Mehrbelastung von Wissenschaftler*innen in der Corona-Pandemie – Eine Replik auf Gottfried Schweigers Kommentar zur SWIP Stellungnahme

von Andrea Klonschinski (Kiel)


Gottfried Schweiger hat an diesem Ort kürzlich *Kritik* an der *Stellungnahme* der Society of Women in Philosophy e. V. (SWIP) zur Corona-Pandemie geübt. Die Stellungnahme, so Schweiger, sei zu vage, benenne weder die für bestimmte Maßnahmen Verantwortlichen, noch differenziere sie hinreichend zwischen den negativ Betroffenen und lasse es an Vorschlägen konkreter gegenseitiger Solidarität im Wissenschaftsbetrieb vermissen. Damit sende sie insgesamt ein zu schwaches Signal. Während ich viele seiner grundlegenden Überlegungen teile, scheint mir eine Kritik an der SWIP-Stellungnahme nicht der richtige Ort, um diese zu artikulieren. Tatsächlich vermengt Schweiger meines Erachtens verschiedene Themen bzw. Fragen, die alle in der derzeitigen Situation relevant sind, aber auseinandergehalten werden sollten, wie ich im Folgenden skizzieren möchte. Dabei weist die Auseinandersetzung mit der SWIP-Stellungnahme über den konkreten Anwendungsfall hinaus, insofern sie Ungerechtigkeiten im Wissenschaftsbetrieb sowie den angemessenen individuellen und institutionellen Umgang damit thematisiert.

Hinsichtlich der verschiedenen von Schweiger angesprochenen Aspekten wäre erstens die Frage zu nennen, was genau eine Stellungnahme eines philosophischen Verbands in einer Krisensituation überhaupt leisten kann und soll. SWIP selbst kann selbstverständlich keine Maßnahmen beschließen, kann und soll aber als Verein zur Förderung von Frauen in der akademischen Philosophie deren Belange in der (akademischen) Öffentlichkeit vertreten. Und das hat der SWIP-Vorstand mit der Stellungnahme auch gemacht, indem er auf Probleme (nicht nur) von Wissenschaftlerinnen in prekären Beschäftigungsverhältnissen und/oder mit Care-Verpflichtungen hingewiesen und Maßnahmen zur Abmilderung dieser Mehrbelastung (etwa Lehrdeputatsreduktion und Verlängerung von Verträgen für Wissenschaftler*innen sowie Verlängerung der Zahlung von BAföG für Studierende) gefordert hat. Dass verschiedene Personen unterschiedlich stark belastet sind, dass manche sogar von der derzeitigen Situation profitieren, weil beispielsweise Sitzungen und Tagungen ausfallen und dies mehr Zeit für Forschung eröffnet, ist dabei sicher korrekt und in dieser Hinsicht ist die Stellungnahme „vage“. Aber was wäre hier die Alternative? Genau genommen sind auch nicht alle Alleinerziehenden gleich betroffen – das eine Kind schläft viel, das andere schreit unentwegt – oder alle Mitglieder von Risikogruppen – die einen machen sich furchtbar Sorgen und können nicht arbeiten, für die anderen gilt das nicht. So kleinteilig lässt sich aber nicht vorgehen, zumindest nicht, wenn man den Verwaltungsaufwand geringhalten und die Privatsphäre der Einzelnen respektieren möchte.

Die genannten Forderungen ergehen, auch da hat Schweiger Recht, in der Stellungnahme nicht an konkrete Adressaten, aber es dürfte doch klar sein, wem hier jeweils die Entscheidungsbefugnisse zukommen. Die Forderungen sind dabei keineswegs „vage“: es handelt sich um konkrete, umsetzbare Maßnahmen, die, und das scheint mir für die Textgattung der Stellungnahme relevant, sehr wahrscheinlich auf eine breite Unterstützung der SWIP-Mitglieder treffen. Je konkreter und kleinteiliger schließlich die Forderungen, desto größer der Dissens und den Mitgliedern. An dieser Stelle sei auch die Frage erlaubt, warum andere Fachgesellschaften, wie DGPhil und GAP, hinsichtlich des Themas Mehrbelastung in der Corona-Pandemie, hier eigentlich nicht Stellung beziehen. Denn es stimmt ja: strukturelle Ungleichheiten – und Ungerechtigkeiten – werden in der Krise noch markanter.

Es ist aber, zweitens, fraglich, inwiefern es in der derzeitigen Situation – und noch dazu im Rahmen einer aktuellen Stellungnahme – wirklich sinnvoll ist, tiefgreifende strukturelle Probleme zu adressieren. Eine Deputatsreduktion ändert nichts an prekären und abhängigen Beschäftigungsverhältnissen und eine Vertragsverlängerung schafft das Wissenschaftszeitvertragsgesetz nicht ab, wohl wahr. Aber die Maßnahmen lindern die durch die Krise bedingte Verschärfung dieser problematischen Strukturen erst einmal ab – und sie sind einfacher und schneller durchzusetzen als ein grundlegender Systemwechsel. Hier scheint mir Pragmatismus die Losung der Stunde. Und wenn man betrachtet, wie unterschiedlich die Universitäten mit der Krise umgehen und wie schwer sich in Deutschland auch manche Landesregierung tut, den Wissenschaftler*innen entgegen zu kommen, ist jede öffentliche Stellungnahme, die auf die Mehrbelastungen verweist, willkommen (siehe nochmals: GAP und DGPhil). Nivellieren die genannten Maßnahmen die für einige jetzt entstehenden Nachteile? Sicherlich nicht vollständig und sicherlich ist es vorstellbar, dass für die eine oder den anderen ein Rückstand, etwa in Sachen Projektanträge oder Publikationen, entsteht, der im Rahmen befristeter Stellen nicht mehr aufzuholen ist. Dies zeigt, dass das Wissenschaftssystem im Grunde unmenschlich ist und deutet definitiv auf Reformbedarf hin. Aber aus den Tatsachen, dass bestimmte Maßnahmen nicht allen gleichermaßen zugutekommen und sie Probleme nicht vollständig zu lösen vermögen, folgt nicht, dass es illegitim ist, mit den vorhandenen Möglichkeiten in dem Ausmaß zu helfen, wie es eben kurzfristig politisch möglich ist.  

Drittens vermisst Schweiger den Rekurs auf individuelle Solidarität unter Wissenschaftler*innen. Während sich sowohl die SWIP-Stellungnahme als auch meine Ausführungen bislang auf Maßnahmen auf der institutionellen Ebene beziehen, sieht Schweiger uns alle in der Pflicht. „Business as usual“ erzeugten wir schließlich (auch) selbst, indem wir weiterhin Zeitschriftenartikel einreichen oder unsere wissenschaftliche Karriere anderweitig vorantrieben. Sollten sich nicht also zum Beispiel diejenigen, die keine Care-Verpflichtungen haben, solidarisch zeigen, indem sie derzeit keine Aufsätze einreichen? Sollten Interviewanfragen abgelehnt werden, da andere gerade gar nicht die Möglichkeit haben, öffentlich in Erscheinung zu treten? Nein, in diesen Fällen scheint mir der Appell an individuelle Solidarität fehlgeleitet. Der konkrete Vorschlag, die philosophische Arbeit ruhen zu lassen, versetzt jede und jeden in ein klassisches Gefangenendilemma: wenn sich alle an die Vorgabe halten, wunderbar; aber ich kann angesichts des hochkompetitiven Wissenschaftssystems nicht davon ausgehen, dass alle das tun. Im Schlimmsten Fall feilen alle anderen weiter an ihrer Karriere, nur ich nicht. Um diese Situation zu vermeiden, ist es nur rational, wenn ich mich von vornherein nicht zu einer derart praktizierten Solidarität verpflichte. Eine solche dilemmatische Situation ist prädestiniert für eine institutionelle Lösung.

Heißt das, für individuelle Solidarität unter Wissenschaftler*innen ist gar kein Platz? Das nicht. Ich würde vielmehr behaupten, dass die SWIP-Stellungnahme selbst ein Zeichen einer solchen Solidarität ist. Schließlich haben sich die Verfasserinnen die Zeit genommen, die Stellungnahme zu verfassen und zu versenden, obwohl sie weder alle selbst Kinder haben noch alle prekäre Stellen inne haben usw. Derzeit ist auch hochschulpolitisch genug für diejenigen zu tun, die eben nicht unter Care-Verpflichtungen oder Sorge um kranke Angehörige zu leiden haben, um gerade die von SWIP genannten Maßnahmen an der jeweiligen Hochschule durchzusetzen. Schließlich kann jede*r einzelne in seiner oder ihrer Funktion als Tagungsveranstalter*in, Dozent*in, Zeitschriftenherausgeber*in usw. dafür Sorge tragen, die negativen Effekte der Corona-Krise abzumildern, etwa indem Fristen großzügig gesetzt und Einreichungen von Frauen gefördert werden. Im persönlichen Gespräch verweist Schweiger darauf, dass die Stellungnahme an die „philosophische Community“ appelliert, nicht „business as usual“ zu praktizieren, die geforderten Maßnahmen sich aber allesamt nur an Entscheidungsträger*innen in Ministerien und Hochschulleitung richteten. Das stimmt, aber die genannten Beispiele zeigen meines Erachtens, wie auch die kleinen Hebel eingesetzt werden können, um sich in der Community miteinander „solidarisch“ zu zeigen. An dieser Stelle ist Kreativität gefragt.

Andere Beispiele für Maßnahmen, die Schweiger nennt, sind wiederum eher auf struktureller und institutioneller Ebene angesiedelt und verweisen, viertens, auf die Frage, wie die ungerechten Hintergrundbedingungen zu beheben sind, die überhaupt erst zur „Corona-Krise“ der akademischen Philosophie führen. „Wie kann es gelingen“, fragt Schweiger, „dass die Verteilung der Gelder, die nun für Pandemie-bezogene Forschung ausgeschüttet werden, innerhalb der Philosophie nicht durch Ungleichheiten in Status, Macht oder Zeit verzerrt wird?“ Man streiche hier nur „Pandemie-bezogen“ und lande unmittelbar bei einer der zentralen Fragen, die die feministische Philosophie seit Jahrzehnten stellt. Ähnlich verhält es sich mit Schweigers Überlegung, ob Zeitschriften in Pandemie-Zeiten keine Texte mehr von Männern annehmen sollten, da diese, statistisch gesehen, weniger durch Care-Tätigkeiten belastet sind als Frauen. Letzteres bleibt auch in „normalen“ Zeiten trotz Kita und Schule – statistisch gesehen – der Fall. Es sollte also (nicht nur deshalb) immer dafür Sorge getragen werden, dass Frauen in angemessener Anzahl in Zeitschriften und auf Tagungen repräsentiert sind. Vorstand und Mitglieder von SWIP setzen sich genau dafür ein. Die Antworten auf die sich hier stellenden Fragen sind komplex und müssen diskutiert werden. Eine prägnante Stellungnahme ist aber nicht der richtige Ort dafür (siehe oben).

Um es zusammenzufassen: meines Erachtens spricht Schweiger in seinem Beitrag viele wichtige Punkte an, adressiert sie aber an den falschen Empfänger und vermischt verschiedene Fragen miteinander, die getrennt behandelt werden sollten. Diese sind: Erstens, was kann und soll eine Stellungnahme eines Vereins mit zahlreichen Mitgliedern in einer aktuellen Krisensituation leisten? Sollte sie insbesondere, zweitens, konkrete, kurzfristig umsetzbare Maßnahmen vorschlagen oder großflächige strukturelle Reformen fordern? Welchen Ort hat, drittens, individuelle Solidarität zwischen Wissenschaftler*innen bei der Bekämpfung der Philosophie-Corona-Krise, was kann und soll der oder die Einzelne hier leisten? Was ist, viertens, zu tun, um ungerechten Hintergrundbedingungen in Academia entgegenzuwirken?

Schweiger hat Recht, die Krise muss Anlass sein, um die letztgenannte Frage wieder intensiver zu diskutieren und entsprechende Maßnahmen zu forcieren. Derzeit gilt es aber erst mal, das brennende Haus zu löschen, bevor der Brandschutz verstärkt wird. Die SWIP-Stellungnahme empfiehlt genau das. Eine vertane Chance ist sie nicht; sie könnte zudem den Boden bereiten für die „SWIP Post-Corona Stellungnahme“, die Lehren aus der Krise versammelt und notwendige Strukturreformen anmahnt.


Andrea Klonschinski ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Forschungs- und Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen Philosophy & Economics und Feministische Philosophie. Außerhalb der Uni philosophiert sie gern über populäre Filme.