Seine Geschichte der Philosophie. Zum Alterswerk von Jürgen Habermas
Vittorio Hösle (University of Notre Dame, USA)
Für alle eine Überraschung war es für viele ein erneuter Anlass zur Bewunderung und für einige wohl auch ein kleines Wunder, als Jürgen Habermas mit seinem umfangreichen Alterswerk: Auch eine Geschichte der Philosophie (2 Bände, Suhrkamp 2019) nochmals die Summe aus seinem Schaffen und dem seiner Zunft zu ziehen unternahm. Die Resonanz war groß, wie zu erwarten vielstimmig und doch immer auch von der Verlegenheit begleitet, die knapp 1700 Seiten überhaupt angemessen würdigen zu können. Vittorio Hösle hat es in der Philosophischen Rundschau, anlässlich des neuen Hermeneutik-Sonderhefts, nun auf sich genommen, auf immerhin knapp 40 Seiten eine eingehende Besprechung zu verfassen, die sich zugleich als Antwort auf Habermas philosophisches Epochen- und Weltbild versteht. Im folgenden Beitrag, einem repräsentativen Auszug, findet sich eine Art Resümee der Auseinandersetzung, die insbesondere das Verhältnis von Glauben und Wissen bei Habermas kritisch pointiert. (Anmerkung der Redaktion)
Eine Gesamtwertung des Buches ist nicht einfach. Dass Habermas auf das Ganze der Philosophiegeschichte zu gehen versucht hat, dass er diese an die Religionsgeschichte angeknüpft und ihre Beziehungen zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung auf erhellende Weise untersucht hat, verdient Hochachtung; und die noch im neunten Lebensjahrzehnt entfaltete Arbeitskraft ist staunenerregend. Weltweit wären heute im Zeitalter der Spezialisierung nur sehr wenige Intellektuelle zu einem solchen Buch in der Lage. Immer wieder ist man gefesselt von der Brillanz mancher Formulierung. Die nicht wenigen Fehler sind angesichts der Größe des Projektes und des Alters wohl normal, auch wenn man sich fragt, ob nicht eine sorgfältigere Lektorierung angebracht gewesen wäre. Das Hauptproblem des Werkes sind diese Fehler nicht; das Hauptproblem ist, dass Habermas’ eigener systematischer Ausgangspunkt, von dem aus die Aneignung geschieht, philosophisch nicht überzeugt. Er hat die Metaphysik nicht widerlegt, sondern nur gezeigt, dass er kein Talent auch nur bei der Darstellung ihrer Fragen und Antworten hat. Denn auch der Durchgang durch die größten Texte der Philosophiegeschichte hat seine Hintergrundüberzeugungen nicht erschüttert, die, wie er zu Recht hervorhebt, eine Denkweise meist bestimmen (I 128). Was sind diese in seinem Falle?
Letztlich ist Habermas’ Projekt eine Ausführung der Ideen Comtes, auch wenn dieser nur zweimal (55, 112) beiläufig erwähnt wird, und ich mir nicht sicher bin, dass ihn Habermas gründlich studiert hat, denn auch in der Theorie des kommunikativen Handelns fällt der Name nur einmal.[1] Aber das bedeutet keineswegs, dass nicht Comtes Ideen, wie vermittelt auch immer, für Habermas früh zu Selbstverständlichkeiten wurden. Bekanntlich hat Comte ein Dreistadienmodell der Geistesgeschichte vorgelegt – von der Theologie (womit er die Religion meint) über die Metaphysik zu den positiven Wissenschaften. Das sind Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie. In diesem definitiven Kanon der Wissenschaften fehlen sowohl die Erste Philosophie als auch die Psychologie; denn jene gilt, als Metaphysik, als geschichtlich überholt, weil letztlich theologisch imprägniert, diese als inakzeptabel, da auf die methodologisch unzulässige, weil private Introspektion gegründet. Die letzte, umfassende Wissenschaft ist in dieser Perspektive die Soziologie. Auch bei Habermas gehört “die religiös-metaphysische Form” (I 271) zur Vergangenheit; und auch wenn er wie Dilthey eine heute nicht mehr primär auf Introspektion gegründete Psychologie keineswegs verwirft, hat das Narrativ von den drei Paradigmen die analoge Funktion, der Soziologie eine Abschlussfunktion zuzusprechen, die Habermas auch aufgrund des Zeitenabstands viel umfassender beherrscht als Comte, während seine Vertrautheit mit Comtes anderen Disziplinen minimal ist.
Die drei großen Gründerväter der Soziologie im 19. Jahrhundert entstammen alle einem stark religiösen Hintergrund – Comte einem katholischen, Durkheim einem jüdischen (der Vater war Rabbiner), Max Weber einem calvinistischen. Für alle drei war der Verlust ihres Kindheitsglaubens sehr schmerzlich und die Soziologie ein Versuch, den Sinnzusammenhang der Religion zu ersetzen. Das erklärt, neben anderen Faktoren, ihr starkes Interesse an der Religionssoziologie. Alle drei sind sich der enormen sozialen Bedeutung der Religion bewusst, auch wenn nur Comte sich um die Bildung einer neuen (und nicht langlebigen) Esperantoreligion bemühte. Analog weiß auch Habermas um die soziale Unersetzbarkeit der Religion selbst in einem atheistischen Zeitalter; er erkennt etwa die religiösen Wurzeln des Sozialismus an (II 360, Anm. 67). Gleichzeitig hält keiner der vier Soziologen eine Rückkehr zur Religion für intellektuell akzeptabel, auch wenn sie wissen, dass eine der Religion beraubte Welt im besten Falle öde und unsolidarisch, im schlimmsten Falle viel grausamer sein wird als selbst archaische Riten. Die Erschütterung durch die Entdeckung der Verbrechen des Nationalsozialismus 1945 hat Habermas die Notwendigkeit einer normativen Grundlage deutlich vor Augen geführt; daraus ist bei ihm, u.a. aufgrund des Einflusses Karl-Otto Apels, die Diskursethik geworden, deren enormer sozialer Erfolg sicher auch damit zu tun hatte, dass sie bestens zu Willy Brandts Programm “Wir wollen mehr Demokratie wagen” in der Regierungserklärung von 1969 passte.
Habermas’ zunehmendes Interesse an der Religion, öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck gekommen in seiner Diskussion mit Joseph Kardinal Ratzinger von 2004, hat sicher auch mit dem Scheitern des sozialistischen Projekts zu tun. Ein intelligenter Mensch kann nicht verkennen, dass religiöse Institutionen oft mehr an eingelebter Solidarität mit den Schwächsten der Weltgesellschaft zu bieten haben als ihre säkularen Gegenstücke. Aber die einzige Form von Religion, die Habermas lebensgeschichtlich vertraut war, ist die des Protestantismus, und zwar eines Protestantismus, der in Deutschland im 20. Jahrhundert entscheidend durch die Dialektische Theologie bestimmt war, also im Gegensatz zur traditionellen katholischen Theologie eine deutliche Gegenstellung zur Rationalität hatte. Sein Großvater war der unierte Pastor und Theologe Friedrich Habermas, der schon 1911 verstarb; auch wenn Habermas in einer an das Dritte Reich angepassten Familie aufwuchs, wurde er konfirmiert. Auch nach seiner Lösung vom Protestantismus spürt man bei ihm eine Faszination vor der Religion, die aber nie die Möglichkeit ernsthaft erwägt, an Grundlehren der Religion, wie sie die Metaphysik zu explizieren sucht, sei vielleicht mehr Vernunft, als “wir heute” meinen. Religion ist für Habermas dann, und nur dann, akzeptabel, wenn sie ohne Vernunftanspruch auftritt, weil sie dann seinen Philosophiebegriff nicht gefährdet, auch wenn eine derartige Kompartmentalisierung dem Selbstverständnis eines intelligenten religiösen Menschen widerspricht. So sieht Habermas mehr echte Religiosität in Luther als in jemandem wie Anselm, auch wenn dessen Gottesbegriff intellektuell unvergleichlich komplexer ist als derjenige des Reformators und auch wenn Habermas den katholischen Sakramenten mehr abzugewinnen vermag als der Tradition der rationalen Theologie. Ja, selbst mit der calvinistischen Religionsphilosophie und Erkenntnistheorie eines Alvin Plantinga ist Habermas nicht vertraut. Bei dieser letztlich extern bleibenden Einstellung zur Religion ist zwar eine melancholische Nostalgie, aber keine Wiederbelebung denkbar, die bei einem Intellektuellen vielmehr voraussetzt, dass der Gottes- und der Vernunftbegriff enger miteinander verwoben werden, als Habermas sich vorstellen kann. Denn nur Einsicht kann ab einem gewissen Reflexionsniveau dauerhafte Religiosität erzeugen, die in der Vernunft gegründet sein muss, auch wenn sie dankbar die historisch gewachsenen sakralen Traditionen, die den Forderungen der Vernunft am ehesten entsprechen, aufgreifen wird, da die Vernunft selbst lehrt, dass es nicht möglich ist, derartige Traditionen am Reißbrett zu entwerfen.
Akzeptiert man im Sinne Comtes die Ersetzung von Theologie, Metaphysik und Erkenntnistheorie durch Weltbildsoziologie, im Sinne Karl Barths einen Vorbegriff von Religion als einer die Vernunft radikal übersteigenden Macht sowie im Sinne der 1968er eine Reduktion von Ethik auf Bemühungen um Konsens und soziale Demokratie als entscheidende Hintergrundannahmen, folgen die weiteren Optionen Habermas’ schnell; sie sind weitgehend vorhersagbar. Aber kein anderer seiner Generation hat mit solcher Ausdauer jene Annahmen zu einem so umfassenden und in sich relativ kohärenten soziologischen Weltbild ausgearbeitet. Und da die spätere postmoderne Wende noch weniger plausibel ist als dieses, verdient Habermas Dankbarkeit auch von denen, die zu einer Ersten Philosophie, die Metaphysik und Erkenntnistheorie vereint, keine intellektuell plausible Alternative sehen und auf ihrer Grundlage die Geschichte der Religion und Philosophie ganz anders konzipieren.
Vittorio Hösle ist Professor für Philosophie an der University of Notre Dame. Ein Interview mit ihm findet sich hier.
Dieser Text ist der Beginn einer Kooperation zwischen praefaktisch und der Philosophischen Rundschau. Hösles ausführliche Rezension des Habermas-Buchs findet sich hier (leider hinter einer Paywall).
[1] Frankfurt a. M. 1981, 2 Bde., II 380.