03 Okt

Adam Smith und die Theory of Moral Sentiments

Von Ulli Rühl (Bremen)


Adam Smith (1723-1790) wird heute ausschließlich als Ökonom und Autor von Wealth of Nations (1776) wahrgenommen – und je nach politischem Standpunkt verehrt oder verdammt. Sein dreihundertster Geburtstag am 16. Juni 1723 (genau genommen der Tag seiner Taufe) gibt Gelegenheit, das Bild dieses bedeutenden Aufklärungsphilosophen zu vervollständigen und einige Stereotype zu korrigieren.

Adam Smith war der Zeitgenosse von David Hume, Francis Hutcheson, Immanuel Kant, Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Edmund Burke und Jeremy Bentham. Hutcheson war sein akademischer Lehrer. Mit dem 11 Jahre älteren David Hume verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Rousseaus (Zweiten) Diskurs über die Ungleichheit hat Smith 1755 für „The Edinburgh Review“ rezensiert – und als die positive Kontrastfolie von Mandevilles Bienenfabel charakterisiert. Im selben Jahr wie die Theory of Moral Sentiments (1759) erschienen Voltaires Candide und die ersten beiden Bände des Tristram Shandy von Laurence Sterne. Zum geschichtlichen Hintergrund des Jahres 1759 gehören aber auch: die absolutistischen Monarchien in Europa, der siebenjährige Krieg (1756-1763) in Europa und Nordamerika sowie Sklavenhandel und Sklavenarbeit in den Zuckerrohrplantagen der Karibik und anderswo. Es ist dies eine Epoche, in welcher der Reichtum der englischen Oberschicht zum großen Teil auf Sklavenarbeit in den Kolonien beruht. – So viel zum geschichtlichen Hintergrund.

Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Adam Smith durch die Publikation seiner Theory of Moral Sentiments (TMS) im Jahr 1759 bekannt. Smith war damals 36 Jahre alt und Professor für Moralphilosophie an der Universität Glasgow. Die TMS war auf Anhieb ein Erfolg; das Buch war geradezu populär. Die erste Auflage musste mehrfach nachgedruckt werden und es erschien zu Smith‘ Lebzeiten in der 6. Auflage, die letzte kurz vor seinem Tod. Und das bedeutet, dass Adam Smith auch nach der Veröffentlichung des Wealth of Nations (1776) die TMS ergänzt und erweitert hat. (Was dann zum sog. Adam-Smith-Problem, d.h. der Debatte geführt hat, ob sich die beiden Werke widersprechen oder eine Einheit bilden.) Die TMS ist Teil eines größeren Projekts, das Adam Smith in der 1. Auflage angekündigt hatte: Nach der Moralphilosophie der TMS waren zwei weitere Abhandlungen zu den Prinzipien von Regierung, Verwaltung und Staatseinkünften sowie eine Theorie des Rechts geplant. Der Wohlstand der Nationen wurde ausgeführt, von der Theorie des Rechts existieren nur Vorlesungsmitschriften, die posthum als Lectures on Jurisprudence veröffentlicht worden sind.

Die erste deutsche Übersetzung der TMS (Rautenberg) erschien 1770, und das Buch wurde in Deutschland begeistert aufgenommen. Das gilt auch für Immanuel Kant, von dem berichtet (Markus Herz) wird, Adam Smith sei sein „Liebling“ gewesen. Kant hat sich in seinen moralphilosophischen Schriften nie direkt mit der TMS auseinandergesetzt. Es spricht jedoch Bände, dass bereits auf der ersten Seite des Ersten Abschnitts der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1786) der Begriff des „vernünftigen unparteiischen Zuschauers“ verwendet wird.

Für die folgenden Jahrhunderte muss man sagen, dass die TMS in Vergessenheit geraten ist; insoweit gilt das Urteil von Walter Eckstein (Übersetzer und Kommentator) von 1925 nach wie vor. Der interessierten Öffentlichkeit ist Adam Smith nur noch als Autor des Wohlstand der Nationen bekannt.  Zu modifizieren ist das Urteil über die Vergessenheit lediglich insoweit als es im 20. Jahrhundert immer wieder profunde philosophiegeschichtliche Untersuchungen über die TMS gegeben hat und immer wieder gibt, dass diese aber außerhalb der philosophischen Hauptströmungen (Kantianismus, Utilitarismus) nur in akademischen Nischen existieren und wahrgenommen werden. Das ist eine Zustandsbeschreibung, die speziell für den deutschsprachigen, aber auch für den größeren englischen Sprachraum gilt.

Die TMS bildet den Abschluss eines Diskussionszusammenhanges über die Frage nach den natürlichen Prinzipien, die unsere moralischen Urteile bestimmen. Die Debatte verläuft über Hobbes, Locke, Mandeville, Shaftesbury, Hutcheson, Hume – und Adam Smith. Dabei sind viele Ansätze diskutiert worden wie Eigenliebe, moralischer Sinn, Sympathie für die Nützlichkeit fürs Gemeinwohl. Adam Smith kann also an einen Bestand von Erkenntnissen anknüpfen und darauf aufbauen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Moralphilosophie seines Freundes David Hume. Smith setzt da an, wo Hume aufhört, nämlich mit dem Begriff der Sympathie, den er aufgreift, aber grundlegend umarbeitet. Humes Philosophie ist für Adam Smith ein wichtiger Bezugspunkt; gleichzeitig ist er von der Philosophie der Stoa und – anders als Hume – vom Deismus beeinflusst.

Adam Smith unterzieht das Hume’sche Kriterium der Moralität – das Sympathisieren mit der Nützlichkeit für das Gemeinwohl – einer Kritik. Sein Ansatz ist naturalistischer: es sind die natürlichen Gefühle von gewöhnlichen Menschen wie Zorn, Stolz, Freude, Trauer usw. Man kann die TMS als eine Phänomenologie des moralischen Urteilens von gewöhnlichen Menschen in Alltagssituationen beschreiben. Das ist ein egalitärer und demokratischer Ansatz. Es gibt keine transzendente Normativität; vielmehr wird beschrieben und erklärt wie gewöhnliche Menschen zu ihren Vorstellungen über das normativ Gebotene oder Gesollte kommen.

Für die TMS von zentraler Bedeutung ist der Begriff der Sympathie; der Begriff wird gleich im ersten Absatz des Buches eingeführt:

Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. […] Daß wir oft darum Kummer empfinden, weil andere Menschen von Kummer erfüllt sind, das ist eine Tatsache, die zu augenfällig ist, als daß es irgendwelcher Beispiele bedürfte, um sie zu beweisen; denn diese Empfindung ist wie alle anderen ursprünglichen Affekte des Menschen keineswegs auf die Tugendhaften und human Empfindenden beschränkt, […] sondern selbst der ärgste Rohling, der verhärtetste Verächter der Gemeinschaftsgesetze ist nicht vollständig dieses Gefühls bar.

TEG 1.1.1, S. 1 f.; Übersetzung von Walter Eckstein

Sympathie bei Adam Smith ist etwas anderes als nur Mitleid; Sympathie ist vielmehr ein Mitgefühl im weiteren Sinn, das sowohl Mit-Leid als auch Mit-Freude umfasst. Im Wesentlichen ist Smith‘ Begriff der Sympathie bedeutungsgleich mit dem Begriff Empathie, der heute von Anthropologen, Primatenforschern, Psychologen u.a. verwendet wird.

Die folgenden Begriffe bilden den theoretischen Rahmen der TMS: Affekt – Sympathie – Angemessenheit – unparteiischer Beobachter – äußerer Mensch und innerer Mensch (Gewissen). Insoweit ist allerdings anzumerken, dass es eine offene Forschungsfrage ist, was bei der TMS zur illustrierenden Erzählung und was zum begrifflichen Grundgerüst der Theorie im engeren Sinn gehört.

Das Grundprinzip der Theorie der moralischen Gefühle kann man so beschreiben, dass eine Handlung dann moralisch richtig ist, wenn ich als Beobachter mit dem Gefühl sympathisieren kann, das den Akteur zur Handlung motiviert. Angemessen und deshalb moralisch richtig ist eine Handlung, wenn das Primär-Gefühl des Akteurs und das Sekundär-Gefühl des Beobachters harmonieren. Nach diesem Maßstab ist zum Beispiel Rache gerechtfertigt, wenn ich als Beobachter mich im emotionalen Gleichklang mit dem Vergeltungsgefühl des Opfers befinde. Jeremy Bentham hat das in polemischer Absicht charakterisiert mit dem Satz „If you hate much, punish much … punish as you hate.“ Das ist zwar eine Karikatur des Ansatzes von Adam Smith, enthält jedoch wie jede gute Karikatur auch etwas Wahres. Verfälschend und verzerrend ist die Karikatur allerdings insofern als der affektive Impuls nur der erste Schritt im Prozess des moralischen Urteilens im Rahmen der TMS ist. Die Beobachter sind sich nämlich bewusst, dass ihr Sympathiegefühl parteilich und verzerrt sein kann – entweder parteilich durch persönliche Nähe oder durch zu große Entfernung, die zu Gleichgültigkeit führt. Man orientiert sich deshalb zunächst an den faktischen sozialen Erwartungen und betrachtet dann diese aus einer kritischen Distanz – das leistet die Perspektive des unparteiischen Beobachters. Angemessen („schicklich“) ist das Sympathiegefühl, das ein unparteiischer Zuschauer empfinden würde. Auslöser ist – genau genommen – nicht der Anblick eines Affektes, sondern die ganze Situation, und das erfordert einen wohlinformierten, unparteiischen Beobachter. Das ist gemäß der TMS die Prozedur mit der wir andere beurteilen. Es gilt aber auch die Art und Weise wie wir uns selbst und unsere eigenen Handlungen beurteilen: Wir müssen uns gleichsam von außen betrachten, und daraus kann sich ein Problem ergeben. Sind wir nur das, was die anderen in uns sehen? Sind wir nur außengeleitet? Damit ist Adam Smith an den Punkt gelangt, an dem der wohlinformierte unparteiische Beobachter (der innere Mensch, das Gewissen) zum kritischen Maßstab von äußerer Anerkennung und Selbst-Anerkennung gemacht wird. Das ist – wie gesagt – eine deskriptiv-erklärende Theorie. Es ist das Eigentümliche der TMS, dass dieser Erkenntnisprozess im Buch Kapitel für Kapitel weiterentwickelt und vorangetrieben wird.

Wenn man – wie hier – versucht, die TMS kurz und knapp darzustellen, kommt man nicht umhin, sich auf die Theorieelemente wie die Begriffe Sympathie und den unparteiischen Beobachter zu konzentrieren. Das wird jedoch dem Buch als literarischem Werk nicht gerecht. Edmund Burke hat bemerkt, die TMS sei eher „gemalt als geschrieben“ (rather painting than writing), und er hat das als Lob gemeint. Bei Kant gibt es in der Grundlegung viel Theorie und nur vier Beispiele. Demgegenüber wird der theoretisch-begriffliche Rahmen in der TMS in einer literarischen Erzählung eingewoben, illustriert und weiterentwickelt. Was die literarische Qualität angeht, kann man die TMS durchaus mit Rousseaus Zweiten Diskurs über die Ungleichheit vergleichen. Vielleicht liege ich mit der Vermutung nicht ganz falsch, dass Stil und Rhetorik der TMS von Humes Enquiries und Rousseau beeinflusst sind. Und vermutlich war es gerade das Illustrative und Erzählerische, das die TMS bei den Zeitgenossen populär gemacht, in der Folgezeit aber dazu geführt hat, dass man die TMS als Sentimentalismus abgetan und als Theorie nicht ernst genommen hat.

Die traditionelle Fragestellung der Moralphilosophie ist die nach dem Moralitätskriterium einerseits und der Motivation zum moralischen Handeln andererseits. Seit Kant und Bentham hat sich die Hauptströmung des moralphilosophischen Diskurses auf das Moralitätskriterium konzentriert. Zudem beruht die Hauptströmung des moralphilosophischen Diskurses auf der Trennung von Vernunft und Gefühl. Unter diesen Voraussetzungen ist es verständlich, dass Gefühle als Faktoren der Motivation keine oder nur geringe Aufmerksamkeit gefunden haben und im Übrigen nur als Störfaktoren wahrgenommen wurden – und werden.

Das hat sich erst in den letzten Jahrzehnten geändert, seit in Psychologie und Philosophie in Frage gestellt wird, dass Vernunft und Gefühle strikt zu trennen und als Gegensätze zu verstehen sind. Die Alternative besteht darin, in Vernunft und Emotionen lediglich zwei verschiedene Erkenntnisarten zu sehen, und das ist bei Ronald de Sousa (Die Rationalität des Gefühls), bei Kahnemann (Schnelles Denken, langsames Denken) und Haidt (The Righteous Mind) der Fall. Und es gilt auch für den neo-stoischen Ansatz von Martha Nussbaum (Upheavals of Thought), für die Emotionen wichtige Formen der Selbsterkenntnis sind. Jonathan Haidt bezieht sich eher auf die Moralphilosophie von David Hume, während Martha Nussbaum direkt die TMS rezipiert. Primatenforscher wie Frans de Waal (The Age of Empathy; Primates and Philosophers) und Michael Tomasello (Naturgeschichte der menschlichen Moral) haben die TMS in einer evolutionsbiologischen Perspektive rezipiert und interpretiert: Verschiedene Entwicklungsstufen von Empathie, die mit einfachen Formen emotionaler Ansteckung (Gähnen [Ja!], Gruppenpanik) beginnen und als darauf aufbauende Formen von sozialer Koordination zur Brücke von Natur und Kultur werden können (Musik, Tanz). Frans de Waal und Tomasello liefern evolutionsbiologische Erklärungen für den Rollentausch und die Perspektive des unparteiischen Beobachters. Für die meisten dieser Ansätze kann man sagen, dass die emotionalen Impulse die Bausteine sind, aus denen die menschliche Moral aufgebaut ist.

Das soll nun nicht bedeuten, dass man in den Fehler verfällt, die guten Emotionen gegen den bösen, kalten Verstand auszuspielen. Es ist richtig, dass Gefühle vernünftige Überlegungen verzerren können. Man darf aber nicht übersehen, dass auch der umgekehrte Fall vorkommt. Spontanes, intuitives Mitgefühl wird durch ‚rationale‘ Argumente abgestumpft – nach dem Schema: Es ist zwar grausam und unmenschlich, muss aber aus (angeblich) übergeordneten Gründen (Glaubenskriege, Rassereinheit, klassenlose Gesellschaft usw.) sein.

Was die Aktualität der TMS angeht, so besteht der entscheidende Punkt meines Erachtens darin, dass Adam Smith moralisches Urteilen über andere und sich selbst als Prozess der Wechselwirkung von Vernunft und Gefühl versteht. Das Überlegungsgleichgewicht zwischen intuitiven moralischen Urteilen und Prinzipien bei John Rawls ist eine Wechselwirkungstheorie in diesem Sinn. Wie dieser Prozess genau abläuft, ist eine offene Forschungsfrage für Psychologie, Neurowissenschaft und Philosophie.


Ulli Rühl ist Professor für Öffentliches Recht, Verfassungsrecht, Staatstheorie, Rechtsphilosophie (im Ruhestand) an der Universität Bremen.

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