Vom Sinn und Zweck eines Rassismusvorwurfs gegen Hegel
von Charlotte Baumann (Sussex)
Zanders Reaktion auf James und Knappiks Beitrag über Hegels Rassismus wirft neben Interpretations-fragen zu bestimmten Stellen bei Hegel vor allem die Frage auf: Was bringt es, Hegel des Rassismus zu beschuldigen? Dies ist eine berechtigte Frage, nicht zuletzt deswegen, weil diese Frage de facto bei vielen ähnlichen Diskussionen im Raum steht und zum polemischen Begriff der Cancel Culture beigetragen hat. Also, zwei Dinge sollten von vornherein klar sein: Es kann nicht darum gehen, dass man von Hegel erwartet, nach heutigen Maßstäben ‚woke’ zu sein, und es geht James und Knappik ganz bestimmt nicht darum, nie wieder Hegel zu lesen oder andere dazu zu motivieren. (Sie sind ja selbst Hegelianer und richten ihren Kommentar vor allem an uns andere Hegelianer). Was bringt es dann, wenn man aufzeigt, wo und wie Hegel andere Ethnien oder generell marginalisierte Gruppen abschätzig behandelt? Zunächst ist es klar, dass Rassismus nicht unbedingt etwas mit Biologie zu tun haben muss[1] und dass eine Wortklauberei nicht zielführend sein kann. Stattdessen geht es meines Erachtens um vier Dinge: 1. historische Korrektheit, 2. analytische Schärfe, 3. den ‚eigenen’ Hegel und 4. die Lehre und das Hegel-ernst-Nehmen.
Zu Punkt (1) ist klar, dass es sicher nicht einer historisch-kritischen Lesart entsprechen würde, unliebsame Stellen in Hegels Texten einfach zu überlesen. Genau so wie man andere Einflüsse auf und Aspekte von Hegels Werk studiert, sind auch rassistisch oder auch sexistisch anmutende Textstellen es wert, genau gelesen und erforscht zu werden, um zu sehen, welche Einflüsse Hegel wie rezipierte, wie sich seine Position veränderte etc. (Genauso interessant und relevant ist natürlich zu untersuchen, wie Hegel post-koloniale und anti-rassistische Denker inspiriert hat, wie zum Beispiel Fanon und Du Bois). Und es wäre natürlich unprofessionell, die besonders im englischsprachigen Raum weit fortgeschrittene Forschung zum Thema zu ignorieren. Zweitens (2), und das legen James und Knappik ja nahe, können solche Stellen auch systematisch relevant sein. Ja, ich würde so weit gehen zu behaupten, dass es generell ein wichtiger Test ist, zentrale philosophische Aussagen aus dem Blickwinkel einer benachteiligten Gruppe zu betrachten. Wenn Pippins Hegel behauptet, dass „Opfer der Individualität oder die Dominanz sozialer Ganzer über Individuen“ [2] als Freiheit zu interpretieren sind und Individuen den „Zweck der Welt als den eigenen“[3] annehmen müssen, dann hilft es doch zu fragen: Und was bedeutet das für benachteiligte Gruppen? Meint Pippins Hegel, dass Menschen, die überproportionale Opfer bringen, sich damit abfinden sollen? Dass sie aufhören sollen, ihre Opfer als solche zu empfinden, dass sie froh sein sollen, etwas zum ‘Zweck der Welt,’ zur Gesellschaft beizutragen?[4] Oder will Pippin etwas anderes sagen? Dann sollte man hier unbedingt präzisieren. Eine weitere Frage wäre, ob als frei nur zählt, wer eine ganz bestimmte Art der Selbstkontrolle hat (nicht die eines meditierenden Buddhisten, sondern die des Bürgers, Vertrags- und Gesetzestreuen und Marktteilnehmers)? Und verdient es dann auch nur derjenige, dem Hegel diese Selbstkontrolle attestiert, von anderen respektiert zu werden, wie Knappik und James argumentieren? Impliziert Hegels Sittlichkeitsbegriff, dass vor dem Entstehen des europäischen Rechtsraums kein Unrecht existierte und daher alle Gewalt, die vorher oder außerhalb dieses Raums passiert nicht moralisch oder rechtlich schlecht sein kann?[5] Führt der absolute Vorrang, den Hegel der Vernunft und dem Begrifflichen gegenüber dem Körperlichen einräumt, zu der Nonchalance gegenüber physischem Leiden, die man in seinem Fortschrittsbegriff wiederfindet, egal ob man ihn nun metaphysisch und nicht-metaphysisch liest? Ist für Hegel Europa der Höhepunkt der Menschheitsgeschichte, den es nachzuahmen gilt, und führt dies dazu, dass Hegel schwarzen Ex-Sklaven nicht den Status der Fortschrittsbringer und revolutionären Subjekte zuerkennt?[6] Und wenn man Hegels Logik statt der Geschichtsphilosophie als zentral betrachtet, stellt sich dann nicht trotzdem die Frage, ob Hegel nicht logische Argumente für die absolute Vernünftigkeit der damaligen, idealisiert dargestellten europäischen Rechtsstrukturen vorbringt und was das für diejenigen bedeutet, die nicht als volle Rechtssubjekte zählen bei Hegel, inklusive europäischer Frauen? Es ist klar, dass unterschiedliche Interpreten unterschiedliche Antworten auf diese Fragen formulieren. Mein Punkt hier ist nur, dass es einer klaren Interpretation Hegels zuträglich ist, wenn man diese Art von Fragen stellt.
Mein dritter Punkt (3) ist die persönliche Aneignung von Hegels Philosophie. Die meisten, die Hegel intensiv studieren, wollen auch zeigen, dass viele seiner Argumente gut sind und überzeugen. Hegel ist zwar 1831 gestorben, aber wir lesen Hegel heute. Und wenn wir seine Überlegungen plausibel machen und erläutern, dann tun wir dies im Kontext der Gegenwart. Wir hören die rassistischen oder fremdenfeindlichen Über- und Untertöne und wir müssen damit irgendwie umgehen, und das heißt mindestens: darauf eingehen und überlegen, inwieweit und warum wir sie in ‚unserer persönlichen Hegel-Lesart’ vermeiden können.
Hier kann man gleich den letzten Punkt (4) anschließen: Viele von uns unterrichten Hegel und viele haben Studierende, die selbst einer marginalisierten Gruppe angehören und/oder die besagten Stellen höchst problematisch finden. So zu tun, als wären sie nicht da, schickt ein falsches Signal und kann den Anschein erwecken, dass der Lehrende nicht in der Lage oder willens ist, den Studierenden ein ausgewogenes Bild Hegels zu bieten, das ihnen dabei hilft, ihr eigenes Verständnis seines Werks zu entwickeln. Es ist nun mal leider so, dass an deutschen Universitäten unter den Lehrenden gesellschaftliche Minderheiten und Frauen unterrepräsentiert sind. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir deswegen hinter geistesgeschichtlichen Realitäten zurückbleiben. (Das scheint auch ganz und gar nicht im Sinne Hegels zu sein). Die Tatsache, dass es nicht nur Gender und Black Studies, sondern auch #metoo und BlackLivesMatter gibt, zeigt, dass diese Themen viele Menschen ansprechen, und das ist unter Studierenden sicher zu einem höheren Prozentsatz der Fall als bei dem Rest der Bevölkerung.
Ein Schweigen zu Themen wie Rassismus und Frauenfeindlichkeit würde daher der Hegel-Rezeption mehr schaden als nützen. Nicht nur aus Respekt vor den Studierenden, sondern auch aus Respekt vor Hegel gilt es solche Stellen zu diskutieren. Zander, James und Knappik wollen alle drei Hegel ernst nehmen. Und das heißt ihn nicht wie einen metaphysischen Märchenerzähler oder den sprichwörtlichen rassistischen Onkel zu behandeln, den man geflissentlich überhört, wenn er Unliebsames behauptet. Hegel und Gesprächspartner zu Hegel ernst nehmen heißt seine Worte kritisch zu reflektieren und, im vollen Bewusstsein schwieriger Implikationen und Zitate, seine Argumente und Ideen dennoch in überzeugender Weise zu verteidigen. Oder eben auch nicht, wenn man zu diesem Ergebnis kommen sollte. Aber davon gehe ich, und gehen auch Zander, Knappik und James, sicher nicht aus.
Charlotte Baumann forscht und lehrt an der University of Sussex, GB, mit einem Feodor-Lynen-Fellowship für erfahrene Wissenschaftler der Humboldt Stiftung. Sie unterrichtet auch im Outreach-Program des Bard College Berlin. Sie hat in führenden Zeitschriften zur Geschichte der Philosophie und Geschichte der Wissenschaftsphilosophie publiziert und zu Hegels Logik promoviert.
[1] Siehe für eine klare Darstellung: Michael Hardimon, Rethinking Race (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2017).
[2] Robert Pippin, Hegel’s Realm of Shadows, (Chicago: University of Chicago Press, 2019) S. 271.
[3] Ebenda.
[4] Siehe hierzu Charlotte Baumann, ‚Hegel’s Metaphysics and Social Philosophy. Two Readings,’ in Paul Giladi (Hrsg.), Hegel and the Frankfurt School, ed. (London: Routledge, 2020), S.158-161.
[5] Diese Überlegung habe ich von Daniel James.
[6] Siehe zum letzten Punkt: Susan Buck-Murss, Hegel, Haiti and Universal History (Pittsburgh P.A.: Pittsburgh University Press, 2009).