Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Was kann philosophische Reflexion im Rahmen der COVID-19-Pandemie leisten?
Von Johannes Drerup (TU Dortmund/VU Amsterdam) und Gottfried Schweiger (Salzburg)
Die COVID-19-Pandemie hat unseren Alltag innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf gestellt. Das soziale und wirtschaftliche Leben wurde für einige Wochen auf ein Minimum reduziert, Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen und Hochschulen wurden geschlossen. Die Familie ist dadurch (wieder) zum zentralen Lern- und Lehrort geworden, zum räumlichen Mittelpunkt des beruflichen und sozialen Lebens vieler Menschen. Das stellt Familien und die Bildungseinrichtungen vor besondere Herausforderungen. Eltern mussten Homeschooling, Kinderbetreuung und Home Office unter einen Hut bringen.[i] Von der Hilfe durch Großeltern und andere Verwandte, die nicht im selben Haushalt wohnen, wurde mit guten Gründen abgeraten. Die größte Last dieser Umstellungen hatten Frauen, insbesondere Mütter, zu tragen. Lehrer*innen standen unter dem Druck, oft ohne medientechnologische Ausbildung und ohne Vorlaufzeit Lernmaterialen neu zu planen und zur Verfügung zu stellen. Die technischen Mittel dafür sind aber nicht in allen Schulen und auch nicht in allen Familien ausreichend vorhanden. Es ist daher zu erwarten, dass ohnehin schon bestehende Bildungsungleichheiten sich als eine Folge der COVID-19 Pandemie vergrößern und verfestigen. Die Situation in manchen Familien war und ist prekär. Eltern wurden arbeitslos oder in Kurzarbeit geschickt und kämpfen nun mit Zukunftsängsten. Gewalt gegen Frauen und Kinder, so eine gängige und plausible Annahme, nimmt in Familien zu und das in einer Zeit, wo der Kontakt zu Vertrauenspersonen, Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen reduziert oder gänzlich eingestellt wurde.
In diesem Kontext stellen sich eine ganze Reihe von wichtigen bildungsphilosophischen, erziehungswissenschaftlichen und familienethischen Fragen. Wie sind z.B. die aktuellen Entwicklungen aus Sicht der Debatte über Bildungsgerechtigkeit zu bewerten? Welche Folgen könnte die Krise für die Beziehungen zwischen den Generationen haben? Wie können Lehrer*innen auf die neuen Herausforderungen reagieren, welchen Beitrag können sie leisten, um die Zeit der Krise zu bewältigen? Wie steht es mit anderen Formen der Sorgearbeit, insbesondere im Umgang mit besonders vulnerablen Gruppen? Was kann (politische) Bildung in diesen Zeiten bedeuten, kann die Krise nur als Störfaktor oder auch als Chance gesehen und genutzt werden? Was bedeutet dies konkret für Familien, Eltern und Kinder und wie können sie in Zukunft angemessen unterstützt werden?
Bei der angemessenen Beantwortung dieser Fragen geht es auch darum auf Basis der gemachten Erfahrungen in die Zukunft zu blicken und aus begangenen Fehlern zu lernen, sowie dasjenige, was gelungen ist, weiterzuentwickeln. Zugleich muss klar sein, dass mit Bezug auf diese Fragen und Probleme selbstverständlich keine Patentrezepte und auch nur in eher seltenen Fällen konkrete Handlungsempfehlungen durch die akademische Philosophie oder die Erziehungswissenschaften zu erwarten sind. Selten, so scheint es, waren die Grenzen unseres Wissens und auch die Probleme im Umgang mit Nichtwissen größer als heute und selten war es schwieriger, auch nur halbwegs empirisch informierte Zeitdiagnosen vorzulegen. „So viel Wissen“, so Jürgen Habermas, „über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie“.[ii] So können derzeit viele der anstehenden relevanten normativen Fragen z. B. bezüglich der Abwägung von Gütern und Prinzipien ohne empirisch hinreichend abgesicherte Diagnosen und Prognosen der Folgen von (bildungs‑)politischen Entscheidungen kaum bzw. nur sehr schwer angemessen beantwortet werden. Auch deshalb ist Skepsis geboten bezüglich prätentiösen, zeitdiagnostisch ambitionierten Deutungen, deren Fallstricke und Risiken auch in teilweise ressentimentgeladenen öffentlichen Äußerungen von Philosoph*innen festzustellen sind[iii], die gegenwärtige Zustände nur als Bestätigung ihrer vorgefassten kulturkritischen Vorurteile deuten. Insbesondere aus historischer Perspektive scheint es zudem eher unplausibel und voreilig, anzunehmen, dass wir es heute mit einer historischen Singularität zu tun haben[iv], und es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, ob wir es tatsächlich mit einer epochalen weltgeschichtlichen Zäsur zu tun haben. Zugleich kann und sollte man, trotz aller berechtigten Skepsis gegenüber zeitdiagnostischen Schnellschüssen, dazu beitragen, sich abzeichnende Problemvorgaben und -felder systematisch zu bearbeiten[v], und Vorschläge zu machen, wie die Ereignisse aus wissenschaftlicher und philosophischer Sicht zu beschreiben und einzuordnen sind.
Bei allen mehr oder weniger begründeten und berechtigten Befürchtungen und Spekulationen[vi] über die Auswirkungen der aktuellen Krise darf außerdem nicht aus dem Blick geraten, dass wir es in vielen Fällen nicht so sehr mit radikal neuen Problemen, sondern eher mit Problemkontinuitäten zu tun haben, die sich im Ausnahmezustand – ein Begriff mit politisch fragwürdigen Konnotationen, die auf seine Prägung und Verwendung durch Carl Schmitt zurückzuführen sind[vii] – auf spezifische Art und Weise manifestieren. Die ungleiche Verteilung der Last der Kinderbetreuung zwischen den Geschlechtern, die prekären Lebens- und Lernverhältnisse in benachteiligten Familien, die häusliche Gewalt, die sich in ökonomischen Stresssituationen eher Bahn bricht, oder die Überforderung der Schulen und Bildungseinrichtungen alle Kinder gleichermaßen gut zu erreichen und zu fördern, wurden durch die COVID-19 Pandemie besonders sichtbar, sie sind aber durch diese in der Regel nicht erzeugt sondern nur verstärkt worden. Und auch gerade in der aktuellen Krisensituation zeigen rechtspopulistische und -autoritäre Politiker*innen aus der Sicht ihrer Kritiker oftmals deutlicher ihr ‚wahres Gesicht‘, wenn sie den Ausnahmezustand und die damit verbundenen Ängste für die Durchsetzung der eigenen Agenda nutzen, rassistische Vorurteile bedienen – auch das ist historisch nichts Neues – und aus politischem Kalkül geballte Irrationalitäten unter das ‚Volk‘ bringen, das zu vertreten, sie advokatorisch beanspruchen. So schien der brasilianische Präsident Bolsonaro die Debatte über das Virus als eine Art Witz abtun zu wollen – ‚eine kleine Erkältung‘–, Vertreter*innen der hindunationalistischen BJP – und das ist leider kein Witz – empfahlen den indischen Bürger*innen als probates Mittel gegen das Virus Kuhurin zu trinken und Trump hatte bekanntlich die Idee, dass man sich ggf. Desinfektionsmittel spritzen könne. Diese real-satirisch anmutenden Äußerungen, die jedoch ebenso wie derzeit kursierenden Verschwörungstheorien reale politische Folgen haben[viii], sind nicht nur blanker Hohn für die Opfer der Pandemie, sie zeigen auch an, vor welchen Problemen und Herausforderungen liberale Demokratien im Allgemeinen und (politische) Bildung im Besonderen vor, nach und während des Ausnahmezustands stehen. In jedem Fall scheinen diese Entwicklungen im Umgang mit dem Virus eine Sichtweise zu stützen, die Odo Marquard – Carl Schmitts Ausführungen zum Ausnahmezustand souverän persiflierend – auf die Sentenz gebracht hat: „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet“.[ix]
Der Band „Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Philosophische Reflexionsangebote zur COVID-19-Pandemie“ (herausgegeben von Johannes Drerup und Gottfried Schweiger) beschäftigt sich mit diesen und verwandten Fragen und ist gerade in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen. Dieser Band versammelt kurze Beiträge ausgewiesener Expert*innen aus Philosophie und Erziehungswissenschaft. Sie reflektieren über Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand mit Blick auf die Gegenwart der Pandemie und die Zukunft danach. Der Band richtet sich an Eltern, Lehrer*innen, Menschen, die mit Familien und Kindern arbeiten, und an alle, die sich für philosophische Fragen zu den Themen Kindheit, Bildung und Erziehung interessieren.
Website des Buches: https://www.wbg-wissenverbindet.de/16885/bildung-und-erziehung-im-ausnahmezustand
Literatur
Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey, Sie haben noch etwas zu sagen, in: FAZ, 27.05.2020, N3.
Horst Carl, Pandemie und Hexenverfolgung als Versicherheitlichung, in: Soziopolis, online unter: https://www.soziopolis.de/beobachten/gesellschaft/artikel/pandemie-und-hexenverfolgung-als-versicherheitlichung/ (Letzter Zugriff am 01.06.2020).
Jared Diamond, Upheavel. How Nations Cope With Crisis and Change, Allen Lane (2019).
Klaus Dörre, Nicht jede Krise ist eine Chance, in: Jacobin Magazin, online unter: https://jacobin.de/artikel/klaus-dorre-corona-krise-chance/ (Letzter Zugriff am 01.06.2020).
Johannes Giesinger, Wenn Fernunterricht zu Homeschooling wird: Bildungsgerechtigkeit und elterliche Pflichten, online unter: https://praefaktisch.de/bildung/wenn-fernunterricht-zu-homeschooling-wird-bildungsgerechtigkeit-und-elterliche-pflichten/#more-1831 (Letzter Zugriff am 01.06.2020).
Jürgen Habermas, Jürgen Habermas über Corona: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“,In: Frankfurter Rundschau, online unter: https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/juergen-habermas-coronavirus-krise-covid19-interview-13642491.html (Letzter Zugriff am 01.06.2020).
Naomi Klein, Screen New Deal, online unter: https://theintercept.com/2020/05/08/andrew-cuomo-eric-schmidt-coronavirus-tech-shock-doctrine/ (Letzter Zugriff am 01.06.2020).
Albrecht Koschorke, Aus Berührung wird Rührung, in: DIE ZEIT vom 20.05.2020, 52.
Meira Levinson, Educational Ethics During a Pandemic, online unter: https://ethics.harvard.edu/files/center-for-ethics/files/17educationalethics.pdf (Letzter Zugriff am 01.06.2020)
Pankaj Mishra, Get Ready, a Bigger Disruption is Coming, online unter: https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2020-03-16/coronavirus-foreshadow-s-bigger-disruptions-in-future (Letzter Zugriff am 01.06.2020)
Nikil Mukerj/Adriano Mannino, Covid-19: Was in der Krise zählt, Stuttgart: Reclam (2020).
Martina Renner/Sebastian Wehrhahn, Die neue Rechte: Corona als Tag X, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5 (2020), 41–44.
Albrecht von Lucke, Demokratie in der Bewährung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5 (2020), 89–99.
Lothar Wigger/Barbara Platzer/Carsten Bünger, Nach Fukushima- Zur erziehungs- und bildungstheoretischen Reflexion atomarer Katastrophen, Bad Heilbrunn: Klinkhardt (2017).
[i] Hierzu: Giesinger 2020. Der Begriff des Homeschoolings, hierauf weist Giesinger und auch Stojanov in dem aktuellen Band hin, wird in der Debatte auf irreführende Art und Weise genutzt, da er, so Stojanov, „traditionell eigentlich eine in Deutschland nicht zulässige Alternative zur Beschulung der Kinder darstellt, bei der sie überhaupt nicht an öffentlichen oder privaten Schulen angemeldet werden, sondern ausschließlich zuhause von ihren Eltern unterrichtet werden.“
[ii] Habermas 2020.
[iii] Hierzu: Amlinger/Nachtwey 2020.
[iv] Carl 2020.
[v] So z. B. hierzu die Beiträge auf dem Blog praefaktisch: https://praefaktisch.de/covid-19; sowie aus risikoethischer Perspektive: Mukerji/Mannino 2020; aus der Perspektive pädagogischer Ethik: Levinson 2020, aus bildungs- und erziehungstheoretischer Perspektive: Wigger/Platzer/Bünger 2017.
[vi] Z. B. Mishra 2020; Klein 2020; sowie die Kritik von Dörre 2020.
[vii] Hierzu: von Lucke 2020.
[viii] Renner/Wehrhahn 2020.
[ix] Marquard, zitiert nach von Lucke 2020, 96.