300 Jahre Kant: Natur und Wissenschaft

Beiträge von Lorenzo Spagnesi, Cord Friebe, Stephen Howard und Peter Baumann aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.

Mit der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie möchten wir den Fokus auf das Anachronistische, Antiquierte und Unzeitgemäße bei Kant legen. Dabei geht es nicht darum, Kant zu diskreditieren. Ziel ist vielmehr, durch eine Vielzahl kurze Statements einen Eindruck zu vermitteln, wie divers die heutige Kantforschung (im europäischen Raum und darüber hinaus) ist und wo sie die Grenzen von Kant verortet. Dafür veröffentlichen wir seit dem 22. April 2024 jeden Dienstag drei thematisch verwandte Kurzbeiträge.


Gibt es eine Einheit aller Wissenschaften?

Von Lorenzo Spagnesi (Trier)

Für Kant ist ein wesentliches Kennzeichen von Wissenschaft ihre systematische Einheit. Die Vorstellung, dass die systematische Einheit eine zentrale Rolle in der Wissenschaft spielt, ist heute jedoch relativ unpopulär. Nur wenige Philosophen vertreten die These, dass die Wissenschaften systematisch vereinheitlicht werden sollten. Es ist unbestreitbar, dass der gegenwärtige Stand der Wissenschaft dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine Vielzahl von Theorien, Modellen und Klassifizierungen gibt, die jeweils unterschiedliche und oft unvereinbare Perspektiven auf die Phänomene eröffnen. Sollen wir daraus schließen, dass der gegenwärtige Stand der Wissenschaft Kants wissenschaftliches Projekt ungültig macht? Wenn Kants Wissenschaftsideal das eines Systems ist, in dem alle Komplexität auf ein einziges Prinzip reduziert ist, dann ist dieses Ideal nicht nur überholt, sondern kann der Forschung sogar schaden. Systematische Einheit beschränkt sich jedoch nicht auf einen Reduktionismus. Meines Erachtens kann sie auch einen vernünftigen Rahmen bedeuten, in dem verschiedene Perspektiven auf die Phänomene möglich sind und vereinheitlicht werden können (oder nicht). Wenn dies zutrifft, kann systematische Einheit auch heute noch relevant sein; dann nämlich, wenn wir sie als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft und nicht als deren notwendiges Endergebnis betrachten.


Träge und schwere Masse: Kants übergangenes Problem

Von Cord Friebe (Siegen)

Trägheit und Schwere sind eigentlich ganz verschiedene Eigenschaften, doch werden alle Körper im Schwerefeld der Erde gleichermaßen beschleunigt – wie man bei der Kant-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn an der Schiefen Ebene experimentell überprüfen sollte. Diese Gleichheit von träger und schwerer Masse war das große Rätsel der Newtonschen Physik, und erst Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie offeriert dafür eine Lösung. Bei Kant aber kommt dieses Rätsel gar nicht vor! Er hat das Problem einfach übergangen. Warum? Hielt er diese numerische Gleichheit bloß für eine empirische Zufälligkeit, die einer philosophischen Erklärung nicht bedarf? Vielleicht ist ihm etwas Wesentliches entgangen: Denn könnte es nicht sein, dass man aus seinem Ansatz a priori deduzieren kann, dass es Schwere als zusätzliche Eigenschaft gar nicht gibt, dass es also einen „metaphysischen Anfangsgrund“ von Einsteins Grundidee gibt? Das wäre doch bemerkenswert!


The Ether

Von Stephen Howard (Leuven)

It goes without saying that Kant’s most glaring errors are his views on race and gender, which will be discussed by other contributors. So, bearing in mind that my topic is of secondary importance, let me mention a different way in which Kant seems not to be our contemporary. In his early writings as well as in the final drafts he wrote at the end of his life, Kant showed himself to be an enthusiastic believer in the ether: an all-penetrating matter that is the bearer of forces and, in particular, light and heat.

The early Kant scholar Erich Adickes accused Kant of backing the wrong horse, so to speak, by affirming the substantiality theory of heat – according to which the ether is the substance (Stoff) of heat – rather than the vibration theory that later became standard. Kant was not the only natural philosopher who tried to explain heat on the basis of the ether: so did Boerhaave, Euler and Lavoisier. Thinkers such as Descartes and (in his unguarded moments) Newton speculated that the ether could explain gravitational attraction. The ether concept was only decisively disqualified in the late nineteenth and early twentieth century: experimentally by Michelson and Morley, and theoretically by Einstein.

When criticizing Kant, it is tempting to employ his own conception of critique, which entails not simply rejecting a view but rather identifying its sphere of validity and the limits of this validity (this conception of critique is not outdated, I would say). In this spirit we might say that the ether has value as part of our ‘manifest’ rather than ‘scientific’ image of the world, to borrow Sellars’ distinction. We tend to find it difficult to conceive of forces without something that carries them. And who knows: in future physical theories that try to explain, or reject, dark matter and dark energy, the ether might make a comeback.


Kants überholte Vorstellung von Raum und Kausalität

Von Peter Baumann (Swarthmore)

In seiner theoretischen Philosophie, insbesondere der Kritik der reinen Vernunft, argumentiert Kant unter anderem für zwei fundamentale Thesen: dass der Raum unserer erfahrbaren Welt drei-dimensional und euklidisch ist und dass alle Ereignisse in der erfahrbaren Welt kausal determiniert sind. Inzwischen hat die Wissenschaftsentwicklung (insbesondere Relativitätstheorie und Quantenmechanik) seine Thesen zu Raum und Kausalität widerlegt. Selbst wenn zukünftige wissenschaftliche Entwicklungen Kants Thesen rehabilitieren sollten (was wohl nicht zu erwarten ist), so wären doch erhebliche Zweifel an der Idee angebracht, dass die Grundstrukturen der erfahrbaren Welt allesamt unabhängig von Erfahrung erkannt werden können, wie Kant meinte. Zu Gunsten von Kant sollte man allerdings hinzufügen, dass seine Thesen zu Raum und Kausalität nur die Welt betreffen, wie wir sie erfahren, aber nicht die Welt, wie sie an sich ist; über Letztere können wir, Kant zufolge, nichts wissen.