„Vermännlichung“ und „Androgyn-Werden“ – Zwei Ideale menschlicher Vortrefflichkeit in den neuplatonischen Schriften. Teil 2: Das Androgyn-Werden der Seele

Von Jana Schultz (Berlin)

Im ersten Teil meines Blogbeitrags habe ich dargelegt, dass die Neuplatoniker für die Gleichheit der Tugend von Männern und Frauen argumentieren, jedoch innerhalb eines ontologischen Systems, das stets das Männliche bevorzugt. Im Metaphysischen ist die männlich konnotierte Grenze der weiblich konnotierten Unbegrenztheit (Kraft) überlegen und im Bereich der Seele ist die männlich verstandene Kontemplation den auf das Wahrnehmbare bezogenen Tätigkeiten der Seele überlegen, die weiblich gedacht werden.

Des Weiteren habe ich argumentiert, dass die Neuplatoniker aus dieser Spannung heraus zwei Modelle der menschlichen Vortrefflichkeit entwickeln, die Vermännlichung der Seele und ihr Androgyn-Werden. Das Modell der Vermännlichung basiert auf die an Frauen wie Männer gerichteten Aufforderung, sich so weit wie möglich von allen Aktivitäten zu lösen, die die Seele verweiblichen und sich ganz der Kontemplation und der sie vorbereitenden Wissenschaften zu widmen. Ein Problem dieses Modell besteht darin, dass die weiblich gefassten Tätigkeiten der Seele nicht nur Tätigkeiten enthalten, die aus Sicht der Neuplatoniker schlecht sind, wie Essen und Sex um der Lust willen, sondern auch notwendige und positiv konnotierte Tätigkeiten wie die Fürsorgearbeit, die die Vorsehung der Götter und Göttinnen imitiert.

Anhand der Ausgestaltung der Diotima-Figur[1] in den Schriften des Proklos möchte ich nun zeigen, dass sich in der neuplatonischen Schule neben dem Ideal der Vermännlichung  auch ein Modell menschlicher Vortrefflichkeit finden lässt, dass auf eine Harmonisierung der männlichen und weiblichen Aspekte der Seele ausgelegt ist.

Diotima scheint als Priesterin und Philosophin auf den ersten Blick ein Modell der erfolgreich vermännlichten Seele zu sein: Ihr Leben ist ganz der Erfassung des Göttlichen gewidmet. Entscheidend ist aber, wie Proklos ihren Aufstieg zum Göttlichen beschreibt. Er betont, dass vermittelnde Instanzen, insbesondere die Dämonen, eine entscheidende Rolle innerhalb dieses Aufstiegs spielen. Diotima wird von Proklos als ausgewiesene Expertin für den Bereich der Dämonen bezeichnet und eben dieses Wissen über die Dämonen – die in Proklos’ Metaphysik keine bösen Prinzipien sind, sondern Mittler zwischen Göttern und Menschen – ermöglicht es ihr, ihre Seele zum Höchsten zu erheben.

Wichtig für unsere Untersuchung ist nun, dass innerhalb von Proklos’ Metaphysik vermittelnde Instanzen weiblich konnotiert sind. Die Göttinnen haben die Aufgabe, die väterlich konnotierten, monadischen Ursachen innerhalb jeden metaphysischen Bereichs mit ihren Effekten (zumeist Götter niederen Ranges) zu verbinden. So etabliert beispielsweise die Göttin Rhea das Band zwischen Kronos und seinen Effekten, zu denen auch Zeus gehört:

Denn diese Göttin bringt den unbegrenzten Strom allen Lebens hervor und alle unaufhörlichen Kräfte und sie bewegt alles gemäß den Maßen der göttlichen Bewegungen und sie wendet alles zu sich selbst zurück und sie etabliert es in sich als koordiniert mit Kronos. (Proklos, In Platonis Cratylum Commentaria 143, 9-13; Übersetzung der Autorin)

Und der gesamte dämonische Bereich, der Götter und Menschen verbindet, entstammt der Göttin Rhea und ist selbst weiblich konnotiert:

Die Dämonen also, die ihre primäre Existenz von der lebenspendenden Göttin [sc. Rhea] bekommen und von dort, wie aus irgendeiner Quelle, entströmen, erhalten eine seelischen Essenz (Proklos, In Platonis Alcibiadem Commentaria, 68, 4-7).

Und auch innerhalb der Seele verbindet sie sogenannte „Kreisbewegung des Anderen“, mit der die Vernunft sich auf das Wahrnehmbare richtet (eine weiblich assoziierte Tätigkeit), das Rationale und das Nicht-Rationale.

Diotima setzt in ihrer Tätigkeit als Priesterin und Philosophin somit auf Prinzipien wie die Dämonen, die selbst weiblich konnotiert sind. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Diotima eben nicht dadurch als Priesterin und Philosophin erfolgreich ist, dass sie das Weibliche in ihrer eigenen Seele leugnet oder verdrängt, sondern dadurch, dass sie sich die vermittelnde Kraft weiblicher Entitäten – seien es seelische oder metaphysische – zunutze macht, um ihre Seele zum Göttlichen zu erheben.

Hinzu kommt, dass Proklos Diotimas Rolle als Lehrerin des Sokrates hervorhebt. Das Lehren ist mit einer Art der Fürsorge verbunden. Es dient nicht in erster Linie dem Erkenntnisgewinn des Lehrers oder der Lehrerin, sondern ist auf das Wohl des Schülers oder der Schülerin gerichtet. Um Sokrates ihre Lehre von der Schau des intelligiblen Schönen zu vermitteln, muss Diotima eben diese Schau zumindest zeitweilig verlassen und sich auf Sokrates einlassen, der sich noch auf einer niederen, mehr dem Wahrnehmbaren verbundenen Ebene der Erkenntnis befindet.[2] Diotimas Praxis ist somit nicht durch eine einseitige Fokussierung auf die Kontemplation der Ideen und des Göttlichen gekennzeichnet (auch wenn dies gewiss eine entscheidende Rolle in ihrem Leben spielt), sondern lässt Raum für die Aktivitäten, die sich eher in den Bereich der Fürsorge einordnen lassen. Diotima nutzt somit die Kraft intermediärer Entitäten wie der Dämonen nicht nur für ihren eigenen Aufstieg zum Göttlichen, sondern wirkt auch selbst als eine solche Entität, die anderen beim Aufstieg hilft.

Die Parallelität zwischen Diotima und Sokrates in Bezug auf die Lehrer-Rolle – so wie Diotima Sokrates unterrichtet, unterrichtet Sokrates beispielsweise Alcibiades – zeigt zudem, dass auch das von ihr verkörperte Ideal der Harmonisierung des Männlichen und des Weiblichen ein Ideal für Männer und Frauen ist. Nach dieser Vorstellung gleichen sich die tugendhaften Seelen nicht einem der männlichen Götter an, sondern dem Phanes, der in der proklischen Metaphysik androgyn bestimmt ist, da er als das Paradigma aller Lebewesen Ursprung des Männlichen und des Weiblichen ist. Das von Diotima verkörperte Tugendmodell lässt sich deshalb auch als Androgyn-Werden  – als Alternative zur Vermännlichung – der Seele beschreiben.

Insgesamt sehen wir somit, dass wir uns im Neuplatonismus in einem System bewegen, das dem Männlichen grundsätzlich den Vorrang vor dem Weiblichen einräumt. Auf allen ontologischen Ebenen – dem Bereich des Göttlichen, des Intellekts, der Seele und des Körpers –  ist das Männliche das Stärkere und das Weibliche das Schwächere. Dennoch argumentieren die Neuplatoniker für die gleiche Tugend von Männern und Frauen. Innerhalb der Spannung zwischen dem Ideal der Gleichheit in Bezug auf die Tugend und der fundamentalen Ungleichheit des Männlichen und des Weiblichen entwickeln sich in den neuplatonischen Schriften zwei Modelle der Tugend von Frauen (und Männern). Die Vermännlichung  der Seele, die mit einer Verdrängung und Negierung der als weiblich verstandenen Aspekte der Seele einhergeht und das Androgyn-Werden der Seele, das auf eine Harmonisierung der männlichen und weiblichen Aspekte zielt und sich beispielsweise im Weisen verkörpert, der erfolgreich das Intelligible schaut und dennoch die Fürsorge nicht vergisst.

Diese Untersuchung ist zunächst für die philosophiehistorische Forschung von Interesse. Sie beantwortet Fragen nach dem Denken über das Geschlecht einer bestimmten Schule in einer bestimmten Epoche.

Doch wie im ersten Teil dieses Blogbeitrags dargelegt, denke ich, dass uns die oben skizzierte Untersuchung auch Denkanstöße für gegenwärtige Debatten um Gender und Gleichheit geben kann, besonders da wir mit den Neuplatonikern die Voraussetzung teilen, für die Gleichheit der Geschlechter innerhalb eines Systems von Konzepten und Begriffen zu argumentieren, die meist das Männliche bevorzugen.

Und auch Spuren der beiden neuplatonischen Strategien zur Argumentation für das gleiche Potential zur Vortrefflichkeit lassen sich in gegenwärtigen Debatten finden. Heute wie damals spielt das Idealbild der Frau, die in Domänen aktiv ist, die ursprünglich männlich besetzt waren (z.B. in den MINT-Fächern), eine Rolle im Diskurs um die Gleichheit der Geschlechter. Ein Unterschied besteht sicher darin, dass man heute zumeist nicht argumentieren würde, dass sich Frauen in MINT-Berufen vermännlichen – dies würde sogar eher abschätzig wirken –, sondern dass man bestrebt ist, die Assoziierung der MINT-Fächer mit dem Männlichen aufzuheben. Doch auch so gedreht hat dieser Ansatz mit dem neuplatonischen Ideal der Vermännlichung das Problem gemeinsam, dass die Gefahr besteht, die ursprünglich weiblich konnotierten Tätigkeiten weiter zu marginalisieren. Wenn die Fokussierung auf die Karriere in MINT-Fächern oder in der Wirtschaft zu einem Ideal für Männer wie Frauen wird, wer kümmert sich dann um die weiterhin benötigte Fürsorgearbeit und schafft den dort tätigen Menschen die nötige Anerkennung?

Als Ergänzung bietet sich auch in der heutigen Gleichstellungsdebatte ein Ideal an, dass danach strebt, vormals weiblich konnotierte Bereich, insbesondere die (familiäre) Fürsorgearbeit, aufzuwerten und für beide Geschlechter attraktiv zu machen. In Schlagworten wie „work-life-balance“ oder „Vereinbarkeit“ findet sich das Ideal, dass Männer wie Frauen ihren beruflichen Ambitionen folgen können und dennoch Raum haben, für andere Menschen da zu sein, sei es im eigenen Haushalt oder innerhalb größerer Gemeinschaften – ein bisschen vielleicht wie Diotima und Sokrates, die ihr Leben der theoretischen Schau widmen, doch auch in das involviert sind, was man heute als Erziehungs- oder Fürsorgearbeit bezeichnen würde.


Dieser Blogbeitrag beruht zum Teil auf meinem Aufsatz „Die proklische Diotima – Philosophie, Religion und das Weibliche“, in Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 22 (2019). Das Jahrbuch erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2020.

Jana Schultz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für die Philosophie der Antike und Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin.


[1] Diotima ist eine Figur aus Platons Symposium. In dieser Schrift erzählt Sokrates, wie er als junger Mann von der Priesterin Diotima in die Kunst eingeweiht wurde, durch den Eros zur Schau der Idee der Schönheit zu gelangen. Proklos bezieht sich in verschiedenen Schriften, insbesondere in seinem Kommentar zu Platons Alcibiades I auf Diotima. Anders als heutige Interpreten zweifelt Proklos nicht daran, dass Diotima, ebenso wie die anderen Figuren in Platons Dialogen, eine historische Persönlichkeit ist. Für eine Diskussion bezüglich Diotimas Historizität siehe z.B. Mary E. Waithe, „Diotima of Mantinea“, in Mary E. Waithe (ed.), A History of Women Philosophers. Vol 1. Ancient Women Philosophers: 600 B.C.-500 A.D. (Dodrecht 1987), 96-107.

[2] Eine ähnliche Dynamik wird von G. Roskam in „Socratic Love in Neoplatonism“, in D. A. Layne und H. Tarrant (eds.), The Neoplatonic Socrates (Pennsylvania 2014), 21-36, hier 28 in Bezug auf Sokrates und Phaidros in Hermeias’ In Platonis Phaedrum Scholia 19, 1-9 beschrieben.