Kleidermode als ästhetisch-empathische Alteritätserfahrung: Eine phänomenologische Bestimmung des Modedesigns anhand von Thierry Muglers La Chimère und anderen Haute Couture Kostümen (Teil 1)
Von Hannes Wendler (Köln) & Janne Krippl (Heidelberg)
And Beauty is a form of Genius – is higher, indeed, than Genius, as it needs no explanation. It is one of the great facts of the world, like sunlight, or spring-time, or the reflection in dark waters of that silver shell we call the moon. It cannot be questioned. It has its divine right of sovereignty. It makes princes of those who have it. You smile? Ah! when you have lost it you won’t smile…. People say sometimes that Beauty is only superficial. That may be so. But at least it is not so superficial as Thought is. To me, Beauty is the wonder of wonders. It is only shallow people who do not judge by appearances. The true mystery of the world is the visible, not the invisible. …”
Oscar Wilde (2006, p. 22): The Picture of Dorian Gray
Zur deskriptiven Psychologie de la Chimère
Phänomenologische Studien erfordern geduldiges Nachdenken und ein scharfes Auge, vor allem aber sollen sie immer konkret anhand der Anschauung entwickelt werden. Das in der Erfahrung Gegebene ist das erste, letzte und einzige Kriterium für unsere Untersuchung von Thierry Muglers Haute Couture Kostüm La Chimère. Deshalb laden wir unsere Leserinnen und Leser dazu ein, die Chimäre in einem kurzen Videoausschnitt mit eigenen Augen zu sehen, bevor sie unsere folgenden Darstellungen lesen:
Die Stoffschicht umhüllt ein kaum wahrnehmbares, metallenes Klirren. Hunderte Pailettenplättchen reiben im Vorwärtsschritt aneinander und erzeugen eine fluide und doch hermetische Bewegungsdynamik, die vom Rumpf ausgeht, eine metallene dermale Viskosität, in der die Körperhaut mit dem Stoff zu einem fließenden Geflecht amalgamiert ist. Die Vorderseite der Taille, die verletzlichste und vom Knochengerüst ungeschützte Stelle des Torsos, ist mit steifen, querlaufenden Goldlamellen umgürtet, die an leguanartige Chininstrukturen erinnern.
Dieser Panzerkern bildet das Zentrum von Stärke und Wehrhaftigkeit, welche über die gesamte Erscheinung des Kleids hinausstrahlen. Mehr als 1000 Arbeitsstunden wurden investiert in die Bestickung des Tragegewebes mit Pailetten und Strasssteinen, um die Wirkung eines Schuppenpanzers, einer römischen Lorica Squamata zu erzielen, die bis hin zu den Körperextremitäten gewebt ist. Dies ist das reptiloide Innere von Muglers Chimäre. Es ist farblich markiert über den zentralen Goldakzent des Korsetts und die intensive Rubinbestickung auf der Brust.
Im Ausgang vom Zentrum jedoch wandeln sich die Qualitäten des Kleides in mehrerer Hinsicht. Einerseits in seiner Hautbeschaffenheit: Das Schuppengeflecht, welches über die Arme und die mit über 1.25m einstmals längsten Beine der Welt des slowakischen Modells Adriana Karembeu zu Boden fließt, wird kleinteiliger und filigraner, und ist am Fesselsaum mit unterarmlangem Rosshaar verbrämt. (Siehe die Bilder hier.)
Andererseits verändert sich zugleich die warme, irdene Farbgebung des Stoffes hin zu einem gedeckten Lapislazuli, das mit dem gewittervioletten Hintergrund der Inszenierung in eine Einheit wächst. Unter dem ruhenden Blick des Betrachters gewinnt die Metamorphose der Chimäre eine Eigendynamik. Gleichwie im Prozess der Schmetterlingsmetabolie der Larve wandelt sie sich vom Erdenwesen, vom Reptil abstammend, zu Gestalt und dem Element der Lüfte. Ihr Haupt ist umkränzt von langen und dunkel gefärbten Adler- und kleineren azurnen Habichtsfedern, einer Gefiederkrone, die sie in den Ausläufen ihrer Bewegung zum Vogelwesen kürt. Ihre haarigen Schwingen in grün und blauvioletter Farbgebung tragen den Schein der Aurora Borealis, das Zeichen der Kriegerin aus der nordischen Mythologie der Edda, der Valküre, welche die Spuren des Nordlichts hinter sich ziehend, die gefallenen Krieger nach Valhalla reitet.
Hermeneutische Annäherungen an die Chimäre
In der Ruhe der Betrachtung scheint es, als ob der französische Modedesigner und Photograph Thierry Muglerdamit in der Chimäre, der Protagonistin des Kollektionsteils La Chimère aus seiner Haute Couture Kollektion vom Herbst Winter 1997/98, Anklänge an mehrere mythologische Sinnbilder in ein und derselben Erscheinung vereint, und damit die historisch gewachsene Begriffsbedeutung von Chimäre aufgreift und entwickelt: Χίμαιρα, aus dem altgriechischen für Ziege eingedeutscht, stellt in der griechischen Mythologie ein Mischwesen dar, das in der ursprünglichen Darstellung in der Ilias nach Homer Löwe, Ziege, Schlange und Drache vereint.
So heißt es dort im 6. Gesang: „Als er [König Iobates] nunmehr vernommen die Todesworte des Eidams / Hieß er jenen [Bellerophon, den Enkel des Sisyphos] zuerst die ungeheure Chimaira / Töten, die göttlicher Art, nicht menschlicher, dort emporwuchs: / Vorn ein Löw‘, und hinten ein Drach‘, und Geiß in der Mitte, / Schrecklich umher aushauchend die Macht des lodernden Feuers.
Homerus, Ilias, 6. Gesang, 178-182
In den Hesiods Theogenie ist die Chimäre als Tochter der Ungeheuer Echidna und Typhon, und Bedrohung der Einwohner um den Olympos in Lykien, „als schrecklich und groß und behende zum Lauf und gerüstet mit Stärke“ beschrieben (Hesiodus, Theogonie, 320). Diese Charakterisierung der mythologischen Figur scheint in den Materialeigenschaften des Kostüms für den Besucher des Mode Défilées von Muglers Kollektion in der Kunsthalle in Rotterdam 1997 unmittelbar präsent: Im Goldgelb des Rumpfes ist die Zerstörungskraft des feuerspeienden Drachen mit der Bestialität des Löwen gepaart, von dort aus schwingt sich das Vogelhafte in eine schwindelerregende Höhe von über 2.30 auf, und wird in den weit aufgespreizten Kopffedern zu drachenhafter Schrecklichkeit entwickelt. Die Chimäre überragt alle anderen Teile von Muglers Kollektion am damaligen Tag. Sie ist die unangefochtene Anführerin dieser Kollektion. Dem wird auch der materiale Aufwand von Gestaltung und Herstellung gerecht. Die Chimäre ist eines der teuersten Kostüme der Modegeschichte. Dieser Status scheint sich in der mächtigen und kriegerischen Anmutung der Chimäre widerzuspiegeln, was in exemplarischer Pose der herrschaftlich befehlenden Geste mit ausgestrecktem Arm in der photographischen Inszenierung des Kostüms mit Yasmin le Bon durch Alan Strutt (Palladium, London, 1997) anschaulich wird. (Siehe die Bilder hier.)
Muglers Chimäre bleibt jedoch in ihrer Ästhetik nicht bei einer neoklassizistischen Kreuzung der mythologischen Charaktere von Bestie und Kriegerin stehen. Aus den besonderen Dynamikeigenschaften des Kostümstoffes entsteht eine weitere, zu diesen beiden Charakteren querliegende Wahrnehmungsdimension für den Betrachter:
Der Gang des Modells befremdet mit seiner Langsamkeit, die über einen angemessenen, vornehm getragenen Schritt hinausgeht. Die Modewelt zeigt sich zwar immer wieder von Laufsteginszenierungen einzelner Labels irritiert, die die üblichen Gehgeschwindigkeiten auf dem Catwalk von etwa 1.35 bis 1.65 m/Sek experimentell verlassen. So beispielsweise bei der New Yorker Fashion Show 2020, als die Modelle der Modekollektive Vaquera und Leon Dame über den Laufsteg “sprinteten”. Adriana Karembeu hingegen wirkt in der Chimärenhülle in ihrer natürlichen Körpermechanik so weit behindert, dass sie zu langsamem Gehen gleichsam gezwungen zu sein scheint. Trotz der Fluidität des Schuppenkleids wiegt ihr Kostüm schwer. Sie muss Balance halten und tippelt nur in kleinen Schritten, als würde sie die gewaltige Stoffhülle mit höchster Vorsicht zu tragen haben, als könnte bei nur einem falschen Schritt ihre mächtige Federkrone fallen.
Ungeachtet des Abstoßungsmoments, des Kriegerischen und Furchtbaren, welches die haarigen und harten Materialeigenschaften des Kostüms verbürgen, ist die Chimäre damit in ihrer Bewegung von einem Zug der Verletzlichkeit gezeichnet. Diese schafft Nahbarkeit, welche der Stärke und exotischen Fremde, zu denen das Material den Modellkörper im ersten Blick zu transformieren scheint, widerspricht und damit in eine spannungsgeladene Oszillation kommt. Die Dynamik des Kostüms löst damit eine Wirkung aus, die, zwischen Anziehung und Abstoßung vibrierend, das Wollende der inbesitznehmenden Wahrnehmung bändigt und den Betrachter selbst in einen körperlichen Bann passiver Kontemplation schlägt. Er sitzt an der Seite des Laufstegs, wie angegossen, und kann nicht anders, als die naturspektakelhafte Metamorphose dieser Erscheinung zu bestaunen, welche vor ihm geschieht. Diese Wirkung ist Vorbotin einer Erotik der Weiblichkeit, die sich, ausgehend vom Gang des Modells dem Betrachter eröffnet, sobald der Eindruck von Grässlichkeit und Bestialität des Kostüms abzuklingen beginnt, und die dann auch an anderen Gestaltungsmomenten aufzuscheinen beginnt.
Das enge Korsett, welches in Zusammenarbeit mit Jean-Jacques Urcun, einem französischen Modedesigner, und Mr. Pearl, einem bekannten südafrikanischen Korsetthersteller entworfen und gefertigt wurde, überbetont die sollbruchartige Schmalheit der Taille des Modells.
Die breiten, im Kontrast zu den ansonsten klaren Silhouettenlinien starr abstehenden Metallschuppen unterhalb davon hingegen spreizen die Hüfte auf und schaffen Allusion an den viktorianischen Reifrock, der sich an der Vorstellung der Gebärfreudigkeit des weiblichen Beckens bedient. Mugler bedient sich hier einerseits der Möglichkeiten moderner Shapewear, um den weiblichen Körper des Modells zu skulpturieren und Aufmerksamkeitsmomente auf primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale fallen zu lassen. So auch die durch die Farbgebung bewirkte Hervorhebung der weiblichen Brust. Andererseits verbirgt er denselben vor Blick und Übergriff des Betrachters hinter der panzerartigen und animalisch verfremdenden Stoffschale. Der Anziehungseffekt, den die Stoffhülle produziert, verunmöglicht zugleich von vornherein jede körperliche Berührung desselben, die am harten lebensfeindlichen Panzer unerfüllt abprallen würde, als Bedingung der betrachtenden Erfahrung.
Mit der erotischen Provokation dieses spaltenden Effekts durch das Kostüm gelingt es Mugler, die Chimäre auf sexuelle Macht und Destruktivität hin für den Betrachter erfahrbar zu überzeichnen. Aus den mythologischen Rollen einer Circe und Sirene gespeist, tritt sie als Femme Fatale auf, die den Betrachter zur Annäherung verlockt, um ihn dann, und hier mögen wir mit einem Augenzwinkern an Batailles (2020) Analyse der Erotik denken, in den erfüllten Liebestod führt.
Die Motive der Macht und Stärke weiblicher Erotik bilden auch für Teile seines weiteren Werks einen wichtigen thematischen Hintergrund. Als Beispiel hierfür lassen sich seine Cyborg und Fembot Kollektionen anführen, über die die feministische Kunsthistorikerin Linda Nochlin anlässlich eines Interviews mit Mugler in der NYT 1994 sagte, „seine Kunst sei so extrem, dass die Frauen darin nicht zu Sexobjekten, sondern zu Sexsubjekten würden“ (Nochlin zitiert nach Skelly, 2019, 7). Dass Muglers Modekunst mit dieser Idee der Inszenierung in einer Richtung stilbildend gewirkt haben mag, wird im Vergleich mit einigen späteren Inszenierungen anderer Haute Couture Häuser, wie beispielsweise in der Atlantis Kollektion des britischen Modedesigners Alexander McQueens von 2010, deutlich. Aber dies nur am Rande.
Aus der wechselseitigen Verhüllung und Entbergung also, Cachierung und Akzentuierung entfaltet sich die Metamorphose der Chimaira, die Mugler in seiner Inszenierung von Kleid und Trägerin, Stoff und Haut, in gleichsam spielerischer Gestaltung vor dem Betrachter auf dem Laufsteg inszeniert. Der römische Dichter Ovid beginnt im Jahre 8 nach Christus seinen Versepos „Metamorphosen“ mit folgendem Proömium: „Von in neue Körper verwandelten Gestalten zu künden treibt mich mein Sinn. Ihr Götter, inspiriert mein Vorhaben“. Den Betrachtern der Herbst- Winter Kollektion von 1997 mag es scheinen, als hätte Thierry Mugler seine Chimäre ganz in diesem Vorsatz entworfen — als sich verwandelnde Hybride aus tierischer Bestialität, weiblicher Erotik und mythologischer Figur, die in der ästhetischen Betrachtung nicht bei einer Gestalt zur Ruhe kommt, sondern in deren Interaktion von Modellkörper und Stoffqualitäten ein stets neuartiges Antlitz aufscheint und in oszillierender Schwebe verharrt.
Der Moment am Ende ihrer Darstellung, kurz bevor sie sich wendet und den Rücken zum Betrachter dreht, um den Steg hinunter zurück zu laufen, wirft ein Punktlicht auf diese wandlungsfähige morphologische Vielschichtigkeit: Der Schock ihrer absoluten Unbestimmbarkeit tritt ein, wenn die Chimäre zurückblickt. In seinem Licht wandelt sich der vielverheißende Lidaufschlag von Adriana Karembeu, Spiel weiblicher Verführung, zu einer animalischen Angriffsgeste, die nicht mehr aus menschlichen, sondern aus giftgrünen Katzenaugen spricht, – genauso wie aus 2000 Jahren Mythologiegeschichte. Der Grund dieses Blicks bleibt unnennbar.
[Dies ist der erste von zwei Teilen des Gesamttexts.]
Literatur
Arnold, F. (2018). Logik des Entwerfens: Eine designphilosophische Grundlegung. Fink: Leiden, Boston, Singapore, Paderborn.
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Dürrholz, J. (2020). Thierry Mugler im Interview. „Konventionen habe ich nie verstanden“. Frankfurter Allgemeine. Verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/stil/mode-design/thierry-mugler-im-interview-konventionen-habe-ich-nie-verstanden-17005247.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2Quelle:%20https://beruhmte-zitate.de/autoren/thierry-mugler/
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Wilde, O. (2006). The Picture of Dorian Gray. Oxford University Press.
Hannes Wendler ist Mercator-Fellow bei a.r.t.e.s. an der Universität zu Köln und wird mit einer Arbeit zur Grundlegung einer axiologischen Psychopathologie promoviert. Parallel zu seiner Promotion in Philosophie wird er am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie im Rheinland zum tiefenpsychologischen Psychotherapeuten ausgebildet. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die phänomenologische Psychologie, die Empathie und das Mensch-Tier-Übergangsfeld.
Janne Krippl ist Organisationspsychologe und -berater. Er hat Psychologie, Philosophie und Politische Ökonomie an den Universitäten Heidelberg und Wien studiert. Seit einigen Jahren arbeitet er in den Bereichen soziale Wirkungsmessung, Change Management und organisationale Transformation, in der Forschung, sowie beraterisch in unterschiedlichen Organisationen der internationalen Zusammenarbeit. In seiner freien Zeit hat er gerne einen Photoapparat zur Hand und beschäftigt sich mit Themen der Kunst und Ästhetik.