23 Jul

Kants (selbst-)kritischer Universalismus

Von Conrad Mattli (Basel)

Aus gegebenem Anlass wird derzeit wieder gefragt: Was ist an Kant eigentlich noch aktuell, was nicht? Ohne Zweifel ist Kant unhaltbar geworden, wo wir den universalistischen Anspruch durch rassistische und kulturchauvinistische – kurz: partikularistische Inhalte widerlegt wissen. Sollte Kants Philosophie dadurch nicht insgesamt unhaltbar geworden sein? Nun, diese Philosophie besagt im Wesentlichen, dass die Frage, ob etwas der Fall ist, unendlich verschieden von der Frage ist, ob etwas der Fall sein soll. Und wer trotz Hegel nicht verlernt hat, derart zwischen Sein und Sollen (Nichtsein) zu unterscheiden, und den erwähnten Tatbestand einmal unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, sieht sich gezwungen, mit Kant zu urteilen, dass der rassistische und kulturchauvinistische Partikularismus schon zu Kants Zeiten nicht, ja niemals hätte sein sollen, dass er aber offenbar heute noch, wie zu Kants Zeiten, ein Faktum ist. Am Ende könnte sich die Aktualität der kantischen Denkart also, statt durch vermeintlich überzeitliche Inhalte dadurch erweisen, dass es nicht nur möglich, sondern notwendig ist, Kant mit Kant zu kritisieren; dass die Methode der Kritik also das letzte Wort gegenüber dem eigenen Ausdrucksgehalt behalten darf – ja sogar muss, damit der universale Anspruch kein leeres Versprechen bleibt.

30 Apr

Kants zu abstrakter Universalismus

Von Elena Romano (Berlin)

Meines Erachten handelt es sich beim “Universalismusstreit” um eine Debatte, die eine Grenze von Kants Philosophie berührt und uns aber auch ermöglicht, mit Kant über Kant hinauszuschauen. Ganz allgemein betrifft der Universalismusstreit Kants Konzeption der Rationalität als allgemeine Eigenschaft des Menschen, die zentral für seine Philosophie ist. Problematisch ist dies, da Kant dabei nicht die empirischen (sozialen, historischen, usw.) Bedingungen berücksichtigt, die die Ausübung der Rationalität beeinflussen. In diesem Zusammenhang scheint es jedoch offensichtlich, dass bestimmte Klassen von Menschen für Kant von der Möglichkeit, diese Rationalität auszuüben, ausgeschlossen sind. Kants rassistische und sexistische Behauptungen tragen also letztendlich dazu bei, seinen Universalismus infrage zu stellen. Daraus ergeben sich zwei mögliche Perspektiven auf Kants Philosophie.

Man könnte erstens der Vorstellung von der menschlichen Vernunft als Träger allgemeiner universaler Charakteristiken misstrauen, die alle Menschen unabhängig von ihrer jeweiligen Situierung verkörpern. Der abstrakte Universalismus könnte durch eine alternative Konzeption der Rationalität ersetzt werden, die z. B. auf den Begriff der “situatedness” beruhen könnte.

Zweitens könnte man aber auch Abstand davon nehmen, Kants Universalismus aufgeben und ihn stattdessen radikalisieren. Man könnte sich fragen, unter welchen Bedingungen wir den Universalismus denken und letztendlich verteidigen können, ohne dabei die spezifischen kulturellen und sozialen Voraussetzungen zu verneinen, in die Menschen überall auf der Welt hineingeboren werden.

    09 Nov

    Der Universalismus der Aufklärung trotz postkolonialer Abgesänge

    von Arnd Pollmann (Berlin)


    Nur wenige Tage nach den grauenvollen Gewaltverbrechen der Hamas formuliert Philipp Sarasin auf dem Blog Geschichte der Gegenwart eine dezidiert postkoloniale Kritik an Omri Boehms (2022) Plädoyer für einen „radikalen Universalismus“.[*] Das Timing dieser Auseinandersetzung wirkt zunächst ungünstig: Auf Seiten vieler politisch „links“ stehender Menschen herrscht seit den schockierenden Massakern vom 7. Oktober nicht bloß unschlüssiges oder betretenes Schweigen. Spätestens seit der letzten Documenta drängt sich der ungute und in diesen Tage dann auch heftig diskutierte Verdacht auf, nicht wenige Befürworter:innen postkolonialer Herrschaftskritik könnten ein allzu sympathetisches Verhältnis zu israelkritischen oder sogar direkt antisemitischen Organisationen hegen. Und bisweilen ist gar so etwas wie ein postkoloniales Liebäugeln mit dem palästinensischen Terror zu vernehmen. Zugleich richtet sich Sarasins Kritik gegen einen israelisch-deutschen Kantianer, der selbst nicht recht in die üblichen Schubladen passt. Als „Universalist“ ist Boehm nicht nur ein erklärter Gegner postkolonialer Relativierungen. Eben dieser Universalismus führt ihn auch zu einer vehementen Kritik der israelischen Besatzung; was ihn in der Öffentlichkeit beinahe allseitig zur Zielscheibe macht.

    Weiterlesen