08 Aug

Pluralismus und Politikrelevanz: Smiths Kritik des Merkantilsystems

Von Richard Sturn (Graz)  


Die Pluralität der Einflüsse auf Smiths Denken ist weithin anerkannt. Und die Vielzahl und Vielfalt der Schulen und Richtungen, die sich auf bestimmte Smithsche Argumentationen berufen, ist nicht zu übersehen. Weniger bekannt ist sein eigener theoretischer Pluralismus. Gemeint ist seine nur gelegentlich angedeutete Strategie, für die Diskussion wichtiger Fragen von übergeordnetem Interesse eine Pluralität von Modellen und Theorien zu Rate zu ziehen.

Hier ist ein Beispiel, dessen politisch-ökonomische Tragweite aktueller ist, also uns lieb sein kann. Denn um eine solche Agenda von übergeordnetem Interesse handelte es sich zweifellos bei seiner Kritik des Merkantilismus – also jenes Konglomerats von Handel und Machtpolitik, dem die ökonomische Klassik die Doktrin des Freihandels entgegensetzte. Die Kritik des „Merkantilsystems“ nimmt im vierten Buch des Wealth of Nations (WN IV.i.-viii.) breiten Raum ein. Sie stellt zweifellos eine Kernagenda seiner Arbeit dar: Smith apostrophierte bekanntlich den gesamten WN – sein magnum opus! – ja selbst als „den sehr heftigen Angriff, den ich auf das ganze Merkantilsystem Großbritanniens unternommen hatte“ (26. Oktober 1780, Brief von Adam Smith an Andreas Holt: Correspondence, S. 251). Zuschnitt und Komposition dieser Kritik macht sie gerade für heutige Probleme relevant – und zwar nicht nur, weil wir (nach dem Globalisierungsrausch der Roaring 1990ies und dem darauf folgenden Kater) wieder einmal in eine Phase merkantilistischer Geopolitik eingetreten sind – sondern weil sie verdeutlicht, dass die Analyse eines umfassenden Systems wie des Merkantilsystems sich nicht auf einen einzigen ökonomischen Ansatz beschränken kann, sondern die Kombination multidisziplinärer Ansätze erfordert. Außerdem zeigt Smith beispielhaft auf, dass eine Theorie nur dann für die Formulierung politischer Reformoptionen hilfreich ist, wenn sie mit unterschiedlichen Wissenskomponenten kombiniert wird – und nicht in Form der technischen Umsetzung einer am theoretischen Reißbrett entworfenen Blaupause.

Smiths Diskussion der Politik des „Merkantilsystems“ liefert so ein interessantes Beispiel für Voraussetzungen politikrelevanter Konklusionen der Wissenschaft. Smith betrachtet das vielschichtige „Merkantilsystem“ sowohl als theoretisches System als auch in seiner komplexen historischen Koevolution innerhalb der neuzeitlichen Entwicklung europäischer Staaten und ihrer globalen Expansion. Er liefert eine Kritik des Merkantilsystems als Wirtschaftstheorie, aber noch viel mehr: Denn es wäre völlig abwegig, die mehr als 230 Seiten des Wealth of Nations, die in der Oxford-Ausgabe dem Merkantilsystem gewidmet sind (WN IV.i -viii; S. 429-662), als Kompilation der theoretischen Fehler dieses Systems zu betrachten. Für eine bloße Explikation der ökonomisch-theoretischen Fehler hätte Smith wohl nicht viel mehr Platz als für die Kritik der „Agrarsysteme“ (gemeint ist die Physiokratie) benötigt, das Smith zufolge „einer so langen Erklärung“ nicht bedürfe (WN IV.ix.1), da es „nur in den Spekulationen einiger einfallsreicher und gebildeter Männer in Frankreich existiert“ und „wahrscheinlich in keinem Teil der Welt Schaden anrichten wird.“ Agrarsysteme seien „inkonsistenter als selbst das Merkantilsystem“, da sie (im Gegensatz zu ebendiesem Merkantilsystem) „letztendlich ihre eigene bevorzugte Art der Wirtschaftstätigkeit behindern“ (WN IV.ix.49). Sie seien als theoretisches Gegengewicht zu den Übertreibungen des Merkantilsystems zu betrachten, was durch eine der Logik des Zweitbesten folgende Spekulation verdeutlicht wird: „Wenn die Rute zu sehr in eine Richtung gebogen wird, sagt das Sprichwort, muss man sie, um sie gerade zu machen, genauso stark in die andere biegen.“ (WN IX.ix.4). Eines haben beide Systeme jedoch gemeinsam: Sie berücksichtigen relevante sozioökonomische Wechselwirkungen unzureichend, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Die Diskussion über Agrarsysteme umfasst ganze 20 Seiten. Die noch kürzere Rekapitulation von Smiths eigenem Ideal („the obvious and simple system of natural liberty“) (WN IV.ix.51) auf der Basis einer funktionierenden staatlichen Verwaltung, bildet dann einen prägnanten Abschluss von Buch IV.

Was enthalten nun die 230 dem Merkantilsystem gewidmeten Seiten? Sie enthalten Rhetorik und Analysen voller Kontraste, die auf tiefreichende Ambivalenzen dieses Systems schließen lassen. Nicht zufällig enthalten diese 230 Seiten auch jene Passagen des WN, die der Theory of Moral Sentiments (TMS) insofern am nächsten kommen, als die Integration heterogener, manchmal scheinbar widersprüchlicher Theoriestränge eine erhebliche Rolle spielt. So entsteht ein vielschichtiges Argumentationsgefüge, wenngleich der dialogische Präsentationsstil, den Vivienne Brown (1994) für die TMS diagnostizierte, weniger explizit ist. Das „Merkantilsystem“ wird als eine Ansammlung ambivalenter und teilweise paradoxer Kräfte und Entwicklungen beschrieben. Der Merkantilismus entfaltet sich in einem realen historischen Prozess, d. h., er entwickelt sich gemeinsam mit dem System der Staatlichkeit und dessen globaler Expansion in der europäischen Nachrenaissance. Er ist systemisch von korrumpierten Prinzipien durchdrungen und verzerrt. Aber er wird gerade nicht als verrottet[1], veraltet, unsinnig oder völlig falsch dargestellt. Vielmehr enthalte es „teils solide und teils sophistische“ Argumente (WN IV.i.9).

Vor allem aber ist die Politik des Merkantilsystems kein Misserfolg. „Die ersten, die es lehrten, waren keineswegs so dumm wie diejenigen, die es glaubten.“ (WN.IV.iii.c10). Seine „Pracht und Herrlichkeit“ ist jedoch zu einem erheblichen Teil der globalen Expansion zu verdanken. Umgekehrt ist laut Smith die Pracht und Herrlichkeit des Merkantilismus eine der Hauptwirkungen globaler Entdeckungen. Mit der Erlangung dieser Pracht ging „jedes Unrecht in den entlegenen Ländern“ einher, das die Europäer aufgrund ihrer „großen Übermacht“ „ungestraft begehen durften“. Gleichzeitig entstand zwischen den europäischen Mächten eine Arena der „jealousy of trade“, ein Konglomerat von Kommerz und internationaler Machtpolitik (siehe Hont, 2005 und WN IV.vii.c. 80-81).

Der ambivalente und paradoxe Charakter dieses Settings lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Prinzipien des Merkantilsystems „führen nicht nur sehr zu gefährlichen Störungen im Zustand des politischen Körpers, sondern Störungen, die schwer zu beheben sind, ohne … noch größere Störungen zu verursachen “ (WN IV.vii.c. 44).
  • Es kann gezeigt werden, dass sie wirtschaftlich verschwenderisch sind, auch wenn es anders erscheinen mag, da die „natürlichen guten Auswirkungen“ der expandierenden Märkte im Kolonialhandel „die schlechten Auswirkungen des Monopols mehr als ausgleichen“. Die Vorteile des Kolonialhandels kommen „trotz des Monopols“ zustande, nicht „wegen des Monopols“ (siehe WN IV.vii.c. 50).
  • Die merkantilistische Ökonomik ist als Wissenschaft fehlerhaft (basierend auf Irrtümern in Bezug auf das Konzept des Reichtums und auf einer Fehleinschätzung der Rolle der Produktivkräfte in einem fortlaufenden Prozess der Arbeitsteilung).
  • Merkantilistische Vorschriften und Tricks haben typischerweise unerwünschte Folgen für das Gemeinwohl.

Das Merkantilsystem entfesselte jedoch eine Dynamik von „Pracht und Herrlichkeit“ und schuf eine teilweise treffsichere Regulierung von Vorschriften im Sinne einer Begünstigung der systemisch „richtigen“ Art von Aktivitäten und Menschen – sofern man die normativen Prämissen des Systems akzeptiert!

Tatsächlich erklären die Pracht, Herrlichkeit und relative Resilienz dieses Systems, warum Smith sich immer wieder mit Problemen der angemessenen Geschwindigkeit und Reihenfolge von Reformschritten befasst. Er war offensichtlich davon überzeugt, dass diese Probleme große Aufmerksamkeit verdienen. Smith ist manchmal in einer mehr und manchmal weniger optimistischen Stimmung, was „die Fähigkeit der Wirtschaft, dramatische Veränderungen zu absorbieren“ angeht (WN IV.vii.c. 44; Fn 28 in der Glasgow Edition). Aber nie verliert er die vielfältigen Probleme von Big-bang Reformen aus den Augen. So reflektiert Smith den faktischen Einfluss mentaler Modelle, die das Verständnis dieser Situationen prägen. Smith neigt dazu, vorherrschende mentale Modelle (also etwa die Herrschaft des Merkantilismus als mentales Modell) ernst zu nehmen, teils, weil sie möglicherweise einige Aspekte der politisch-ökonomischen Realität erfassen (wenn auch nur teilweise und möglicherweise verzerrt), und teils, weil sie unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt aufgrund ihres Einflusses auf die Köpfe der Menschen wirksam sind, z. B. indem sie dazu beitragen die Resilienz einer herrschenden Konstellation zu stärken oder den Erfolg von Reformplänen auf andere Weise beeinflussen.

Buch IV von WN ist ein Teil seines Werks, auf den viel Bezug genommen wird. Es enthält die berühmte Passage, die den Begriff der „unsichtbaren Hand“ einführt – als einzige Stelle in Smiths ökonomischem Oeuvre – sowie die Bemerkung (auf die in den letzten Monaten oft etwas oberflächlich Bezug genommen wurde), wonach „Verteidigung viel wichtiger ist als Wohlstand“. Der Stellenwert solcher Passagen ist nur zu verstehen, wenn wir ihren Kontext und die pluralistische theoretische Architektur berücksichtigen, die Smiths WN-Buch IV zugrunde liegt. Dies hindert Vertreter bestimmter Ansichten natürlich nicht daran, solche Zitate in einer Art und Weise zu verwenden, die ihnen gerade in den Kram passt. Die Anerkennung kontextueller Faktoren ermöglicht es indes, einige auf den ersten Blick widersprüchliche Botschaften von Buch IV als geniale, mehrstufige, „pluralistische“ Theoriearchitektur zu interpretieren, die einiges zum Verständnis politökonomischer Prozesse einschließlich der Entstehung moderner Marktwirtschaften, Nationalstaaten und Imperien beizutragen vermag – einschließlich der Aporien der Globalisierung. Kurz gesagt, die Kapitel über das Merkantilsystem liefern nicht nur eine kritische theoretische Rekonstruktion merkantilistischer Wirtschaftstheorie, sondern zielen auch darauf ab, politisch-ökonomische Prozesse zu erklären, die die Geschichte merkantilistischer Regimes charakterisieren.

Bei seinen Versuchen, die Grundprinzipien des Merkantilsystems auf verschiedenen Ebenen zu rekonstruieren, verwendet Smith unterschiedliche Ansätze und Modelle, die jeweils nur unter bestimmten Annahmen anwendbar sind und die er für mehr oder weniger geeignet hält, um die wichtigsten Merkmale einiger Aspekte oder Tendenzen zu erfassen – aber nicht den gesamten Entwicklungsprozess. Daher sind Smiths Aussagen nicht als allgemeine und unwiderrufliche Wahrheiten zu verstehen, geschweige denn als Schlachtrufe, die ohne weiteres zu politischem Handeln auffordern.[2] Anders ausgedrückt: Smith beweist trotz der Einhaltung einiger allgemeiner Prinzipien eine geradezu atemberaubende Vielseitigkeit, wenn es darum geht, sich in diskursive Positionen hineinzuversetzen, die er nicht vollständig teilt oder deren Validität er auf eng begrenzte Bedingungen einschränkt. Auch das disziplinäre Spektrum von Smiths Theorien ist breit gefächert: In der heutigen wissenschaftlichen Arbeitsteilung würden die jeweiligen disziplinären Gegenstücke Wirtschaftswissenschaften, Politik-/Staatswissenschaften und Geopolitik umfassen. Während das Verständnis von Smiths Werk im Allgemeinen von der Perspektive einer realistischen politischen Theorie profitiert (siehe Sagar 2022), ist seine Diskussion des Merkantilsystems jener Teil seines Werks, in dem diese Perspektive unverzichtbar ist.

In diesem Sinne müssen drei unterschiedliche Theorieebenen und mindestens drei verschiedene „Modelle“ berücksichtigt werden:

  1. Die politökonomischen Theorieebene alternativer Idealisierungen: Abhängig von der Wahrscheinlichkeit von Krieg bzw. Frieden werden zwei Arten von „idealisierten“ Theorierahmen (wie in WN IV.iii.2 skizziert) in Betracht gezogen: „Frieden“ vs. „Feindseligkeit“.[3] Diese haben widersprüchliche Implikationen in Bezug auf Fragen wie die Vorteilhaftigkeit von Beggar-my-Neighbor-Strategien (siehe WN.IV.iii.c-9-11). Das friedliche Szenario wird dabei manchmal als theoretische Referenz verwendet, um die globale Expansion der Märkte aus einer langfristigen Perspektive zu betrachten.
  2. Ein hybrider politökonomischer Rahmen: Um Perspektiven langfristiger Entwicklung zu diskutieren, sind aber auch Theorien erforderlich, die Handel (einschließlich der faktischen Macht wirtschaftlicher Kräfte) und Geopolitik nicht mittels idealisierter Annahmen (Krieg oder Frieden) isolieren, sondern in einer Art interaktiver Dynamik integrieren: Die strategische Dynamik von Handelspolitik wird daher in Theorien der „jealousy of trade“ (WN IV.ii.38/39; Hont 2005: 6) erfasst. Themen wie Vergeltung in „Wirtschaftskriegen“ und koloniale Angelegenheiten werden im hybriden Rahmen diskutiert, wobei das Merkantilsystem die imperiale Expansion im Wettbewerb zwischen den Nationen in den Mittelpunkt stellt.
  3. Der politökonomische Rahmen von Reformprozessen. Smith skizziert diesen im allgemeineren Kontext der „Tugenden des Staatsmannes“ in der 6. Auflage von TMS (VI.). So erfordert der Bereich der Politik eine spezifische Mischung normativer Standards, die die Legitimität politischer Handlungsfähigkeit unterstützen und partikularistische Vorurteile aller Art (einschließlich szientistischer Arroganz) und falschen normativen Perfektionismus verhindern. Konkret ist Smith der Ansicht, dass das System der merkantilistischen Regulierungen viel zu komplex ist, um es auf einen Schlag abzuschaffen. Eine moderate und schrittweise Lockerung der Gesetze, die Großbritannien den exklusiven Handel mit den Kolonien einräumen, ist eher empfehlenswert Aber auch langfristig ist vollkommen freier Handel eine unerreichbare Utopie: „Zu erwarten, dass die Handelsfreiheit in Großbritannien jemals vollständig hergestellt werden sollte, ist ebenso absurd wie die Erwartung, dass Oceana oder Utopia möglich wäre.“ (WN IV.ii.43)

Bei der Behandlung spezifischer politischer Fragen wird problemorientiertes modellhaftes Denken eingesetzt. Beispielsweise bezieht sich Barry Weingasts (2017) Diskussion scheinbar widersprüchlicher Botschaften auf drei Arten von Modellen:

  1. Institutionenorientierte „Modelle“, die Rent-seeking, Monopole, ungeeignete koloniale Governance und öffentliche Finanzwirtschaft kritisch in den Blick nehmen. In einem solchen modelltheoretischen Kontext kommt Smith mit Blick auf die Zukunft zur Diagnose, Kolonien würden im Vergleich zu realisierbaren alternativen Formen von Governance „nichts als Verlust“ bringen (WN IV.vii.c. 64ff).[4]
  2. Ein prozessorientiertes „Modell“ der Arbeitsteilung (WN IV.vii.c. 50), angetrieben von der Dynamik des marktvermittelten Austauschs in einer langfristigen Perspektive: Stellt man die langfristig-dynamischen Vorteile der Arbeitsteilung in den Mittelpunkt, folgt rückblickend die Diagnose „äußerst vorteilhafter“ Auswirkungen der imperialen Wirtschaftsexpansion (die Eröffnung neuer Märkte hätte ohne dieselbe nicht stattgefunden).
  3. „Modelle“ des Protektionismus und der Imperienbildung in einem Hobbes’schen internationalen Umfeld, die für Staaten den Imperativ einer lexikografischen Zielfunktion implizieren: „Verteidigung ist von viel größerer Bedeutung ist als Wohlstand“ (WN IV.ii.29-30). Auch strategische Perspektiven in der internationalen Politik mit machiavellistischem Flair gehören zu diesen Modellen, welche etwa in Smiths Diskussion der Optionen für die Stärkung künftiger Beziehungen zwischen Großbritannien und seinen amerikanischen Kolonien nach deren Unabhängigkeit zum Tragen kommt (siehe Smiths Gedanken zum Stand Britisch-amerikanischer Kolonialangelegenheiten: Correspondence, Anhang B). Dabei nimmt er einige Zutaten neuerer geopolitischer Modelle wie des (Neo-)Realismus vorweg, die sich mit Hegemonialkonflikten befassen.

Fazit: Nach Smiths Ansicht erfordert das Verständnis des gesamten politökonomischen Prozesses, der mit dem Begriff Merkantilismus zusammengefasst wird, im Kontext seiner „Wissenschaft des Gesetzgebers“ eine Kombination von Denkrahmen und „Modellen“ – so widersprüchlich einige ihrer Implikationen auch erscheinen mögen. Die Minimierung der Auswirkungen interessenbezogener Vorurteile ist eine nie zu vergessende Aufgabe der Wissenschaft des Gesetzgebers und ist „zweifellos notwendig, um die Auffassungen des Staatsmannes zu lenken“ (TMS VI.ii.2.17). Ein einziges „System“ reicht aber nicht aus, wenn es darum geht, Staatsmännern Ratschläge für Reformen unter den gegebenen Bedingungen zu geben. Um den Erfolg wahrscheinlich zu machen, müssen nicht ideale Umstände berücksichtigt werden – was oft die Verwendung unterschiedlicher Theorierahmen erfordert[5]. Daher sollten wir ein umfassendes Verständnis sozioökonomischer Arrangements, einschließlich der damit einhergehenden Regulierungen, anstreben, wie sie sich in nichtidealen Welten unter bestimmten historischen Umständen in einem irreversiblen historischen Prozess entwickelt haben, dessen Pfadabhängigkeiten das Spektrum zukünftiger Möglichkeiten prägen. Ohne ausreichendes Verständnis sind Reformen zum Scheitern verurteilt: Verstehen ist die Grundlage vernünftiger politischer Maßnahmen, die zu Verbesserungen führen. Dies zeigt sich, wenn man die pluralistische Bandbreite des theoretischen Apparats betrachtet, den Smith für notwendig hielt, um die Mechanismen des Merkantilsystems zu erfassen und es als Grundlage für Verbesserungen sinnvoll zu attackieren.


Literatur

Brown, Vivienne. 1994. Adam Smith’s discourse. London: Routledge.

Collins, Gregory M.2022. Adam Smith on the Navigation Acts and Anglo-American Imperial Relations. History of Political Thought 43: 273-304.

Griswold, Jr., Charles L. 1999. Adam Smith and the Virtues of Enlightenment. Cambridge: Cambridge University Press.

Hont, Istvan. 2005. Jealousy of Trade. Cambridge MA: HUP.

Palen, Marc-William. 2014. “ADAM SMITH AS ADVOCATE OF EMPIRE, c. 1870–1932”. The Historical Journal 57 1: 179–98. doi:10.1017/S0018246X13000101.

Sagar, Paul. 2022. Adam Smith Reconsidered. Princeton: PUP.

Smith, Adam. 1759, 1790, [1976]. The Theory of Moral Sentiments, ed. by D.D. Raphael and A.L. Macfie (Bd. 1 der „Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith“). Oxford: Clarendon Press; abbr. as TMS.

Smith, Adam. 1776 [1976].  An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, ed. by R.H. Campbell und A.S. Skinner (Bd. 2 der „Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith“). Oxford: Clarendon Press; abbr. as WN.

Smith, Adam. 1977. The Correspondence of Adam Smith, ed. by E.C. Mossner und I.S. Ross (Bd. VI der „Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith “). Oxford: Clarendon Press.

Smith, Adam. 1978. Lectures on Jurisprudence, ed. by R.L Meek, D.D. Raphael and P.G. Stein(Bd. V der „Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith “). Oxford: Clarendon Press.) abbr. as LJ.

Smith, Adam. 1980. Essays on Philosophical Subjects, ed. by Raphael, D. D. und Skinner, A. S. (Bd. III der „Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith “). Oxford: Clarendon Press, abbr. as EPS.

Smith, Adam. 1983. Lectures on Rhetoric and Belles Letters, ed. by Bryce, J. C. und Skinner, A. S. (General Editor) (Bd. IV der „Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith“); Oxford: Clarendon Press.

Weingast, Barry. 2017. War, Trade, and Mercantilism: Reconciling Adam Smith’s Three Theories of the British Empire. SSRN Electronic Journal. 10.2139/ssrn.2915959.


[1]Siehe TMS I.iii und III.iii.41-45 zu unvermeidlichen verzerrenden Tendenzen, die moralische Gefühle korrumpieren.

[2]Zu Argumenten zur kontingenten Gültigkeit der in WN IV vorgebrachten Argumente siehe Collins (2022). Siehe LBLR i. 149 für die Art und Weise, wie kontroverse Argumente in verschiedenen Arten von Diskursen verwendet werden sollen.

[3]In dieser Passage werden hauptsächlich die Implikationen erläutert, die sich aus der Annahme eines „Zustands des Friedens und des Handels“ ergeben. Der „Zustand der Feindseligkeit“ (auf den in Abschnitten, die die Begründung merkantilistischer Vorschriften rekonstruieren, ausführlicher eingegangen wird; z. B. WN IV.ii.29-30) ist der Kontrast dazu: Wohlhabende Nachbarn sind sowohl für eine Nation als auch für den Einzelnen von Vorteil, wenn es um Handel geht. Der Reichtum einer benachbarten Nation ist jedoch „im Krieg und in der Politik“ gefährlich.

[4] Palen (2014) erörtert eine damit verbundene Zweideutigkeit im WN, die sich in verschiedenen Strömungen widerspiegelt, die sich von Smiths Überlegungen zu imperialer Expansion inspirieren lassen: Cobden etwa erweiterte idealistisch die antiimperialen Dimensionen von Adam Smiths WN, um den internationalen Freihandel zu begründen. Dementsprechend verurteilte der Cobdenismus den britischen Merkantilismus und Kolonialismus als atavistische, monopolistische und unnötig teure Unternehmen. Nach einem kurzen Flirt mit der Handelsliberalisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann ein Großteil der westlichen Welt, sich stattdessen Anglophobie, Wirtschaftsnationalismus, Agrarsubventionierung und kolonialem Expansionismus als bevorzugte Rezepte für die häufigen wirtschaftlichen Probleme des späten 19. Jahrhunderts zuzuwenden. Als Reaktion darauf entwickelten sich die Befürworter des britischen Imperiums um die Jahrhundertwende bis weit in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zu einer gewaltigen Opposition gegen die vorherrschende cobdenitische Orthodoxie. Und viele dieser Befürworter fanden intellektuelle Inspiration bei niemand anderem als Adam Smith.

[5]Smiths Skeptizismus in Bezug auf die Funktionsweise der politischen Sphäre ist kontextabhängig, wie der Vergleich von Passagen zeigt, in denen er die Zweckmäßigkeit von Vergeltungsmaßnahmen in Handelskriegen diskutiert: Zu beurteilen, ob solche Vergeltungsmaßnahmen zweckmäßig sind, gehört laut Smith „vielleicht nicht so sehr zur Wissenschaft des Gesetzgebers, dessen Erwägungen von allgemeinen Grundsätzen geleitet werden sollten, … , als vielmehr zur Fähigkeit jenes hinterlistigen und schlauen Tiers, das gemeinhin Staatsmann oder Politiker genannt wird, dessen Ratschlüsse von den momentanen Schwankungen der Dinge geleitet werden“ (WN IV.ii). Merkantilistische Einflüsse können so dazu führen, dass „die heimlichen Schliche von Kleinkrämer auf diese Weise zu politischen Maximen für die Führung eines großen Imperiums erhoben werden“ (WN IV.iii.2). Dem wollte Smiths Agenda einer „Wissenschaft des Gesetzgebers“ entgegenwirken, deren Prinzipien den Parteimann zum Staatsmann reifen lassen: „Der Führer der erfolgreichen Partei … kann manchmal seinem Land einen viel wichtigeren Dienst erweisen als die größten Siege und ausgedehntesten Eroberungen. Er kann die Verfassung wiederherstellen und verbessern und aus dem sehr zweifelhaften und zweideutigen Charakter des Parteimanns zum größten und edelsten aller Charaktere werden, den des Reformators und Gesetzgebers eines großen Staates; und durch die Weisheit seiner Institutionen die innere Ruhe und das Glück seiner Mitbürger für viele nachfolgende Generationen sichern“ (TMS VI.ii.2).


Richard Sturn ist seit 2006 Leiter des Instituts für Finanzwissenschaft und Öffentliche Wirtschaft der Uni Graz. 2015 Bestellung zum Joseph A. Schumpeter Professor für Innovation, Entwicklung und Wachstum sowie zum Leiter des Graz Schumpeter Centres. Zusammen mit Heinz D. Kurz Autor von Die größten Ökonomen: Adam Smith (2012) und Adam Smith für jedermann: Pionier der modernen Ökonomie (2013).

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