30 Jun

Adam Smith über die Geschichte der Zivilisation

Von Christel Fricke (Oslo)


Adam Smith (1723 – 1790) war einer der bedeutendsten Vertreter der schottischen Aufklärung. Bekannt ist er bis heute vor allem als Begründer der Nationalökonomie. Wir verdanken ihm aber auch bedeutende Beiträge zur Moral- und Geschichtsphilosophie. Er unterscheidet vier Stadien in der Geschichte der Zivilisation; das letzte Stadium ist die kapitalistische Gesellschaft. Zu ihren charakteristischen Merkmalen gehören die Arbeitsteilung und die dadurch bedingten Klassenunterschiede – kein Wunder, dass Karl Marx zu den Bewunderern von Adam Smith gehörte. Nach ökonomischem Maßstab ist die Geschichte der Zivilisation eine Fortschrittsgeschichte. Aber für den ökonomischen Fortschritt zahlen die Menschen einen hohen Preis: wachsende Einkommensunterschiede stehen der moralischen Forderung, alle Menschen als gleichwertig zu achten, entgegen. Smith hat diese Forderung in seiner Moralphilosophie nachdrücklich vertreten.

Nach einem Studium der Moralphilosophie in Glasgow und Oxford übernahm Adam Smith im Jahr 1752 den Lehrstuhl für Moralphilosophie (Naturrecht und Politik) an der Universität Glasgow.  Heute wird Smith vor allem als Verfasser der Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker (1776, deutsch zuletzt von Monika Streissler, Tübingen: Mohr Siebeck 2012) erinnert; mit diesem Werk wurde Smith zum Begründer der Nationalökonomie. Seit deutsche Ökonomen des 19. Jahrhunderts dieses Werk selektiv gelesen und noch selektiver zitiert haben, haftet Smith der Ruf eines Laissez-faire-Kapitalisten an. Notorische Berühmtheit hat in diesem Zusammenhang seine Metapher von der „unsichtbaren Hand“ („invisible hand“) erreicht, die – so die verkürzte Lesart – besser als jede Regierung das Marktgeschehen in die richtige Richtung steuert. Dass Smith, bevor er zum Begründer der Nationalökonomie wurde, schon ein sehr bedeutendes Werk zur Moralphilosophie veröffentlicht hatte, nämlich die Theorie der ethischen Gefühle (1759, 6. überarbeitete Ausgabe 1790, deutsch von Walther Eckstein, Hamburg: Meiner 2010), wurde lange kaum zur Kenntnis genommen. Ein weiteres Buch über politische Philosophie und Rechtstheorie konnte er nicht mehr vollenden; erhalten sind lediglich zwei studentische Vorlesungsnachschriften: Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschaften (1762/63, Erstveröffentlichung 1896, deutsch von Daniel Brühlmeier, Sankt Augustin: Academia Verlag 1996).

Überlegungen zur ökonomischen und politischen Entwicklung menschlicher Gesellschaften spielen eine wichtige Rolle in Smiths Werk. Er orientiert sich nicht an traditionellen Naturrechtstheorien (Hugo Grotius, Samuel Pufendorf), die Moral und Recht im Rückgriff auf eine metaphysisch reale, von Gott erschaffene Ordnung zu begründen versuchen und die Zivilisationsgeschichte als einen Prozess kontinuierlichen moralischen und rechtlichen Fortschritts beschreiben. Stattdessen entwickelt er eine psychologisch und ökonomisch informierte historische Sozial- und Politikwissenschaft, die in den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen der Menschen die Grundkräfte zu identifizieren sucht, aus denen heraus historischer Wandel und der damit verbundene ökonomische Fortschritt erklärt werden können.

In der Theorie der ethischen Gefühle hatte Smith ein Bild des Menschen als eines verletzlichen, sozialen, sowie vernunft- und sympathiebegabten Wesens gezeichnet.

Im Zentrum stehen diejenigen, die von den Konsequenzen der Handlungen anderer betroffen sind und auf sie gefühlsmäßig reagieren. Diese Gefühle sind entweder positiv („gratitude“ / „Dankbarkeit“) oder negativ („resentment“/ „Vergeltungsgefühl“ oder „Groll“). Betroffene (oft sind es Opfer), urteilen über den moralischen Wert einer Handlung auf der Grundlage dieser Gefühle. Ihre moralischen Urteile sind aber nur dann mehr als ein Ausdruck subjektiver Betroffenheit, wenn die Gefühle, auf denen sie beruhen, von dem „unparteiischen Zuschauer“ („impartial spectator“) gebilligt werden. Die Billigung durch diesen Zuschauer äußert sich in dessen „Sympathie“ („sympathy“). Heute würde man statt von ‚Sympathie‘ eher von ‚Empathie‘ sprechen. Im Austausch mit dem unparteiischen Zuschauer lernen Betroffene, ihre eigenen gefühlsmäßigen Reaktionen zu kontrollieren und darauf zu achten, dass sie die Billigung dieses Zuschauers verdienen. Wenn ihnen das gelingt, befinden sie sich in einem Zustand „gegenseitiger Sympathie“ („mutual sympathy“) mit dem unparteiischen Zuschauer. Diese gegenseitige Sympathie ist Ausdruck der Übereinstimmung in der moralischen Bewertung der Handlung, auf die die Betroffenen ursprünglich reagiert hatten. Und diese Bewertung ist gerechtfertigt, weil der unparteiische Zuschauer sie teilt.

Die gefühlsmäßigen Lernprozesse würden, wenn sie in einer Gesellschaft oft genug praktiziert würden, zu einem friedlichen Zusammenleben gemäß sozialen Normen führen, und diese Normen kämen den moralisch richtigen Normen weit entgegen. Aber das Interesse an gegenseitiger Sympathie, obwohl in den natürlichen Dispositionen der Menschen angelegt, ist nicht der einzige Faktor, der das Sozialverhalten von Menschen bestimmt. Hinzu kommen moralisch kontraproduktive Dispositionen wie Unwissenheit und Vorurteile, Egoismus, die Neigung zum Selbstbetrug, die Neigung, die Reichen und Mächtigen zu bewundern und der Hang, sich mit der Billigung von Schmeichlern zufriedenzugeben, statt sich um die Billigung eines unparteiischen Zuschauers zu bemühen. Die sozialen Ordnungen, die unweigerlich entstehen, und die politischen Herrschaftsformen und Gesetze, die die entsprechenden sozialen Normen institutionalisieren, sind daher nicht per se moralisch richtig. Sie sind aber auch nicht moralisch ganz und gar abzulehnen. Dafür sorgt, was Smith als „natürliche Ereignisse“ („natural events“) oder den „gemeinen Lauf der Geschichte“ („common course of history“) beschreibt. In diesen Zusammenhang verwendet er die Metapher von der „unsichtbaren Hand“, die dafür sorgt, dass es zu einer Vermehrung des Wohlstands für alle kommt, auch wenn die Reichen und Mächtigen nur an ihrem eigenen Nutzen interessiert sind und diesen ohne soziale Rücksichtnahme zu maximieren suchen.  Darin äußert sich Smiths Fortschrittsglaube, sein Vertrauen darauf, dass alles sich zum Besseren wenden und zum moralisch Richtigen führen wird, auch dann, wenn die Menschen sich von dem moralisch richtigen Weg immer wieder ablenken lassen. Historischer Fortschritt geschieht also nicht, weil die Menschen ihn in ihren Handlungen befördern, sondern obwohl die Menschen in den Lauf der Geschichte immer wieder störend eingreifen. Je mächtiger jemand ist, desto größer ist dessen Potential, den Lauf der Geschichte zu stören. Daher hat Smith ein zwiespältiges Verhältnis zu politischer Herrschaft. Einerseits können größere Gesellschaften ohne einen Herrscher und politische Institutionen nicht funktionieren; das gilt insbesondere für Herrscher in kapitalistischen Gesellschaften, die den Akteuren auf dem kapitalistischen Markt gewisse Grenzen setzen und auch für eine begrenzte Umverteilung des erwirtschafteten Wohlstands sorgen müssen. Andererseits misstraut er Herrschern, insbesondere jenen, die sich anheischig machen zu wissen, was für alle Mitglieder einer Gesellschaft das Richtige zu tun ist.

Der eigentliche Motor der Zivilisationsgeschichte ist, so Smith, ökonomischer Natur. In seinem Werk zur Nationalökonomie präsentiert er die kapitalistische oder Handelsgesellschaft („commercial society“) als letzte Stufe einer historischen Entwicklung; die vorhergehenden Entwicklungsstufen waren Gesellschaften von Jägern und Sammlern, von nomadischen Hirten und sesshaften Bauern. Das Kriterium zur Unterscheidung dieser vier Stadien ist die jeweils vorherrschende Erwerbsform. Für Smith manifestiert sich in dieser Abfolge so etwas wie ein historischer Fortschritt, allerdings nur dann, wenn als Maßstab die Höhe des von der jeweiligen Gesellschaft erwirtschafteten Wohlstands angelegt wird. Mit der Anzahl der eng zusammenlebenden Menschen, von denen einige erhebliches Privateigentum erwerben, wachsen nicht nur der Wohlstand, sondern auch das Konfliktpotenzial sowie der Bedarf an politischer Herrschaft und gesetzlichen Regelungen zur Prävention und Lösung von Konflikten.  Verursacht werden die Übergänge von einem zum jeweils nächsten Stadium nicht durch absichtliches Handeln von Gruppen oder einzelnen Personen, die den kollektiven Wohlstand zu mehren und das Gemeinwohl zu befördern suchen. Vielmehr geschehen diese Übergänge notgedrungen, als Reaktion auf die Erschöpfung vorgefundener natürlicher Ressourcen sowie eine steigende Bevölkerungszahl. Allerdings erfolgt der Übergang von nomadischen zu sesshaften Lebens- und Erwerbsformen nur unter bestimmten geographischen und klimatischen Voraussetzungen.

Mit den ökonomischen Zuständen verändern sich die Lebens- und Eigentumsformen ebenso wie die potenziellen Konflikte zwischen den Menschen. Entsprechend verschieden sind die jeweiligen Regierungsformen und politischen Strukturen. So schreibt Smith: „So gibt es unter Jägern keine richtige Regierung; sie leben gemäß den Gesetzen der Natur. Es war die Aneignung von Rindern und Schafen, welche die Ungleichheit des Besitzes mit sich brachte, die erstmals Anlass zu einer richtigen Regierung gab. Ohne Eigentum kann es keine Regierung geben, denn ihr wahrer Zweck ist die Sicherung des Reichtums und der Schutz der Reichen vor den Armen, die, würden sie nicht vom Staate daran gehindert, bald mit offener Gewalt die anderen auf eine Gleichheit mit ihnen zurückstutzen würden.“

Dabei hat Smith die Schattenseiten des ökonomischen Fortschritts, nämlich die Entstehung wachsender sozio-ökonomischer Ungleichheiten und neuer Klassenunterschiede, keineswegs übersehen. Im Gegenteil, er betont, dass für den ökonomischen Fortschritt ein hoher Preis zu zahlen ist; die Lohnarbeiter drohen, abzustumpfen und ihre moralische Integrität zu verlieren. Es ist die Arbeitsteilung, die in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht nur zu mehr Wohlstand, sondern auch zu einer Differenzierung zwischen Lohnarbeit und Kapital führt und damit zu erheblichen Einkommensunterschieden. Diese Ungleichheiten können durch Maßnahmen der internationalen Handelspolitik noch verschärft werden. Um diese Ungleichheiten auf ein vertretbares Maß zu reduzieren, fordert Smith mit deutlichen Worten eine Politik der Umverteilung: es ist „nur recht und billig, dass diejenigen, die für den ganzen Volkskörper Nahrung, Bekleidung und Wohnung schaffen, einen genügend großen Anteil am Ertrag ihrer eigenen Arbeit haben sollten, um sich selbst leidlich gut ernähren, kleiden und unterbringen zu können“. Auch die Ärmsten sollten in der Lage zu sein, ein würdiges Leben zu führen; dazu gehört auch, dass sie ihre Kinder zur Schule schicken können. Dieser kritische Aspekt von Smiths Analyse des Kapitalismus wird bis heute oft übersehen.

Die Produktion von Wohlstand ist nicht der einzige Maßstab, mit dem sich zivilisatorischer Fortschritt messen lässt, zumal sie ihren moralischen Preis hat. Es entstehen neue sozio-ökonomische Ungleichheiten, die aus der Perspektive der Moralphilosophie, die der Gleichheit aller Menschen verpflichtet ist, durchaus problematisch sind. Tatsächlich spekuliert Smith darüber, wohin sich die menschliche Zivilisation ohne den störenden Einfluss „menschlicher Einrichtungen“ entwickelt hätte: Hätten nur die „natürlichen Neigungen“ der Menschen und ihre äußeren Lebensumstände diese Entwicklung beeinflusst, „so hätten Städte nirgendwo größer werden können als Verbesserung und Bebauung des Gebietes, in dem sie lagen, es ihnen erlaubten, zumindest so lange nicht, bis dieses zur Gänze bebaut und verbessert war …“. Alle Investitionen von Arbeit und Kapital, die über das hinausgehen, was ein Mensch „unter Aufsicht und Kontrolle“ haben kann, mögen zu mehr Wohlstand führen, bedeuten aber immer auch ein höheres Risiko und damit eine Reduktion an Lebensqualität – Smith spricht von dem drohenden Verlust der „Gemütsruhe“, die allein es erlaubt, die „Schönheit des Landes und die Freuden des Landlebens“ zu genießen. Dabei bewertet Smith die natürlichen Neigungen der Menschen nicht durchweg positiv. Denn Habgier und „das unsinnige Zutrauen … zu ihrem eigenen Glück“ gehören ebenfalls zu diesen Neigungen und treiben insbesondere Investoren, die sich von ihnen beherrschen lassen, in den Ruin.

Die politische und ökonomische Geschichte Europas, wie Smith sie sieht, ist keineswegs eine Geschichte linearen Fortschritts. So spricht er von „der Behinderung der Landwirtschaft im alten Europa nach dem Untergang des römischen Reiches“. Kolonialismus ist, so Smith, ein integrierter Teil dieser Entwicklung. Während er die „unselige Sklaverei“ für eine dem nationalökonomischen Fortschritt nicht förderliche menschliche Institution hält, spricht er ungeniert von den „barbarischen Völkern“, die den afrikanischen Kontinent bewohnen. Er attestiert einigen Kolonialisten, insbesondere denen, die ihr Unwesen in Süd-Ost Asien trieben, Raubbau an der Natur, mit dem sie ihre kurzfristigen Interessen bedienten, dabei aber ihren langfristigen Interessen schadeten.


Christel Fricke ist Professorin für Philosophie and der Universität Oslo, Norwegen.

Print Friendly, PDF & Email