Im Namen von Wissenschaftsfreiheit. Eine Replik

von Dieter Schönecker (Siegen)


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Das neue Netzwerk Wissenschaftsfreiheit (NW) ist in kürzester Zeit um mehrere hundert Mitglieder gewachsen. Aber es hat auch zahlreiche Kritiker, ja Feinde, die es als „rechts“ abtun oder als überflüssiges Spektakel. Auf praefaktisch hat auch Alexander Reutlinger das NW attackiert: Es gehe dem Netzwerk gar nicht um Wissenschaftsfreiheit. Mit der Verletzung von Wissenschaftsfreiheit durch wissenschaftsexterne Kritik befasse es sich nicht, innerwissenschaftliche Kritik sei dagegen die übliche Praxis in den Wissenschaften. Viel Feind, viel Ehr, könnte man denken. Aber die Ehre gibt’s nur, wenn der Feind stark ist. Die Waffen von Reutlinger, so werde ich zeigen, sind stumpf.

Reutlingers erstes Argument geht so: Wenn es dem NW um die Wissenschaftsfreiheit ginge, dann setzte es sich gegen wissenschaftsexterne Akteure ein, die sie einschränken (wie etwa Orban); das macht das NW aber nicht; also usw., oder mit Reutlinger gesprochen: also, dem Netzwerk geht es „nur dem Namen nach um Wissenschaftsfreiheit“. Aber natürlich kann man sich, erstens, für die Wissenschaftsfreiheit einsetzen, ohne den Fokus auf wissenschaftsexterne Faktoren zu legen; man kann sich ja auch für den Umweltschutz engagieren, ohne sich gegen die Kernenergie zu engagieren. Und zweitens war der überhaupt erste Fall, bei dem sich das NW öffentlich engagiert hat, genau ein solcher: Als der Fraktionssprecher für Bildung, Wissenschaft und Kultur der AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt, Hans-Thomas Tillschneider, die Professorin für Diversity Studies, Maisha-Maureen Auma, „in ihre Schranken“ verwiesen sehen wollte, hat das NW dies in einer Stellungnahme kritisiert. Politische Kräfte haben nicht zu entscheiden, was als (gute) Wissenschaft zählt oder nicht, und sie haben nicht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler „in ihre Schranken zu verweisen“. Nur unsere Verfassung setzt hier Schranken. (Ich selbst habe übrigens Orban im Schweizer Monat kritisiert.)

Aber das Kernargument Reutlingers ist ein anderes; man hat es schon oft gehört. Es gehe dem NW nämlich nur „um einzelne Wissenschaftler, die innerhalb der wissenschaftlichen Community von ihren Fachkollegen, Studierenden und Universitätsleitungen kritisiert wurden und werden“, und da eine solche „innerwissenschaftliche Kritik“ in Form von „wissenschaftlicher Qualitätskontrolle“ und von Argumenten, die auf „innerwissenschaftlichen Normen und Werten“ beruhen, aber eine notwendige und legitime Praxis sei, missverstehe das NW solche innerwissenschaftliche Kritik als Verletzung der Wissenschaftsfreiheit. Das NW mache sich gewissermaßen eines Sophisma schuldig: Es identifiziere legitime innerwissenschaftliche Kritik mit Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit. Das NW erwecke den Anschein, als verteidige es die Wissenschaftsfreiheit, in Wahrheit aber gehe es ihm um die Abwehr berechtigter Kritik an mangelnder wissenschaftlicher Qualität oder an Normverletzungen.

Reutlingers Formulierung, dem NW gehe es um Wissenschaftler, die „kritisiert wurden und werden“, zeigt sehr schön, dass hier ein Popanz aufgebaut wird; denn darum geht es natürlich keineswegs. Ohne Zweifel ist die von Reutlinger geltend gemachte innerwissenschaftliche Kritik eine, wie er richtig schreibt, „alltägliche und zu begrüßende Praxis“. In der Tat ist sie sogar mehr als das: Ohne eine solche Kritik gibt es keine Wissenschaft. Es überrascht daher auch nicht, dass niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, je gefordert hätte, innerwissenschaftliche Kritik einzuschränken oder sogar zu verbieten. Das NW hat dies gewiss nicht getan.

Die entscheidende Frage ist vielmehr: Was ist noch legitime Kritik und was eine Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit? Dazu sagt Reutlinger fast nichts, und was er sagt, ist evident falsch. So hält er es für „ein diskussionswürdiges Thema“, ob die innerwissenschaftliche Kritik auch als „Protest artikuliert werden [darf], der akademische Veranstaltungen stört“. Nun kann man in der Tat im Oberseminar philosophisch fragen, ob es als Akt zivilen Ungehorsams oder Widerstandes moralisch erlaubt oder sogar geboten sein kann, Vorträge zu verhindern (oder finanzielle Mittel zu streichen, Menschen zu beleidigen, Morddrohungen zu verschicken). Rechtlich stellt sich diese Frage nicht: Es ist eindeutig rechtswidrig [1]. Schlechterdings nicht nachvollziehbar ist daher Reutlingers These (die sogar „entscheidend“ sei), jenes „diskussionswürdige Thema“ habe „mit Wissenschaftsfreiheit nichts zu tun“. Doch, hat es, und zwar sehr viel. Denn der gegenwärtige Diskurs über Wissenschaftsfreiheit ist natürlich auch ein rechtlicher Diskurs, weil Art. 5.3 GG die Freiheit von Forschung und Lehre als Grundrecht garantiert. Gewiss gibt es viele Fälle, bei denen unklar ist, ob die Wissenschaftsfreiheit im Sinne des GG verletzt wird, und noch schwieriger sind die Fälle, bei denen es nicht so ist und dennoch in einem anderen Sinne die Wissenschaftsfreiheit angegriffen wird. Aber wenn etwa Bernd Lucke in Hamburg seine Vorlesung nicht halten kann, ist das eine rechtswidrige Verletzung der Wissenschaftsfreiheit ‒ wie sollte das mit Wissenschaftsfreiheit nichts zu tun haben? (And for the slow-witted: nein, wer Luckes Recht verteidigt, als Professor eine Vorlesung über Volkswirtschaft zu halten, verteidigt nicht Luckes politisches Engagement; und selbst wer ihn verteidigt in seinem Recht, seine politische Meinung kundzutun, verteidigt damit nicht diese Meinung. Als Noam Chomsky sich für die Meinungsfreiheit des Holocaustleugners Faurisson einsetzte, hat er gewiss nicht die Holocaustleugnung verteidigt.) Die rechtswidrige Störung von Vorlesungen hätte nur dann mit der Verletzung von Wissenschaftsfreiheit nichts zu tun, wenn solche Verletzungen allein von wissenschaftsexternen Akteuren (z. B. staatlichen Akteuren, wie etwa Orban) ausgehen könnten. Diese These wiederum wäre so abwegig, dass man sie Reutlinger eigentlich nicht unterstellen möchte. Aber man muss es wohl.

Es ist, noch einmal, völlig unstrittig, dass sowohl wissenschaftlich-qualitative wie auch wissenschaftlich-normenbasierte Kritik nicht nur zulässig, sondern essentiell notwendig ist. Aber was ist noch legitime Kritik, und was ist eine illegitime Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit? Darum geht es. Das NW wurde gegründet, weil es auf eine bedrohliche Weise zunehmend Fälle gibt, die nicht mehr als berechtigte Kritik zu bewerten sind, sondern eben als Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit. Auf die eindeutig rechtswidrigen Fälle habe ich bereits verwiesen. Aber sie machen nur den kleineren Teil aus. Wichtiger sind die Fälle, bei denen unter falscher Inanspruchnahme von angeblich wissenschaftlich-qualitativer oder wissenschaftlich-normenbasierter Kritik Wissenschaftler in ihrer Freiheit beschränkt werden. Reutlinger selbst nennt Rassismus als Beispiel. Betrachten wir dazu einen Fall.

Die Forschungsstelle für Interkulturelle Studien der Universität zu Köln hat 2020 eine Stellungnahme mit dem Titel „Für Freiheit in Forschung und Lehre“ veröffentlicht. Darin wird zunächst festgehalten: „Meinungsfreiheit bedeutet nicht, alles unwidersprochen sagen zu können“. Ja, gewiss. Aber einmal mehr: Niemand bestreitet das. Aber darum geht es der Forschungsstelle auch gar nicht. Ihr geht es darum, die „gute wissenschaftliche Praxis“ im Rückgriff auf das „Instrumentarium einer kritischen Rassismus- und Diskriminierungsforschung“ neu zu bestimmen; zur guten wissenschaftlichen Praxis gehöre es auch, „die Grenze des Sagbaren begründet zu markieren“. Hier zeigt sich besonders deutlich, wie gefährlich ein solches Unterfangen ist. Denn wessen Rassismusforschung ist gemeint? Wer bestimmt, was Rassismus ist? Nun, für die Kölner Forschungsstelle ist schon eine Aussage wie „Das Kopftuch ist ein Zeichen für Unterdrückung“ klar „diskriminierend“, „menschenverachtend“ und „menschenfeindlich“. Aber könnte diese Aussage nicht wahr sein? Könnte sie nicht zumindest für manche Kontexte und in manchen Hinsichten zutreffend sein? Und wenn sie wahr wäre, wie könnte sie dann rassistisch sein? Zwar ist es richtig, dass rassistische Positionen und auch rassistische Forschungsprojekte Kritik verdienen. Aber dafür muss klar sein, was überhaupt rassistisch ist, und ein wesentlicher Vorwurf gegen die wokies besteht ja gerade darin, dass sie durch einen inflationären concept creep, also durch immer stärkere Begriffsaufblähungen Begriffe wie „Rassismus“ auf eine Weise dogmatisch verwenden, die es unmöglich macht, ohne Schere im Kopf und ohne karrierebedrohenden Druck von außen zu forschen und zu lehren.

Es ist auch dieser concept creep von „Rassismus“, der eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Mainzer Wirtschaftspsychologen Thomas Rigotti dazu verleitete, einem doppelblind begutachteten und in einer renommierten Fachzeitschrift veröffentlichten Aufsatz vorzuwerfen, „unter dem Deckmantel eines vermeintlichen wissenschaftlichen Beitrags rassistische Stereotype und rechtspopulistische Hetze“ zu bedienen. Der Beitrag wurde nicht in einem Folgebeitrag kritisiert, man forderte, den Beitrag zurückzuziehen (dem Psychologen Heiner Rindermann erging es ähnlich). Oder nehmen wir den Fall des Migrationsforschers Ruud Koopmans: Ihm wurde für seine Forschung u. a. vorgeworfen, „den Nährboden für anti-muslimischen Rassismus“ zu bereiten, in Zeitungen wurde er zum „Professor unter Rassismusverdacht“ abgestempelt. Der Forschungsdirektor eines anderen Instituts untersagte seinen Mitarbeitern den wissenschaftlichen Austausch mit Koopmans Mitarbeitern. Erst jüngst hat Koopmans mit einem jungen Ko-Autor einen Aufsatz verfasst, der von einem peer reviewed journal zur Veröffentlichung angenommen wurde. Der Ko-Autor bat ihn dann aber, sich zurückziehen zu dürfen, da er Angst habe, damit seine Karriere zu gefährden. Gewiss ist also Rassismuskritik ein wichtiges Instrumentarium. Aber in der Hand von illiberalen Dogmatikern wird es zu einem Schwert, dass Köpfe rollen lässt.

Erst vor kurzem hat unser Philosophisches Seminar eine Wuppertaler Kollegin zu einem Vortrag eingeladen; aus offenkundiger Angst vor Kontaktschuld lehnte sie ab, weil mein Engagement im Netzwerk sie „abschrecke“. Vor knapp zwei Jahren gab es in Bielefeld eine Tagung zum Thema Wissenschaftsfreiheit. Ich wurde scharf kritisiert, und es ging ordentlich zur Sache. Gut so. Am Ende habe ich mich noch bei einigen KollegInnen verabschiedet. Einer verweigerte mir den Handschlag. Raten Sie mal, wer das war.


Dieter Schönecker ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Siegen. Zuletzt erschien von ihm „Rassismus, Rasse und Wissenschaftsfreiheit. Eine Fallstudie“, in: Philosophisches Jahrbuch 2/20, S. 248-273.


[1] https://www.mohrsiebeck.com/artikel/hochschullehre-zwischen-ausserungsfreiheit-political-correctness-und-maessigungsgebot-101628wissr-2019-0002/