Judenhass im Namen von Freiheit und Würde

Joël Ben-Yehoshua (Jena)


„Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft dem Judenstaat erklären wir den Krieg“


In Anbetracht des antisemitischen Massakers in Israel am 7. Oktober 2023 und der teils verstörenden globalen Reaktionen darauf hat Philip Hogh darauf aufmerksam gemacht, dass es eine „genuine Aufgabe kritischer Theorien“ ist, das Phänomen Antisemitismus besser zu erfassen sowie zu verstehen, „warum soziale Bewegungen und mit ihnen sympathisierende und sich als Kritiker*innen verstehende Intellektuelle antisemitische Morde beklatschen oder relativieren“.

Es gibt zahlreiche Versuche, den Antisemitismus gesellschaftstheoretisch zu begreifen. Die meisten entstanden unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Shoah. Einer der bekanntesten und von der empirischen Antisemitismusforschung auch vielfach bestätigten Ansätze wurde von Horkheimer, Adorno und Leo Löwenthal im Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ in der Dialektik der Aufklärung dargelegt. Vor dem Hintergrund der intensiven Diskussionen der Philosophie Kants in diesem Werk ist das (lebenslange) Desinteresse dieser Autoren für die explizit judenfeindlichen Äußerungen Kants erstaunlich. Wäre es vor dem Hintergrund der Grundthesen der Dialektik der Aufklärung nicht naheliegend gewesen zu untersuchen, wie Aufklärung und Judenfeindschaft aus einer Feder stammen können?

Diese Verstrickung von Aufklärung und Judenfeindschaft wurde seit Leon Poliakovs Pionierwerk „Geschichte des Antisemitismus“ (1955 – 1977) vielfach diskutiert. Die Persistenz antijüdischer Stereotype angesichts sich wandelnder sozioökonomischer Bedingungen erweist sich als Herausforderung für sozialphilosophische Antisemitismustheorien. Ich möchte im Folgenden nahelegen, dass wir unser Verständnis von Antisemitismus als Phänomen innerhalb der Philosophie schärfen können, indem wir von konkretem philosophischem Material ausgehen. Zwar gibt nur in extremen Fällen einen Konsens über den antisemitischen Gehalt zeitgenössischer philosophischer Texte, aber es findet sich genügend Anschauungsmaterial in der (europäische) Philosophiegeschichte. Doch auch bezüglich der Qualität der judenfeindlichen Textstellen beim bereits genannten Immanuel Kant (1724 – 1804) gibt es in der zu diesem Thema reichlich vorhandenen Literatur keinen Konsens. Bei seinen selbsternannten philosophischen Erben Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) und Jakob Friedrich Fries (1773 – 1843) finden sich hingegen hinreichend obszön judenfeindliche Passagen und Texte, die zum Ausgangspunkt für einige Beobachtungen dienen können.

Einer der bekanntesten judenfeindliche Passagen der Philosophiegeschichte findet sich in Fichtes Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution von 1793 (SW06: 149-151). Fries, der bei Fichte studierte, sich aber früh von ihm abwandte, zeichnete 1816 mit dem Pamphlet Über die Gefährdung des Wohlstands und Charakters der Deutschen durch die Juden ein weit über die damaligen Moden hinausgehendes dehumanisierendes 22-seitiges Panorama frühantisemitischer Fantasien. Sowohl Fichte als auch Fries verstehen sich selbst als die wahren Fortführer der kritischen Philosophie Immanuel Kants und damit der Aufklärung als emanzipatorischem Projekt. Während beim frühen Fichte ein von Kant inspirierter Begriff der Freiheit im Zentrum steht (vgl. SW06: 80) , knüpft Fries seinem Selbstverständnis nach an Kants Ethik an und stellt den Begriff der absoluten Würde des Menschen in den Mittelpunkt. Durch diese von der Aufklärung inspirierten Moralvorstellungen findet sich bei Fichte und Fries ein Typ Judenfeindschaft, der mit heutigen Erscheinungsformen mehr gemeinsam hat als die sich selbst als „Antisemitismus“ bezeichnenden völkischen und nationalsozialistischen Varianten, die von Universalität, Menschenwürde und individueller Freiheit nichts wissen möchten oder diese Ideen gleich als „jüdisch“ denunzieren.

Isoliert man die judenfeindlichen Äußerungen von Fichte und Fries nicht einfach als singuläre Fehltritte, so stellt sich die Frage, wie die darin zum Ausdruck kommende Menschenverachtung sich zur Emphase von Freiheit und Würde im Denken der zwei Philosophen verhält. Dabei spricht weder aus Fichte noch aus Fries der oft zitierte Zeitgeist. Vielmehr beziehen sie politisch Stellung gegen Tendenzen der damaligen Diskussionen über die Emanzipation und Bürgerrechte von Juden: Obwohl Juden infolge der Französischen Revolution 1791 formal emanzipiert wurden, lehnt Fichte dies in seiner Schrift zur Verteidigung der Revolution ab. Fries bezieht in seinem Pamphlet nach den Befreiungskriegen Stellung gegen die zuvor teilweise erfolgte Emanzipation der Juden in Teilen der deutschsprachigen Länder.

Zeitgenössische philosophische Diskussionen um diese beiden Texte drehen sich oft um die Fragen, ob die verbale Gewalt dieser Texte („ihnen alle die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen“ (SW06: 150) bei Fichte, sowie u. A. bei Fries: „daß diese Kaste mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde“ (1816: 18)) metaphorisch oder wörtlich gemeint sei, wie sich die darin zum Ausdruck kommende Judenfeindschaft zum NS-Antisemitismus verhalte und ob man Fichte und Fries als „Antisemiten“ labeln müsse oder nicht – schließlich gehen beide Texte nicht von der Existenz einer „jüdischen Rasse“ aus, was gemäß einem gängigen Vorurteil einen entscheidenden Unterschied zum modernen Antisemitismus mache. Anstatt solche Fragen von außen an die Texte heranzutragen, ist es lohnenswert, sich auf die Logik der Texte einzulassen, um Antisemitismus als intellektuelles Phänomen besser zu begreifen: Wovon leben diese Texte? Wie charakterisieren die Autoren sich selbst und „die Juden“? Anstelle einer umfassenden Analyse weise ich im Folgenden auf fünf Aspekte hin, die in Kontinuität zu heutigen Formen der Judenfeindschaft stehen.

1. Aspekt: „Juden“ als mächtige, unmoralische Unterdrücker

Die judenfeindliche Passage in Fichtes Beitrag beginnt mit den Worten:

„Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allen übrigen im beständigen Kriege steht, und der in manchen fürchterlich schwer auf die Bürger drückt; es ist das Judenthum.“ (SW06: 149)

Dieser Staat ist Fichte zufolge auf Auserwähltheitsdünkel, der Vorstellung jüdischer Suprematie, und „auf den Hass des ganzen menschlichen Geschlechts“ aufgebaut – eine antijüdische Vorstellung, die es schon in vorchristlichen Zeiten gab, die aber mit dem Neuen Testament zu christlichem Kulturgut wurde. Fichte führt dies in einer Vielzahl judenfeindlicher Klischees aus und schließt: „Wem das Gesagte nicht gefällt, der schimpfe nicht, verleumde nicht, empfinde nicht, sondern widerlege obige Thatsachen.“ (ebd.: 151)

Fries begründet die „Gefährdung des Wohlstands und des Charakters der Deutschen durch die Juden“ vorrangig ökonomisch:

„[B]ey alle diesem Einfluß, Macht, Reichthum und Freyheit waren und sind sie die Blutsauger des Volkes“. (Fries 1816: 5)

Mächtig sind „die Juden“ wegen der allzu gutherzigen „Duldsamkeit“ (Fries) bzw. der „Toleranz“ (Fichte) der meisten Menschen in Anbetracht der Rechtsbrüche „der Juden“, was diese wegen ihrer verschworenen Verschlagenheit für sich ausnutzten. Auch Fries behauptet, dieses Verhalten werde durch die jüdischen Vorstellungen von Moral („den Infamien des Talmuds“, ebd.: 14 und 24) und das „Vorurtheil, das einzig auserwählte Volk Gottes zu seyn“ (ebd.: 15) gefördert und legitimiert.

Zentral ist hier die Fantasie von „Juden“ als mächtige, unmoralische Unterdrücker. Diese Fantasie beruht nicht, wie Fichte behauptet, auf falsifizierbaren „Thatsachen“, sondern auf jahrhundertealten christlich-antijüdischen Erzählungen und ist vom realen Verhalten von Juden:Jüdinnen weitgehend unabhängig. Deswegen ist es auch sekundär, ob diese Fantasie mittels der „den Juden“ zugeschriebenen Religion, Moral, Politik oder „Rasse“ rationalisiert wird.

2. Aspekt: Relativierung, Rechtfertigung und Befürwortung von Gewalt gegen Juden:Jüdinnen

Hämisch beschreibt Fries wie es „in Spanien […] allem Volke zur Freude wurde, sie [die Juden] zu tausenden auf den Scheiterhaufen verbrennen zu sehen, sie die dort die Regierung für ihr eignes Wohl sammt und sonders zum Lande hinaus jagen mußte.“ (ebd.: 11) Dies steht im Kontext einer Warnung an „die Juden“: Wenn diese nicht selbst „der Judenschaft“, also den ihnen unterstellten Verbrechen, „bald möglichst ein Ende macht“ (ebd.), dann wird ihnen in Deutschland Ähnliches widerfahren wir in Spanien – und zwar zu Recht. „Dies Unwesen“, also die verbrecherische Existenz „der Juden“, „kann nicht ohne schreckliche Gewaltthat zu Ende gehen, wenn unsre Regierungen nicht schnell und mit hoher Kraft dem Uebel steuern.“ (ebd.) Das „Volk“ könne sich schließlich gar nicht mehr anders gegen den Unterdrücker wehren und werde „zur Gewaltthat gezwungen“ (ebd.: 5). Gegen Ende des Pamphlets fordert Fries dann auch selbst, wenn „die Juden“ nicht selbst den ihnen unterstellten Untaten ein Ende machten, „sollte [man] ihnen, wie einst in Spanien, den Schutz aufsagen, sie zum Lande hinaus weisen.“ (ebd.: 23)

3. Aspekt: apologetische Selbstcharakteristik

Dennoch behauptet Fries von sich, „den Juden“ nichts Böses zu wollen:

„Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. Wer den Pestkranken liebt, muß der nicht wünschen, daß er von der Pest befreit werde?“ (ebd.: 10)

Noch bemerkenswerter ist die Selbstcharakteristik Fichtes, die zu Beginn der langen Fußnote steht, die die zweite Hälfte der judenfeindlichen Passage im Beitrag bildet:

„Fern sey von diesen Blättern der Gifthauch der Intoleranz, wie er es auch von meinem Herzen ist!“ (SW06: 150)

Innerhalb weniger Sätze steigert sich Fichte nach dieser Exklamation bis zum bereits zitierten Bild der Massenenthauptung von „Juden“.

Um den Anschein irrationaler Animosität zu unterbinden, beruft Fichte sich auf aufgeklärte Toleranz, Fries auf christliche Nächstenliebe auch gegenüber „Juden“. Detlev Claussen nennt dies die „apologetische Selbstcharakteristik der Antisemiten“ (Claussen 2005: XI). Ihre verbale Gewalt ist ihrem Selbstverständnis nach nicht mit voraufklärerischer Judenfeindschaft zu verwechseln, sondern eine begründete Warnung der Allgemeinheit vor den von „den Juden“ ausgehenden Gefahren für Freiheit und Wohlstand des „Volks“.

4. Aspekt: Tabufantasien und inszenierter Tabubruch

Diese Warnung ist umso nötiger, als Fichte behauptet, es gehöre Mut dazu, sie auszusprechen:

„Ich weiss, dass man vor gelehrten Tribunalen eher die ganze Sittlichkeit und ihr heiligstes Product, die Religion angreifen darf, als die jüdische Nation.“ (SW06: 151)

Auch Fries weist direkt zu Beginn darauf hin, dass man sich vor verleumderischen Anschuldigungen in Acht nehmen müsse, wenn man es wie er wage, die Wahrheit über „die Juden“ zu sagen:

„Unwidersprechliche Thatsachen müssen uns abhalten, so unbedingt in das Geschrey über ungerechte Verfolgung, fanatischen Druck, Aufhetzung christlicher Pfaffen u.s.w. einzustimmen. Die Juden sind in Deutschland von jeher auf eine Weise behandelt worden, die mit den Rücksichten auf das Deutsche Volk sowohl, als den Forderungen der Menschlichkeit übereinstimmte.“ (Fries 1816: 4)

Dieses „Geschrey“ diene Fries zufolge dazu, die Ungerechtigkeit „der Juden“ gegenüber den Christen zu vertuschen. Fichte und Fries inszenieren sich als Tabubrecher und selbstlose Warner, die von Toleranz und Menschenliebe getragen sind.

5. Aspekt: Antisemitismus als revolutionäre Attitüde

Ein heute gängiges Vorurteil über Antisemitismus ist, dass es sich dabei um ein reaktionäres Phänomen handele und liberale, progressive, demokratische Bewegungen dem Antisemitismus entgegengesetzt seien. Die besprochenen Texte von Fichte und Fries stammen beide aus einem revolutionären Kontext: Fichtes Beitrag ist eine Rechtfertigung der Französischen Revolution bzw. der Revolution überhaupt. Er selbst führte seine Entlassung aus der Universität in Jena 1799 auf den ihm unterstellten „Demokratismus“ zurück. Fries war Förderer der Urburschenschaft und der frühen deutschen Nationalbewegung und nahm 1817 am Wartburgfest teil. Infolgedessen erhielt er – veranlasst durch die konservative Reaktion unter Metternich – Lehrverbot für Philosophie. In dieser Konstellation waren es häufig die liberalen, demokratischen, revolutionären Kräfte, von denen der Antisemitismus ausging, und Reaktionäre oder preußische Bürokraten, die diese bekämpften und die jüdische Emanzipation befürworteten.

Die aufgewiesenen fünf Aspekte frühmoderner Judenfeindschaft sind philosophische Vorgänger des „ehrbaren Antisemitismus“, der dieser Tage wieder die Barrikade mit dem Spießer-Stammtisch vereint. Wer (1) im jüdische Staat nichts als einen besonders mächtigen und unmoralischen „Unterdrückerstaat“ sieht, (2) exzessive Gewalt gegen Juden:Jüdinnen als „Widerstand“ rechtfertigt oder gar gutheißt, (3) dabei aber dennoch darauf beharrt, „nichts gegen Juden“, sondern nur gegen deren vermeintlich verbrecherische Daseinsweise zu haben, (4) dies öffentlich kundzutun für einen mutigen Tabubruch hält und (5) dies mit einer (in Teilen gerechtfertigten) revolutionären Agenda verknüpft, steht – womöglich ohne es zu wissen – in der Tradition von Johann Gottlieb Fichte und Jakob Friedrich Fries. Diesen unzureichend aufgearbeiteten Zug modernen Denkens zu durchdringen, ist Aufgabe sozialphilosophischen Nachdenkens über Antisemitismus. Die Reflexion der Tatsache, dass Judenfeindschaft integraler Bestandteil der christlich-philosophischen Tradition und Teil des Erbes europäischer Philosophie ist, das in der Aufklärung keineswegs überwunden wurde, sondern sich bloß transformiert und in dieser Form auch die Shoah überdauert hat, kann von der Irritation am konkreten Fall seinen Ausgang nehmen und helfen, unsere heutige Situation besser zu verstehen.


Joël Ben-Yehoshua ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FSU Jena im Projekt „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Werken der Klassischen Deutschen Philosophie?“