28 Mai

300 Jahre Kant: theoretische Philosophie

Beiträge von Georg Spoo, Mahdi Ranaee und Daniel Erlewein aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.

Mit der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie möchten wir den Fokus auf das Anachronistische, Antiquierte und Unzeitgemäße bei Kant legen. Dabei geht es nicht darum, Kant zu diskreditieren. Ziel ist vielmehr, durch eine Vielzahl kurze Statements einen Eindruck zu vermitteln, wie divers die heutige Kantforschung (im europäischen Raum und darüber hinaus) ist und wo sie die Grenzen von Kant verortet. Dafür veröffentlichen wir seit dem 22. April 2024 jeden Dienstag drei thematisch verwandte Kurzbeiträge.


Kant’s Logik ist nicht Kants Logik

Von Daniel Erlewein (Münster)

Im Jahr 1799 erteilte Kant einem Kollegen den Auftrag, ein Kompendium zur Logik zu verfassen und stellte ihm dafür seine Notizen zur Verfügung. Das Produkt, Immanuel Kants Logik, erschien noch zu Kants Lebzeiten und trägt seinen Namen im Titel. Viele Interpreten behandeln diese Schrift daher so, als hätte Kant selbst sie verfasst und als enthielte sie seine definitiven Gedanken zur Logik. Der Herausgeber, G. B. Jäsche, ist bei der Ausarbeitung des Textes allerdings sehr willkürlich verfahren. Kant hat seine Position etwa bezüglich der Bildung der Begriffe und der Konzeption der Urteile mehrfach revidiert und hat daher nicht nur ein oder zwei, sondern eine ganze Reihe von Notizen zu diesen Themen verfasst. Jäsche hat nur einen kleinen Teil der Aufzeichnungen zum Abdruck bringen lassen und sie an vielen Stellen gekürzt, ergänzt oder miteinander verquickt. Oft ist zudem nicht klar, ob sie Kants reife Position zum Ausdruck bringen. Immanuel Kants Logik so zu behandeln, als wäre sie Kants eigene Schrift, ist daher mehr als fahrlässig. Es birgt die Gefahr, Kant eine Position zuzuschreiben, die er nicht vertreten oder zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegeben hat. Es ist höchste Zeit, Immanuel Kants Logik einer quellenkritischen Analyse zu unterziehen!


(Un-)Veränderlichkeit der Kategorien?

Von Mahdi Ranaee (Siegen)
Kant leitet die Kategorien aus den Urteilsformen ab und rühmt sich, sie im Gegensatz zu Aristoteles auf ein einziges Prinzip zu gründen, wodurch sie als solche im menschlichen Verstand verankert und unveränderlich werden. Man kann sich jedoch fragen, warum wir sie als strikt unveränderlich betrachten sollten, angesichts all der Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen und sogar Individuen, die dieselbe Kultur und Sprache teilen. Ich glaube, dass Wilfrid Sellars‘ revidierte Auffassung von Kategorien für unsere Zeit angemessener ist. Sie betrachtet die Kategorien als metasprachliche Werkzeuge, die unseren Gebrauch von objektsprachlichen Begriffen regeln, und nicht als apriorische Konzepte. Auf diese Weise haben wir nicht nur eine Erklärung dafür, woher sie kommen und wie sie funktionieren, sondern wir sind auch von der unplausiblen Annahme befreit, dass es einen unveränderlichen Satz von Kategorien gibt, die dem menschlichen Verstand eingeprägt sind.


Kants Philosophie der Trennung und die Krisen der Gegenwart

Von Georg Spoo (Freibug)

Kants Kritik der reinen Vernunft ist eine Philosophie der Trennung. Ein Hauptziel dieses Werkes besteht darin, die Frage der Epistemologie (Wie ist sicheres Wissen von räumlichen Gegenständen möglich?) und die Frage der Ontologie (Wie hängen Geist und Materie miteinander zusammen?) zu trennen. Dadurch soll das Problem vermieden werden, das durch die Vermischung dieser Fragen entsteht: Da die ontologische Frage unlösbar ist, bleibt die epistemologische Frage automatisch unbeantwortet, was auf den Zweifel an der Außenwelt hinausläuft. Durch die Trennung beider Fragen lässt sich das Problem, das aus ihrer Vermischung folgt, vermeiden: Nach Kant ist die Begründung unseres Wissens von Gegenständen möglich, ohne hierfür erklären zu müssen, ob und wie das, wovon wir etwas wissen, an sich tatsächlich mit unserem Bewusstsein zusammenhängt.

Diese Art der Problemlösung ist kennzeichnend für Moderne und Aufklärung überhaupt. Sie drückt auf einer tieferen Ebene das diskursive Selbstverständnis und die funktionale Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft aus: Nicht nur epistemische, sondern vor allem politische und soziale Konflikte werden gelöst, indem die jeweiligen Sphären und Geltungsbereiche zugleich als eigenständig etabliert und voneinander getrennt werden. Diese rationale und effiziente Strategie der Problemlösung hat aber die Kehrseite, dass das Ganze aus dem Blick gerät und damit irrational wird. Im Falle von Kants Epistemologie: Eine Begründung des Wissens bleibt einseitig, wenn nicht zugleich geklärt wird, wie unser Bewusstsein faktisch mit der Welt, von der es etwas weiß, zusammenhängt. Um die epistemischen, sozialen und ökologischen Mehrfachkrisen unserer Gegenwart zu überwinden, müssen wir ein Denken überwinden, das in funktionalen Trennungen verhaftet bleibt. Wir müssen die Frage nach dem Zusammenhang des Ganzen neu und radikal stellen.

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