Bildung und absolutes Wissen im Zeitalter der Klimakatastrophe
Von Oliver Toth (Graz)
Hegels Philosophie des Geistes porträtiert einen idealen Bildungsvorgang: Der Weg des Geistes zu seiner vollständigen Selbsterkenntnis mündet gemäß Hegels Darstellung in der Phänomenologie des Geistes in absolutes Wissen. Hier soll es um die Frage gehen: Hat seine Konzeption von absolutem Wissen heute – 250 Jahren nach Hegels Geburt und angesichts der Klimakatastrophe – noch Aktualität? Meine These lautet: die Klimakrise fordert die Philosophie nach Hegel heraus, sich mit den eigenen bildungsbezogenen Voraussetzungen auseinanderzusetzen.
Die Geschichtlichkeit absoluten Wissens
Machen wir erst einen Schritt zurück und fragen: Worin besteht absolutes Wissen, das sich am Ende der Entwicklungsgeschichte des Geistes entfalten soll? Meint Hegel damit eine Form der Allwissenheit? Keineswegs. Entgegen einer weit verbreiteten Lesart bezeichnet damit Hegel nicht allumfassendes Wissen, sondern unbedingtes Wissen oder von allen subjektexternen Voraussetzungen abgelöstes Wissen. Die Phänomenologie skizziert eine Entstehungsgeschichte der Erkenntnis, die sich zugleich als die idealisierte Beschreibung einiger historischer Ereignisse und als ein Muster für die Entwicklung des individuellen Geistes lesen lässt.
Fortschritt in dieser Geschichte erfolgt als Überwindung von Widersprüchen im Sinne Hegels. Dazu stellt Hegel seine philosophische Auslegung der Antigone vor. In der Tragödie von Sophokles geht es um den Streit zwischen Antigone und Kreon über die Beerdigung von Polyneikes, dem Bruder Antigones. Kreon, der Tyrann der Stadt, verbot die Bestattung, da Polyneikes gegen seine eigene Stadt gekämpft hatte. Antigone beerdigte ihn trotzdem und verwies darauf, dass es ein göttliches Gesetz sei, die Toten zu bestatten.
Laut Hegel geht es hier um keinen Konflikt zwischen Gewissen und Politik, sondern um die Unbestimmtheit des verwendeten Begriffs von „Gesetz“. Kreon und Antigone hätten nämlich noch ein Begriff vorausgesetzt, der sowohl das göttliche wie auch das menschliche Gesetz umfasst. Für sie verbietet das Gesetz die Bestattung und schreibt sie gleichzeitig vor. Beide Überzeugungen – im Falle von Antigone, dass es richtig sei, Polyneikes zu beerdigen, und im Falle von Kreon, dass es falsch sei, Polyneikes zu beerdigen – lassen sich durch diese Begrifflichkeit rechtfertigen. Die Überwindung des Widerspruchs im hegelschen Sinne erfolgt, wenn der Begriff des Gesetzes und dadurch das Denken über das Gesetz differenzierter wird, was natürlich zur Folge hat, dass sich die gesellschaftliche Praxis dementsprechend ebenfalls verändert.
Um solche Widersprüche aufzuheben, muss das Subjekt die eigene Denkweise überprüfen. Es stellt fest, dass seine scheinbar einfache und selbstverständliche erkenntnistheoretische Position komplex und voraussetzungsreich ist. Diesen Voraussetzungen hat das Subjekt aber nicht bewusst zugestimmt, sie bilden „nur“ externe Bedingungen seines Denkens. Erst nach einer Reihe solcher Entdeckungen von Voraussetzungen und den darauffolgenden Verwandlungen der intersubjektiven Handlung kann der Geist einen Zustand erreichen, in dem keine weiteren Entdeckungen möglich sind, da alle Voraussetzungen explizit gemacht wurden. Dieser Zustand ist kein Zustand der Allwissenheit, sondern ein reflexiver Zustand, in dem Erkenntnis möglich ist: das Subjekt ist in der geistigen und gesellschaftlichen Lage, Aussagen zu formulieren und Urteile zu treffen, deren begriffliche Voraussetzungen und damit deren volle Bedeutung ihm zugänglich sind. Es ist dieser Zustand einer selbständigen und transparenten Urteilsfähigkeit, der von Hegel als absolutes Wissen bezeichnet wird.
Dass die Bedeutung der Begriffe erst im Zustand absoluten Wissens vollständig einsichtig ist, setzt einen historischen Prozess voraus. Deshalb kann man dem Anfänger absolutes Wissen nicht direkt einpflanzen, sondern bedarf einer Reihe von Versuchen. Nur durch immer komplexere Lösungen zu Erkenntnisproblemen kann das Subjekt den wahren Gehalt der von ihm immer schon verwendeten Begriffe erkennen. In diesem Sinne kann absolutes Wissen nur als Produkt einer Geschichte der Versuche entstanden sein.
Bildung und die Verwirklichung des Geistes
Dieser Prozess spielt nicht nur bei der Bildung des Individuums eine Rolle, sondern hat mit Blick auf die Gesellschaft eine politische Dimension. Nur wer dem weltgeschichtlichen Weg des Geistes im eigenen Denken nachgegangen ist, kann nach Hegel frei, das heißt von keiner unerkannten Voraussetzung beeinflusst, handeln. Und nur eine solche freie Handlung kann als vernünftig in dem Sinne, dass sie von internen Gründen und nicht von externen Ursachen bestimmt ist, gelten.
Wenn also eine Gesellschaft den Anspruch hat, vernünftig zu handeln und vernünftige Entscheidungen zu treffen, muss sie sicherstellen, dass ihre Bürger die richtige Bildung bekommen und den Zustand absoluten Wissens erreichen. Ungebildete Bürgerinnen und Bürger – so der elitäre Ansatz Hegels – mögen zwar manchmal die richtige Entscheidung treffen, aber sie können sie nicht aus den richtigen Gründen getroffen haben, da ihnen die Gründe unnachvollziehbar bleiben.
Wichtig ist auch zu sehen, dass das, was Hegel als absolutes Wissen bezeichnet, keineswegs ein tatsächlicher Zustand der Gesellschaft ist, der bisher erreicht worden wäre. Hegel behauptet weder, dass seine Gesellschaft noch irgendeine andere Gesellschaft je den absoluten Geist verwirklicht hätte und vernünftig eingerichtet war. Die Institutionen aller historisch existierenden Gesellschaften waren und sind zu einem großen Teil unvernünftig aufgebaut und diese Tatsache verhindert die freie Entscheidung der Individuen, so der pessimistische Schluss Hegels. Es gibt aber auch einen Aspekt, der zum Optimismus Anlass gibt: die theoretische Erreichbarkeit absoluten Wissens bietet der modernen Gesellschaft die Chance, vernünftig zu handeln.
Klimakatastrophe und Weltgeschichte
Wie befriedigend ist diese Diagnose und die in ihr angedeutete Hoffnung auf Verbesserung heute, angesichts brennender Wälder in Kalifornien, schmelzender Gletscher der Alpen, zunehmenden Hungers und drohender Wirtschaftskrise? Kann man in Anbetracht der Zerstörung der Grundlagen unserer Existenz noch daran glauben, dass wir für die richtige Handlung vor allem mehr Bildung brauchen? Um diese Frage zu klären, muss man erst einmal erörtern, ob Naturkatastrophen wie die Klimawandel geschichtliche Ereignisse im hegelschen Sinne sind oder nicht.
Von der hegelschen Perspektive ist die Antwort vorerst negativ. Laut ihrer Definition sind weltgeschichtliche Ereignisse nur jene, die eine Auswirkung für die gesellschaftlich situierte erkenntnistheoretische Möglichkeit, die begrifflichen Voraussetzungen unseres Denkens und unserer Handlungen zu erkennen, haben. Die Klimakatastrophe an sich hat keine solche Auswirkung. Wenn sie uns aber in den Abgrund reißt, hat allerdings eine solche Auswirkung. Wenn der Klimawandel Institutionen der Bildung zerstört und die Überlieferung von Philosophie verhindert, dann hat auch sie eine solche Auswirkung, da es ohne diese Institutionen und ohne diese Überlieferung den Individuen nicht möglich ist, den Zustand absoluten Wissens zu erreichen.
Ist die Philosophie des Heute eine Philosophie für das Morgen?
Was kann die Philosophie nach Hegel in dieser Situation tun? Kann sie die Bildungsinstitutionen in den Diensten der Aufklärung über Voraussetzungen und Begriffsverständnisse, und damit der eignen Überlieferung, bewahren? Direkt kann sie keine politische Verantwortung übernehmen, aber sie kann dafür eintreten, dass die Möglichkeit der Bildung in einem hegelschen Sinne fortbesteht und absolutes Wissen im Prinzip erreichbar bleibt. Vor diesem Hintergrund muss man überlegen, ob die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmen, in denen Philosophie heute betrieben wird, zur philosophischen Bildung auch in der Zukunft geeignet sein werden.
So wie Philosophie heute an Universitäten und Forschungsinstitutionen betrieben wird, erreicht sie Menschen in anderen Bildungsinstitutionen selten. Ihre Resultate bestehen in Aufsätzen und Monografien, manchmal in an das ausgebildete Publikum gerichteten Magazinartikeln und Büchern. Es ist aber nicht auszuschließen, dass diese Bildungseinrichtungen, so wie wir sie heute kennen, Vergangenheit werden, wenn die sie ermöglichende Gesellschaft und Umverteilung der Güter vorbei sind. Die Herausforderung ist, dass die Philosophie, sollten diese Entwicklungen eintreten, sich ändern muss. Die für das Absolvieren der heutigen philosophischen Curricula benötigte Zeit könnte bald nicht mehr zur Verfügung stehen. Es kann durchaus sein, dass wir nicht nur philosophisch, sondern auch philosophiehistorisch vor einem Bruch stehen, den wir noch nicht antizipieren können.
Analogien für eine solche Umwandlung haben wir aus der Geschichte, zum Beispiel im Übergang von der Antike auf das Mittelalter. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung wurde die römische Kultur nicht durch die Einwanderung von sogenannten Barbaren zerstört, sondern ging aufgrund einer Verschiebung der Anreize am „Arbeitsmarkt“ unter: in dem Moment, in dem eine durch literarische Leistung erworbene kaiserliche Beamtenstelle weniger einbrachte als eine durch martialische Taten erworbene Feldherrnposition, ging das Interesse an der klassischen römischen Bildung zurück. Das heißt nicht, dass die Feldherren weniger Bedürfnis an der philosophischen Ausbildung als ihre Vorfahren gehabt hätten, sondern nur, dass sie ihre Zeit vor dem Hintergrund dieser Anreize anders einsetzten. Dass diese philosophischen Bedürfnisse weiterlebten, zeigt sich etwa daran, dass Boethius (unter anderen) die antike Philosophie in die Mittelalter tradierte.
Es könnte sein, dass sich die Bedürfnisse der Gesellschaft in der Zukunft rasch ändern werden, nicht in die Richtung von weniger, sondern in die Richtung einer anderen Philosophie. Vor diesem Hintergrund ist eine Frage, die jede Philosophie zu beantworten versuchen muss, was sie zu dieser anderen Philosophie beitragen kann. Wie kann man sicherstellen, dass die Bildung und die Möglichkeit der vernünftigen Entscheidung auch unter den veränderten Umständen bewahrt wird? Nach Hegel ist die einmal schon erreichte metaphysische Möglichkeit absoluten Wissens gegeben. Ob sie gesellschaftlich realisiert wird, hängt von uns ab.
Oliver Toth ist Universitätsassistent an der Universität Graz und schreibt seine Dissertation unter der Betreuung von Ursula Renz über die Philosophie des Geistes von Spinoza.