Universalismus auf Kosten des Judentums
Amit Kravitz (LMU München) –
Kant wird üblicherweise als Verkünder des unparteiischen Universalismus gesehen. Gleichzeitig vertrat er abstoßende Positionen auch zu Themen wie „Frauen“, „Race“, „Krieg“, „Todesstrafe“, „Judentum“, „wollüstige Selbstschändung“ usw. Zunächst scheinen Kants persönlichen Ressentiments gegen Juden und das Judentum keine besondere Kategorie auszumachen, aber in seinem Verhältnis zum Judentum tritt etwas Besonders auf, welches auch anders Licht auf den Begriff „Universalismus“ wirft.
Der berühmte jüdische Philosoph Emmanuel Levinas beschreibt in seinem Buch Difficile liberté. Essais sur le judaïsme eine Episode aus seiner Erfahrung im zweiten Weltkrieg:
Wir waren siebzig Mann in einem Waldarbeiterkommando jüdischer Kriegsgefangener, in Nazi-Deutschland […]. Die französische Uniform bot uns noch Schutz gegen die Hitler’sche Gewalt. Aber die anderen, sogenannten freien Menschen, die uns begegneten, die uns Arbeit oder Befehle gaben oder gar ein Lächeln schenkten – und die Frauen und Kinder, die vorübergingen und manchmal zu uns hersahen – sie zogen uns mit ihren Blicken die Haut ab, entblößten uns unserer menschlichen Gestalt. Wir waren nur noch Quasi-Menschen, eine Affenbande. Ein schwaches inneres Gemurmel, worin die Macht und das Elend von Verfolgten liegt, rief uns unsere Vernunftnatur ins Gedächtnis. Doch wir waren nicht mehr in der Welt. […].
Und da tritt, ungefähr in der Mitte einer langen Gefangenschaft […] ein streunender Hund in unser Leben. Eines Tages schloß er sich unserer Meute an, als wir, unter strenger Aufsicht, von der Arbeit zurückkamen. Er vegetierte in irgendeiner verwilderten Ecke dahin, in der Umgebung des Lagers. Aber wir gaben ihm einen exotischen Kosenamen, wie er zu einem geliebten Hund gehört, und nannten ihn Bobby. Er tauchte beim morgendlichen Appell auf und erwartete uns bei unserer Rückkehr, er hüpfte und bellte vor Freude. Für ihn waren wir – unbestreitbar – Menschen. […].
Bobby, letzter Kantianer in Nazi-Deutschland, ohne das Hirn, die Maximen seiner Triebe zu universalisieren […].1
Zwei typische Angelegenheiten springen hier ins Auge: Die erste bezieht sich auf die Art und Weise, wie Kants Philosophie – und zwar nicht nur im breiten Publikum, sondern auch unter professionellen Philosophen –, üblich erfasst wird; Kant symbolisiert und verkörpert für viele den raffinierteste Kern des Geistes der Aufklärung, in der das Ideal des Universalismus als abstraktes, unparteiisches, jenseits von religiösen, nationalen, ethnischen Unterscheidungen zwischen Menschen und Menschengruppen liegendes Projekt am Besten zum Tragen kommt. Die zweite zum Ausdruck kommende typische Angelegenheit in Levinas‘ Beschreibung betrifft die Art und Weise, wie spezifisch jüdische Denker auf Kant als vermeintlichem Verkünder dieses angeblichen unparteiischen Universalismus reagiert haben – oft mit Begeisterung und Bewunderung, oder immerhin: Mit tiefer Achtung gegenüber dem, was sie oft als Ideal der Aufklärung betrachten, eine Aufklärung, welche auch die Juden in sich einzuschließen scheint. (Man denkt diesbezüglich an Schriften wie Innere Beziehungen der Kant’schen Philosophie zum Judentum von Hermann Cohen, ein anderer großer jüdischer Denker).
Vergleicht man dieses verbreitete Bild von Kants Philosophie mit den folgenden Zitaten, welche direkt aus der Feder desgleichen Kants stammten:
Die Euthanasie des Judenthums ist die reine moralische Religion […] (Der Streit der Fakultäten, AA VII: 53).
Die unter uns lebenden Palästiner sind durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil, auch was die größte Menge betrifft, in den nicht ungegründeten Ruf des Betruges gekommen. Es scheint nun zwar befremdlich, sich eine Nation von Betrügern zu denken; aber eben so befremdlich ist es doch auch, eine Nation von lauter Kaufleuten zu denken, deren bei weitem größter Theil, durch einen alten, von dem Staat, darin sie leben, anerkannten Aberglauben verbunden, keine bürgerliche Ehre sucht, sondern dieser ihren Verlust durch die Vortheile der Überlistung des Volks, unter dem sie Schutz finden, und selbst ihrer untereinander ersetzen wollen (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII: 205).
Was aber z. B. ein Maimon mit seiner Nachbesserung der kritischen Philosophie (dergleichen die Juden gerne versuchen, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen und Wichtigkeit zu geben) eigentlich wolle, [ich habe es] nie recht […] fassen können (Briefwechsel, Bd. II, AA XI: 495).
Der eine Kant, dessen Geist in den Augen von Levinas in einen universalistischen Hund verwandelt wurde, ist mit einem zweiten Kant, der nach „Euthanasie des Judentums“ als Vorbedingung der Verwirklichung der Moral verlangt und der unkritisch an verbreitete, gemeine anti-jüdische Stereotypen zu glauben scheint, ganz und gar identisch. Es drängt sich deshalb die Frage auf: Wäre Bobby gleichgültig geblieben, hätte er gewusst, dass Levinas Jude war? Nach Levinas‘ Kant lautet die Antwort – auf jeden Fall; aber auch nach dem zweiten Kant? Wie lässt sich, wenn überhaupt, diese der Philosophie Kants innewohnende Spannung erklären?
Um den Grauschleier diesbezüglich etwas zu vertreiben, sei erstens (i) angemerkt, dass die zwei letzten Zitate Kants persönliche Vorurteile – welche freilich als Vorurteile einer ganzen Epoche gelten – zur Sprache bringen (die Juden als Betrüger und Parasit; die Juden, die nichts Originelles schaffen könnten und die deshalb auch im geistigen Leben parasitär seien). Um Kants Philosophie vor dem Vorwurf, sie sei antisemitisch (oder anti-jüdisch) zu retten, darf man hierzu behaupten, dass der Philosoph mit seiner Philosophie nicht vollkommen gleichzusetzen ist, weshalb Kants reine moralische Lehre tatsächlich universell war (nicht von ungefähr werden in keiner Formel des kategorischen Imperatives die Juden – oder andere Menschengruppen – erwähnt), unabhängig von den persönlichen, verwerflichen Meinungen ihres Urhebers. So gesehen stellt das Judentum keine Ausnahme dar, denn Kant vertrat abstoßende – für uns heute manchmal auch höhnische – Positionen auch zu Themen wie „Frauen“, „Race“, „Krieg“, „Todesstrafe“, „wollüstige Selbstschändung“ usw., und sagt, dass „am tiefsten [der Menschheit] ein Theil der amerikanischen Völkerschaften [steht]“ (Physische Geographie, AA IX: 316). Seine persönlichen Ressentiments gegen Juden und das Judentum sind deshalb aus diesem Blickwinkel zwar bedauernswert, aber sie scheinen zunächst keine besondere Kategorie auszumachen. Jedoch tritt (ii) im ersten Zitat und in vielen anderen Zitaten etwas Besonderes hervor; die Terminologie, der sich Kant hinsichtlich des Judentums – aber nicht bezüglich anderer Angelegenheiten – bedient, ist symptomatisch: Nur hinsichtlich des Judentums handelt es sich bei Kant um eine Aufgabe beziehungsweise um eine (moralische) Forderung und nicht bloß um eine (in persönlichen Vorurteilen verwurzelte) Beschreibung des Judentums. Das Judentum muss explizit überwunden werden, es wird eine „völlige Verlassung“ (RGV, AA VI: 127) verlangt, eine „Euthanasie“ um der Moral willen (denn die Moral selbst „führt unumgänglich zur Religion“ laut Kant; RGV, AA VI: 6). Auf die Frage, warum die Verneinung des Judentums zu einer innersystematischen Stelle gehört, die sich auf die unvermeidbare moralische Aufgabe bezieht, kann ich hier nicht eingehen; es reicht zunächst zu beachten, dass es so ist.
Von daher: Kants Einstellung zum Judentum – oder genauer: sein eigentümliches Konzept von Judentum; denn von dem Judentum, wie es von Juden über Jahrtausende hinweg verstanden, erlebt, geändert und gedeutet wurde, wusste er in der Tat so gut wie nichts – lässt sich nicht von seiner moralischen Lehre völlig abtrennen. Kant verknüpft beide explizit miteinander. Diesbezüglich muss man vorsichtig sein: Was die Begründung der Moral anbelangt, war Kant tatsächlich ein Universalist; jedem Menschen als Vernunftwesen kommt zum Beispiel das Bewusstsein seiner Pflicht zu, jenseits von seinen sonstigen partikularen Zügen. Jedoch kann die Durchsetzung bzw. die Verwirklichung der Moral, und zwar aus wesentlichen Gründen, nie rein abstrakt sein, weil der Ausgangspunkt aller endlicher Wesen per definitionem eine Lage ist, welche noch nicht als das gewünschte Resultat angesehen werden kann, weshalb das Ideal immer eine Leistung darstellt, die sich auf der Bewältigung bereits existierender partikuläre Züge gründet. Diesbezüglich kann jeglicher Universalismus gar nicht anders als in getrübter Form, d. h. durch Verneinung dessen, was bereits existiert, betrieben und befördert werden. Beachtenswert ist, dass selbst in der bekanntesten Bestimmung Kants – „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Was ist Aufklärung, AA VIII: 35) – dieses Gefüge deutlich zum Ausdruck kommt. Und um dieses Ausgangs willen müssen immer bereits bestehende begriffliche Konstrukte überwunden werden – die Bewältigung des begrifflichen Konstrukts „das Judentum“ gehört laut Kant, wie wir gesehen haben, auch dazu.
Ein interessantes Indiz für die besondere Stelle des Judentums diesbezüglich lässt sich in einem altem Stereotyp nachweisen, das bereits in der Antike auftaucht (beispielsweise bei Tacitus), und welches auch von Kant gebraucht wird: Das Judentum als Antipode nicht dieser oder jener menschlichen Gruppe, sonder als Antipode der ganzen menschlichen Gattung; mit Kant gesprochen, das Judentum hat „das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft ausgeschlossen“ (RGV, AA VI: 127). Daraus, dass Kant Vertreter des reinen Universalismus ist, ein Universalismus, welcher selbstverständlich die ganze Gattung umfassen soll, und daraus, dass jeglicher Universalismus sich per definitionem nicht durchsetzen kann ohne eine vorhergehende Überwindung einer bereits existierenden nicht-idealen Lage, ergibt sich, dass das erste, was um des Universalismus willen bewältigt werden soll, eben das ist, was „das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft“ ausschließt, und welches Kant mit dem Judentum identifiziert. Es wird deshalb klar, warum eine „Euthanasie“ des Judentums zum begrifflichen Gewebe des System gehört. („Euthanasie“ soll hier jedoch nicht dem ursprünglichen Wortsinn verstanden werden; es handelt sich zwar um das erhoffte, endgültige Ableben des Judentums im Dienste der Verwirklichung der Moral selbst, dieses Ableben soll aber von Juden, und zwar freiwillig, herbeigeführt werden. Allein die Tatsache bleibt bestehen: In Kants Universalismus gibt es keinen Platz für das Judentum, sondern der Universalismus kommt zu Stande auf Kosten des Judentums).
Dieses Motiv des Hasses gegen die ganze Gattung, welcher das angebliche Wesen des Judentums ausmacht, also die Darlegung des Judentums als die zu überwindende absolute Umkehrung der Vernunft und des Universalismus, tritt in der Tat in verschiedenen Formen und Nuancen auch bei den drei großen deutschen Idealisten nach Kant auf, nämlich bei Fichte (das Judentum ist laut ihm „auf den Hass des ganzen menschlichen Geschlechtes“ aufgebaut2), bei Hegel (das jüdische Volk, sagt Hegel, ist „das verworfenste“3, und der „Dämon des Hasses“4 bezeichnet das Sein der Juden) wie auch bei Schelling (der Tacitus diesbezüglich zitiert5). Diese Tatsache ist aufschlussreich, denn es geht daraus hervor, dass die Verneinung des begrifflichen Konstrukts „das Judentum“ zur Vorbedingung der Verwirklichung des Universalismus in verschiedenen Zusammenhängen geworden ist, nicht nur in religiösen. Hier ist zweierlei voneinander zu unterscheiden: Erstens (i) die Tatsache, dass es so ist, nämlich dass das Judentum in welchem Zusammenhang auch immer von außen so konzipiert wird, dass es ständig als das absolute Gegenteil des gewünschten Ideals gedeutet wird. Zwei erhellende Feststellungen diesbezüglich lassen sich bereits bei Jean-Paul Sartre und bei Jean Améry finden. Sartre schreibt:
[…] mal zeigt man uns hinter dem Juden den internationalen Kapitalismus […] mal den Bolschewismus mit seinem Messer zwischen den Zähnen, und man scheut sich nicht, in gleicher Weise die jüdischen Bankiers für den Kommunismus, der ihnen doch Furcht einflößen müßte, und die armseligen Juden […] für den kapitalistischen Imperialismus verantwortlich zu machen. Doch alles klärt sich auf, wenn wir darauf verzichten, vom Juden ein vernünftiges und seinen Interessen entsprechendes Verhalten zu erwarten, wenn wir im Gegenteil in ihm ein metaphysisches Prinzip erkennen, das ihn treibt, unter allen Umständen das Böse zu tun.6
Améry vermerkt:
Dem Antisemiten ist der Jude ein Wegwurf, wie immer er es anstellt: Ist er, gezwungenermaßen, Handelsmann, wird er zum Blutsauger. Ist er Intellektueller, dann steht er als Zersetzer der bestehenden Weltordnung da. Als Bauer ist er Kolonialist, als Soldat grausamer Oppressor. Zeigt er sich zur Assimilation an ein je in Frage kommendes Wirtsvolk bereit, ist er dem Antisemiten ein ehrevergessener Eindringling; verlangt es ihn nach jener neuerdings ,nationalen Identität‘, nennt man ihn einen Rassisten.7
Zweitens (ii) bedarf das merkwürdige Bestehen dieses Phänomens in Zusammenhängen, die einander beinahe in jedem anderen Aspekt widersprechen, einer Erklärung für sich; der Antisemitismus (oder, um einen Anachronismus zu meiden: Der Judenhass, oder Judeophobia) in der Antike, der christliche Antisemitismus (katholischer Schattierung oder der Judenhass, der von Luther geprägt wurde), Antisemitismus in den verschiedenen Versionen der Aufklärung, der neuzeitliche, rassistisch geprägten Antisemitismus, der Post-Holocaust-Antisemitismus, der Antisemitismus linker Couleur und so weiter – warum wird wieder und wieder, wo ein Ideal dargelegt wurde, „das Judentum“ als dessen Gegensatz konzipiert?
Einerlei, wie man auf diese Frage antwortet: Auch Kant und die deutschen Idealisten, die in vielerlei Aspekten revolutionär waren, scheinen das durchaus ablehnende Verhältnis zum Judentum und die damit einhergehende typischen Stereotypen nicht loswerden zu können.
Amit Kravitz unterrichtet Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Vor Kurzen hat er seine Habilitation „Partikularistisch getrübter Universalismus. Die Religion, das Politische und die begriffliche Gestaltung des „Judentums“ bei Kant, Fichte, Hegel und Schelling“ abgeschlossen.
1 Übersetzung entnommen aus Christian Rößner, Der „Grenzgott der Moral“. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysikim Ausgang von Emmanuel Levinas (Karl Alber: Freiburg/München, 2018), 15.
2 J.G. Fichte, Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publicums über die französische Revolution, Sämtliche Werke (Berlin: Veit und Comp, 1845), vol. VI, 149.
3 G.W.F. Hegel, Hegel, Phänomenologie des Geistes, in Werke in 20 Bänden (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986), volume III, 257.
4 G.W.F. Hegel, Abraham in Chaldeäa gebohren …, in Frühe Schriften. Frankfurter Manuskripte und Druckschriften, Hrsg. von Walter Jaeschke (Hamburg: Meiner, 2020), 41.
5 .W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, in Sämtlichen Werken (Stuttgart: 1856–1861), volume SW XIV, 75.
6 Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage (Hamburg: Taschenbuchverlag, 1994), 27.
7 Jean Améry, Werke, Bd. 7 (Stuttgart: Klett-Cotta, 2005), 163.