Hegel für uns

Von Christine Weckwerth (Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften)


Hegels zweihundertfünfzigster Geburtstag ist ein, wenngleich rein biographischer Anlass zu fragen, wie wir es mit diesem Klassiker der deutschen Philosophie denn halten. Beginnt mit seiner Philosophie die kritische Selbstvergewisserung der Moderne oder ist sie als ein gescheitertes Theorieprogramm anzusehen? Ein Streitpunkt zwischen Hegelfreunden und Hegelgegnern bis in die Gegenwart. Bezeichnend ist, dass der Jubilar vor einer Problemlage steht, die der unsrigen ähnelt. Am Beginn seines philosophischen Werdeganges sieht er sich einer umfassenden kulturellen Krise gegenüber, die er auch als einen Dualismus zwischen subjektiver und objektiver Welt umschreibt. Zu dieser Einsicht hatten die Desillusionierungen nach der Französischen Revolution wie die sich durchsetzende kapitalistische Organisation der Wirtschaft beigetragen. Symptomatisch spricht Hegel von einer „Tragödie im Sittlichen“, die sich als Metapher für eine durch soziokulturelle Ausdifferenzierung der Gesellschaft erzeugte Abtrennung der Individuen vom Gemeinwesen interpretieren lässt. Angesichts der prognostizierten Klimakatastrophe, Wirtschaftskrisen, sozialer Ungleichheit wie anhaltender Kriege erscheint auch uns die Welt als eine fremde und Hegels Zeitdiagnose zutreffend. Parallelen zeigen sich ebenso in intellektueller Hinsicht. Der von ihm konstatierte Dualismus zwischen einem Objektivismus auf der einen und einem die Persönlichkeit generalisierenden Subjektivismus auf der anderen Seite tritt in der Gegenwartsphilosophie in vorherrschenden objektivistischen (Szientismus, Naturalismus) und subjektivistischen, normativen Ansätzen zutage, in denen entweder das Subjekt oder die Natur und geschichtliche Welt ausgeklammert werden. Im Gegenzuge dazu hat sich eine medial präsente, populäre Philosophie herausgebildet, die das steinige Gelände (nach)meta­physi­scher Problembewältigung bewusst umgeht, um sich Themen der richtigen Lebensgestaltung zuzuwenden. Nicht zuletzt die Lage der Gegenwartsphilosophie ist ein Anlass nach dem Hegel’schen Ausweg aus der Krise zu fragen.

Im Bestreben, den intellektuellen Dualismus seiner Zeit zu überschreiten, beabsichtigt der junge Hegel zwischen subjektiven und objektiven Gehalten zu vermitteln. Es gelte, wie er in seiner Differenzschrift von 1801 hervorhebt, „die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben, und das Gewordenseyn der intellektuellen und reellen Welt, als ein Werden, ihr Seyn als Produkte, als ein Produciren zu begreiffen. (1) Er erkennt der Philosophie die Aufgabe zu, die sich dem Alltagsbewusstsein in Gestalt verselbstständigter Gegensätze zeigende Welt als eine geschichtlich gewordene zu begreifen, um die heterogenen natürlichen und soziokulturellen Prozesse in ihren Zusammenhängen zu denken. In Distanzierung von der Transzendental- und Gefühlsphilosophie verlagert er den Schwerpunkt auf die geschichtlich-kulturellen Objektivationen des Geistes. Beginnend in seinen Jenaer Systementwürfen reflektiert er elementare subjektive Verhaltensmuster (Vernichten, Arbeiten, Lieben und Sprechen) im Hinblick auf ihre reellen Mittenbildungen (Werkzeug, Kind/Familie, Sprache, Wirtschaft, Recht, Staat, Kunst, Religion, Philosophie) und situiert diesen Prozess in der Geschichte der Menschheit. Die fundamentalen Codes einer Kultur, um mit Foucault zu sprechen, bilden für Hegel geschichtlich entstandene Vermittlungen, in denen sowohl subjektive Interessen, Absichten, Wünsche, Praktiken als auch natürliche, gegenständliche Komponenten eingeflossen sind. In der Tradition der Subjektphilosophie fasst er die kulturellen Mittenbildungen unter dem Schema einer Objektivierung, das ein Sich-Anders-Werden sowie zugleich ein Zu-sich-Kommen im Anderssein einschließe. Über ihre gegenständlichen Realisationen gelangen die Menschen bzw. der Geist ihm zufolge zum Bewusstsein ihrer selbst, was in adäquater Form durch die philosophische Reflexion erfolge. Die Philosophie avanciert bei ihm damit zur ausgezeichneten Wissens- und Versöhnungsform in der Moderne, wie der Schlüssel zur Freiheitsfrage in einer institutionell sich verkörpernden Intellektualität gelegt wird. Abgesichert wird das ganze Geschehen bei Hegel durch den Geist, der als ein außer der Zeit stehendes, logisch strukturiertes Subjekt für einen positiven Ausgang sorgt – am Ende kommen die Menschen bzw. der Geist in der Welt bei sich selbst an.

Der Hegel’schen Antwort auf die intellektuelle Krise seiner Zeit lassen sich verschiedene Perspektiven entnehmen. Man kann darin eine Vergeistigung der Wirklichkeit sehen, mit der die Abgründe der faktischen Welt hinter den logischen Begriffen zum Verschwinden gebracht werden. Im Gegenzuge dazu lässt sie sich auch als Ansatz deuten, das philosophische Wissen in geschichtlichen Sozialisierungs- und Vergegenständlichungsprozessen zu verankern. Beide Anknüpfungspunkte besitzen Anziehungskraft. In diesem Statement interessiert der zweite Punkt. Sich dem Problem der Mittenbildungen zuwendend, steht Hegel vor der Frage, wie die Philosophie zu ihren Kategorien und kategorialen Zusammenhängen kommt, wenn ihr Gegenstand, die faktischen Sozialisierungs- und Vergegenständlichungsprozesse, nicht aus der reinen Vernunft bzw. dem Selbstbewusstsein abzuleiten sind. Die Geschichte ist für ihn ein das Logische überschreitender Ort permanenter Verkehrungen und Entzweiungen, wo aus dem Handeln der geschichtlichen Akteure unbeabsichtigte Folgen hervorgehen – die Folgen seiner Taten sind ihm nicht seine Taten selbst, wie Hegel bezogen auf das Bewusstsein bemerkt. In seiner „Phänomenologie des Geistes“, an der er noch während des Einmarsches der Napoleonischen Truppen in Jena schrieb, löst er die Wissensfrage auf, indem er die Philosophie auf heterogene Erfahrungen des in die geschichtlichen Vermittlungsprozesse involvierten, natürlichen Bewusstseins begründet. Auch auf der epistemologischen Ebene bezieht er sich damit auf eine Entität, in der subjektive und objektive Strukturierungsmomente vermittelt sind. Das natürliche Bewusstsein zeichnet sich seiner Bestimmung nach durch eine direkte Gerichtetheit (intentio recta) aus, bei der es die Welt so nehme, wie sie sich ihm unmittelbar zeige. Diese Einstellung findet sich ihm zufolge auf allen soziokulturellen Ebenen, wobei das Wissen wie sein entsprechender Gegenstand jeweils generalisiert werden. Unter (dialektischer) Erfahrung versteht Hegel den Prozess, in dem eine Diskrepanz zwischen Wissen und Gegenstand wahrgenommen wird – wenn das, was als ein Sein an sich erschien, sich zu einem Sein für uns relativiert. Daraus entspringe eine neue Wissens- und Gegenstandsform, die im Weiteren einem erneuten Umkehrprozess ausgesetzt sei. Solche Diskrepanzerfahrungen treten ihm zufolge etwa auf, wenn die sinnliche Gewissheit als eine verschwindende Wahrheit, die positiv erfahrene Billigkeit und Ehrlichkeit als gegenseitiger Betrug oder der religiöse Kultus als ein fremd gewordenes Gerüst äußerlicher Existenz, Sprache und Tradition erlebt wird. Prägende geschichtliche Erfahrungen bilden in seiner „Phänomenologie“ ebenfalls der als tragisch aufgefasste Untergang der griechischen Sittlichkeit, die an das römische Reich festgemachte Konstitution des Privatrechts, mit der das „Chaos der geistigen Mächte“ entfesselt werde, oder auch der in der Französischen Revolution erfolgte Umschlag des Allgemeinwillens in den Terror einer Minderheit. Auf Basis dieser und anderer Erfahrungen entwirft Hegel ein vielschichtiges Spektrum von zum An-sich-Sein gebogener Für-uns-Welten, vermittels dem die Philosophie die Wirklichkeit in immer komplexeren Zusammenhängen erschließt.

In seiner, hier nicht weiter auszuführenden phänomenologischen Programmatik liegt der folgenreiche Gedanke, wonach die Philosophie eigens im Nachvollzug solcher Negativerfahrungen zu einem wahren Wissen gelangt; erst alle heterogenen Erfahrungen zusammengenommen machten die Wirklichkeit in ihrem an und für sich Sein zugänglich, was entgegen seiner Auffassung ein unabschließbarer Prozess ist. Was kann die Gegenwartsphilosophie von seiner phänomeno­logischen Wende der nachkantischen Philosophie lernen? Zum einen, dass sie ihr Wissen nicht allein aus philosophischen Texten oder einer bloßen Revision ihrer sprachlichen und logischen Mittel erlangen kann. Will sie die geschichtliche Wirklichkeit und unser Dasein darin begrifflich einholen, muss sie soziokulturelle Erfahrungen zurate ziehen, die die rational-argumentative Perspektive überschreiten. Ohne Berücksichtigung pluraler Erfahrungsebenen lassen sich insbesondere existenzielle Ereignisse wie Krieg, Hunger, Krankheit, Migration oder Diskriminierung nicht angemessen denken. Dazu muss die Philosophie nicht selbst alltagspraktisch, spirituell, literarisch, moralisch, pädagogisch oder praktisch-politisch werden; ihr Bezugspunkt sind vielmehr die den heterogenen Erfahrungsebenen innewohnenden reflexiven Momente. Zum anderen kann die Gegenwartsphilosophie daraus eine kritische Funktion beziehen: Sie hat sich gegenüber generalisierten Wissensformen und verselbstständigten gesellschaftlichen Teilprozessen kritisch und relativierend zu verhalten, um diese als reelle Momente der geschichtlichen Wirklichkeit im Sinne einer widersprüchlichen Ganzheit zu denken. Dieser Aufgabe kann sie Hegels phänomenologischem Konzept zufolge nur gerecht werden, wenn sie ihr Wissen gleichfalls auf Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts, etwa auf die großen Wirtschaftskrisen, das Umschlagen des demokratischen Verfassungsstaates in Totalitarismus, den Untergang des Realsozialismus, das Erstarken religiöser Bewegungen wie deren politische Instrumentalisierung oder auch auf die Verselbstständigung digitaler Datenströme, begründet. Eingeschlossen darin ist die Einsicht, dass die Wirklichkeit, wie sie dem Gleichgewichtstheoretiker, dem Anhänger des Liberalismus und Marxismus, dem Fundamentalisten wie dem nach Autorität rufenden Islamgegner oder auch dem die Welt als kontrollierbares Digitalisat nehmenden Computerspezialisten erscheint, nicht mit dem reellen Weltlauf identisch ist. In diesen Diskrepanzen scheinen zugleich die wesentlichen Bestimmungen und Zusammenhänge der geschichtlichen Welt und unseres Wirkens darin auf. Ein solches, an Erfahrung gesättigtes Wissen hindert heute allerdings eher, in der faktischen Welt bei sich anzukommen und leitet zur Frage nach ihrem Anderswerden über – eine Einsicht, die bereits die kritische Generation nach Hegel oder später auch der Pragmatismus gewonnen hat.


Christine Weckwerth ist an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften tätig, wo sie zunächst den Nachlass von Ludwig Feuerbach edierte. Seit 2005 wirkt sie dort an der Marx-Engels-Gesamtausgabe mit, wo sie u.a. an der Neuedition der „Deutsche Ideologie“ von Marx und Engels mitgearbeitet hat. Sie hat zu Themen des Deutschen Idealismus, der nachhegelschen Philosophie, insbesondere zu Feuerbach, Marx und Bruno Bauer, wie zu Fragen der Anthropologie publiziert.


Anmerkungen

1) G. W. F. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinholds Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustandes der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Hamburg 1968, S. 14.

2) Siehe auch Ch. Weckwerth: Metaphysik als Phänomenologie. Eine Studie zur Entstehung und Struktur der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“, Würzburg 2000; dies.: Zwischen Scheinkritik und Absolutheitsanspruch – zur Eigentümlichkeit der philosophischen Wissensbildung in Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Objektiver und absoluter Geist nach Hegel, hrsg. von Th. Oehl, A. Kok, Leiden, Boston 2018, S. 98-120.