgehalten oder in einen größeren Rahmen ausgestellt – zum Beispiel bei Welt- und Kolonialausstellungen. All die Darstellungsformen folgten einem ähnlichen Muster: Gezeigt wurden Mitglieder indigener Gemeinschaften, die aus weit entfernten Gebieten stammten. Sie wurden vor einer Kulisse präsentiert, die sich an ihrem ‚natürlichen und kulturellen Lebensraum‘ orientierte. Auf diese Weise wurden ganze Dörfer nachgebildet. Die Darsteller:innen befanden sich hinter Zäunen oder Gitterstäben. Dies verstärkte den Eindruck, es ginge eine Gefahr von den ausgestellten Menschen aus.

Meist wurden bei solchen Völkerschauen handwerkliche Arbeiten, Jagdtechniken, Rituale, Tänze und Lieder vorgeführt. Auch stereotype Darstellungen von Kriegsszenen, Kannibalismus und Kopfjägerei durften nicht fehlen. Letztlich wurden Tätigkeiten gezeigt, die man in der breiten Bevölkerung mit ‚unterentwickelten Menschen‘ in Verbindung brachte. Die Veranstalter:innen wollten den Besucher:innen die eigene zivilisatorische Überlegenheit vor Augen führen und gesellschaftlich verbreitete Vorstellungen über Menschen aus anderen Kulturkreisen bestätigen. Dies drückt sich beispielsweise in der Art und Weise aus, wie für solche ‚Menschenzoos‘ Werbung gemacht wurde: Die gezeigten Gemeinschaften wurden beispielsweise als ‚Menschenfresser‘, ‚blutrünstige Ungeheuer‘ und ‚Kannibalen der Südsee-Inseln‘ beworben. Meist wurden zu den Beschreibungen stigmatisierende, stereotype Bilder gezeigt. Die Werbungen framten die Ausstellungen, sodass die Besucher:innen die ‚exotischen‘ Menschen schon mit vorgefertigten Erwartungen betrachteten.

Vom Tierpark ins Kino

Als das Kino immer beliebter wurde, nahm das Interesse an Völkerschauen ab, denn nun konnte man die ‚exotischen‘ Menschen vor ihrem ‚natürlichen‘ Hintergrund begaffen. Viele der ersten Dokumentarfilme griffen dieses Interesse auf und zeigten die scheinbare Lebensweise indigener Menschen. Die Präsentation folgte dabei den gleichen Mustern wie jene in den Tierparks und Ausstellungen: Gezeigt wurde nur ein Minimum der Existenzform der ‚primitiven Menschen‘ – nämlich „die Essenz eines Eingeborenenlebens“[3]: Die gezeigten Menschen tragen (wenn überhaupt) einen Lendenschurz, Religiosität wird auf Magie und Hexerei reduziert, Emotionen in Tanz ausgedrückt, Individualität geht in der Masse unter. Besonders wichtig war der passende Hintergrund: Die Menschen wurden vor weiten Landschaften oder im Dickicht des Dschungels gezeigt.

An dieser Präsentationsform knüpfen viele Spielfilme an, denen ein in Hollywood weitverbreitetes Motiv zugrunde liegt: Protagonist:innen aus einer ‚zivilisierten‘ Gesellschaft irren durch einen ihnen feindlich gesonnenen Dschungel, um einen Schatz zu finden. Die ‚Eingeborenen‘ werden dabei zu Nebenfiguren oder Feind:innen. Sie treten überwiegend massenhaft auf und üben ‚primitive‘ Rituale aus. Exemplarisch findet man solche stigmatisierenden Darstellungen in den Filmen Rambo und King Kong sowie in der Indiana Jones-Reihe. Auch in Fluch der Karibik 2 entkommt der Pirat Jack Sparrow nur knapp von einer Insel, auf der er von Eingeborenen gefangen wird, um bei einem bestialischen Feuerritual geopfert zu werden.

Social Media – Eine neue Bühne für Völkerschauen

Von den ‚Freak-Shows‘, Völkerschauen und Filmen ausgehend sind bis heute stereotype Ansichten über indigene Menschen in unserer Gesellschaft vorhanden. So werden sie auch heute noch als ‚wild‘ und ‚primitiv‘ wahrgenommen, wobei Vertreter:innen indigener Gemeinschaften nicht mehr in unsere Städte gebracht werden (müssen), um die Vorurteile zu bestätigen, sondern von bekannten Internetpersönlichkeiten in ihrer ‚natürlichen‘ Umgebung aufgesucht werden können. Demnach werden solche Vorstellungen auch auf Social Media aufgegriffen und reproduziert. Exemplarisch wird dies an der Videoreihe Kannibalen deutlich, die der deutsche Webvideoproduzent und Organisator der Survival-Reality-Show 7 vs. Wild Fritz Meinecke im Juni 2024 auf seinem YouTube-Kanal veröffentlichte.[4]

In der rund 60-minütigen Reportage reist Meinecke mit zwei anderen ‚Abenteurern‘ nach West-Papua, um im Dschungel die Gemeinschaft der Stone-Korowai aufzusuchen. Das Ziel der Reise: Friedlichen Kontakt mit „einem der letzten praktizierenden kannibalischen Stämme (Kannibalen, Min. 2:26-2:32)“ aufzunehmen. Ihre Reise führt sie zunächst zu einem Clan der Korowai, die keinen Kannibalismus betreiben. Es werden alltägliche Tätigkeiten wie Jagdszenen und Tänze gezeigt. Als die YouTuber sehen, mit welcher Komplexität die Korowai eine Palme verarbeiten, wirken sie sichtlich überrascht – hierbei offenbart sich eine stereotype Vorstellung über Gemeinschaften, die in Abgeschiedenheit leben. Später erzählt einer der Korowai, dass sein Bruder und seine Mutter vor einiger Zeit von einem feindlichen ‚Stamm‘ gegessen wurden. Eine konkretere Einordnung der Aussage erfolgt nicht.

In den letzten drei Minuten kommt es zur Begegnung mit den vermeintlichen Kannibal:innen – den Stone-Korowai. Dabei wird die Gemeinschaft auf eine andere Art und Weise präsentiert wie die anderen Korowai. Auf den Bildern wird die abgeholzte Umgebung, in der sich das Dorf befindet, gezeigt – natürlich muss die Umgebung, in der ein ‚menschenfressendes Volk‘ lebt, einen kargen und trostlosen Eindruck hinterlassen. Beim Betreten des Dorfes zeigen sich die drei Protagonisten über die Freundlichkeit der Stone-Korowai verwundert, wobei einer der drei folgende Aussage fallen lässt: „Wir werden heute nicht gegessen. Fiffty-Fiffty-Chance. Hat geklappt – bis jetzt (Kannibalen – Teil 3, 13:47-13:53).“ Meinecke antwortet darauf: „Ich traue dem ganzen erst, wenn ich wieder im Flieger sitze (13:52-13:56).“ In weiterer Folge werden Bilder der Clan-Mitglieder gezeigt. Abgebildet werden sie mit Waffen, Zahnketten und Werkzeugen. Weitere Informationen über die indigene Gemeinschaft erfährt man nicht. Abschließend hält Meinecke fest: „Das Thema Kannibalismus war natürlich ein begleitendes Thema im Hinterkopf aber auch in gewissen Gesprächen, so richtig final kann man es nicht sagen, es hat sich in den letzten dreißig Jahren viel getan und verändert (16:16-16:27).“

Die stigmatisierende Darstellung der (Stone-)Korowai

Wie die vorliegenden Beispiele verdeutlichen, werden in der Videoreihe ähnliche Mechanismen sichtbar, auf die bereits bei den Völkerschauen im 19. Jahrhundert zurückgegriffen wurde: Der Titel, die Beschreibung und die Thumbnails framen die Videos, sodass die Zuschauer:innen diese mit vorgefertigten Erwartungen zum Thema Kannibalismus anklicken und die (Stone-)Korowai als ‚wild‘, ‚primitiv‘ und ‚abnormal‘ wahrnehmen. Der Inhalt der Videos bestätigt ihre Erwartungen. Und so werden die (Stone-)Korowai – wie die bei den Völkerschauen ausgestellten Menschen – lediglich als Objekte präsentiert. Es geht nicht darum eine differenzierte Reportage über das komplexe Phänomen des Kannibalismus[5] oder die Kultur der (Stone-)Korowai zu machen. Vielmehr werden die Menschen zum Zweck der Unterhaltung als ‚Wilde‘ präsentiert.

Betrachtet man diesen Fall im Hinblick auf Avishai Margalits weithin anerkannten Verständnis von Würde und Demütigung[6], wird deutlich, dass in solchen Videos demütigende und entwürdigende Darstellungen indigener Menschen vorhanden sind. Anhand verschiedener Beispiele verdeutlicht Margalit, wie Menschen gedemütigt und entwürdigt werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Menschen stigmatisiert werden. Denn dadurch werden sie auf bestimmte körperliche oder kulturelle Merkmale reduziert und als minderwertig wahrgenommen: „Es ist, als wären die Stigmatisierten für ihre Mitmenschen mit einem Etikett versehen, dass sie weniger menschlich erscheinen lässt (109).“ Wie die zuvor dargelegte Analyse verdeutlicht, findet in der Darstellung der (Stone-)Korowai eine Stigmatisierung statt, weil sie schlichtweg auf eine undifferenzierte Weise mit dem Begriff Kannibalismus verbunden werden. Den Zuseher:innen ist es kaum möglich, die indigenen Menschen als gleichwertig wahrzunehmen und sie nicht als ‚blutrünstige‘, ‚primitive‘ und ‚abartige‘ Kannibal:innen zu sehen. All das ist zutiefst demütigend und dient lediglich zur Belustigung und Unterhaltung der Zuseher:innen sowie einer hohen Klickzahl. Hätten die (Stone-)Korowai gewusst, in welcher stigmatisierten und demütigenden Form sie einer großen Öffentlichkeit präsentiert werden, hätten sie einer Veröffentlichung wahrscheinlich nicht zugestimmt.

Die stigmatisierenden und demütigenden Darstellungen indigener Menschen auf den Völkerschauen des 19. und 20. Jahrhunderts werden mittlerweile vermehrt aufgearbeitet. Langsam entsteht ein Bewusstsein dafür, dass die Zurschaustellung von Menschen, die auf Grund körperlicher oder kultureller Merkmale in Tierparks sowie auf Jahrmärkten und Weltausstellungen ausgestellt wurden, zu keinem Zeitpunkt moralisch gerechtfertigt war. Zugleich wäre es wichtig, auch die Art und Weise, wie indigene Gemeinschaften auf Social Media präsentiert werden, vermehrt in den öffentlichen Diskurs zu rücken und kritisch zu hinterfragen. Letztlich handelt es sich bei den exemplarisch beschriebenen YouTube-Videos keineswegs um eine harmlose und belustigende Abenteuerreportage. Vielmehr sind darin menschenverachtende und demütigende Mechanismen enthalten, die die Stigmatisierung indigener Menschen weiter vorantreiben.


[1] Die dreiteilige Videoreihe ist unter folgenden Links abrufbar: Kannibalen: https://www.youtube.com/watch?v=JRLwkaWYnco; Kannibalen – Teil 2: https://www.youtube.com/watch?v=Vcl3ajXnGg0; Kannibalen – Teil 3 (Das Finale): https://www.youtube.com/watch?v=CF3SDi53Uw8&t=74s (Zuletzt abgerufen am 16.07.2024).

[2] Eine ausführliche Darstellung zu Charakteristiken, Beispielen und Wirkung von Völkerschauen findet man bei Blanchard et al. (Hrsg.) 2012: MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit, Hamburg. Auch die Arte-Dokumentation „‘Die Wilden‘ in den Menschenzoos“ von Victor-Pujebet und Blanchard (2017) gibt einen guten Einblick in das Thema Völkerschauen. Abrufbar unter: https://www.arte.tv/de/videos/067797-000-A/die-wilden-in-den-menschenzoos/ sowie https://www.youtube.com/watch?v=yE0dyTQKIsc (Zuletzt abgerufen am 16.07.2024).

[3] Deroo 2012: Das Kino als Zoowärter, in: Blanchard et al. (Hrsg.): MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit, Hamburg, 147.

[4] Weitere Videos und Informationen lassen sich auf Fritz Meineckes YouTube-Seite finden: https://www.youtube.com/@FritzMeinecke (Zuletzt aufgerufen am 16.07.2024).

[5] Der Religionsphenomenologe Mircea Eliade betont, dass Kannibalismus ein äußerst komplexes Phänomen ist, das immer im Kontext eines religiösen oder mythologischen Systems gesehen werden muss. Demnach sind Völker, die Kannibalismus betreiben keine ‚brutalen Wilden‘, die willkürlich andere Menschen töten und essen.
Siehe hierzu Eliade 1990: Das Heilige und das Profane, Frankfurt am Main, 89-92.

[6] Margalit 2012: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin.