»Denken dichten. Philosophische Poetologien jüngerer und ältester Gegenwart« – Ein Vorwort
Von Florian Arnold (Stuttgart und Offenbach)
Lyrik genießt derzeit freudigen Zuspruch. Eine rege Szene, insbesondere im deutschsprachigen Raum, ist in den letzten zehn-fünfzehn Jahren durch weithin beachtete Veröffentlichungen, gutbesuchte Lesungen, aber auch poetologische-programmatische Reflexionen einem größeren Publikum bekannt geworden. Darunter finden sich Bestseller von einem späteren Büchner-Preisträger (Jan Wagners Regentonnenvariationen von 2014), experimentierfreudige Produktions- und Lebensgemeinschaften (kookbooks), aber auch parauniversitäre Forschungsprojekte (Spekulative Poetik) auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst. So fehlt es weder an euphorischen Suggestionen in einer neuen „Blütezeit der Lyrik“[1] zu leben noch an halbironischen Hassliebe-Bekundungen, von den Prätentionen dieser Gattung nicht lassen zu wollen, auch wenn ein beständiges Scheitern der Sache nach unvermeidlich, ja geradezu gefordert scheint.[2]
Was aber ist es genau, das ihre Verächter und Verfechter gleichermaßen zu Wortmeldungen provoziert, die von Seiten des Publikums als gesamtgesellschaftliche Debattenbeiträge begrüßt werden? Liest man sich durch die zahlreichen Anthologien, die sich um eine Kartierung des Feldes bemühen, stechen unter anderem zwei Dinge ins Auge, die auf den ersten Blick sich kaum in das Bild einer klassischen Avantgardebewegung fügen. Auch heute wieder wird zwar die Absicht laut, der Sprache unerhörte und unvorhersehbare Züge abgewinnen zu wollen, doch dies mitunter indem gerade totgesagte Formen reanimiert werden, um im selben Zug sich selber nicht weniger als die eigenen Kritiker in Frage zu stellen (mustergültig Ann Cottens Fremdwörterbuchsonette von 2007). Was beide Momente, Experiment und Tradition, dabei im Grunde vereint, hat mit einem dritten Moment zu tun, einem synthetisierenden Moment: Man könnte es ein philosophisches nennen, wenn man gewillt ist, Überlieferung und Spekulation nicht von vorneherein (oder umgekehrt vom Resultat her) als einen Widerspruch zu verstehen. Anders gesagt, lässt sich heute (wieder) ein poetisch-poetologischer Ereignisdiskurs vernehmen, der unter Schlagworten wie einem Poetic Thinking[3] eine (erneute) Engführung von Dichten und Denken erprobt.
Das ist nichts wesentlich Neues, könnte man zunächst und aus gutem Grund meinen, bekundete sich darin nicht gleichfalls ein kaum neueres Bemühen, den modernen Wandel der Medien, Materien und Metiers im poetischen Schaffen zu reflektieren. Aber mehr noch als das, verschafft sich darin zugleich ein Bewusstsein Ausdruck, das dagegen im bloß Neuen kaum mehr noch als eine Altlast herkömmlicher Avantgardismen erblickt und zwar gerade dort, wo die unterschiedlichsten Retrotrends bis hin zu einem Retrofuturismus bereits die Popkultur ‚unserer breiten Gegenwart‘ heimgesucht haben. Mag man dies nun als mangelnden Zukunftsglaube werten oder umgekehrt eine gewisse Zuversicht daraus ziehen, dass wir selbst mit unserem Latein noch nicht am Ende sind, in beiden Fällen wird man es gegenwärtig kaum als überwundene Haltung auslegen können, sich über die Herkünfte der heraufziehenden Herausforderungen Rechenschaft ablegen zu wollen. Mit Blick auf unser Thema ließe sich also fragen: Was wird jenes Dichten und Denken in Zukunft sowie in der Vergangenheit gewesen sein, das derzeit als Poetic Thinking beworben wird und sich nicht zuletzt auch als politisches Pharmakon verkauft?
Hegelianische Phantasien
Diese Frage scheint heute nicht zuletzt dadurch aktuell, dass sowohl eine vielbeschriene und -besungene Digitalisierung als auch die stetig wachsende Biographie- und Anno-dazumal-Literatur einstimmig den Epochenbruch beschwört. Den jüngsten Anlass dafür bot das runde Jahr 2020, das durch seine Jubilare Hegel und Hölderlin (neben Beethoven) zugleich die revolutionären Ereignisse Ende des 18. Jahrhunderts und deren ‚kreative‘ Anverwandlung erneut ins Bewusstsein gerufen hat. Unsere Frage ließe sich demnach auch so formulieren: Was lässt sich aus jener Zeit einer politischen, industriellen, aber auch philosophischen Revolution (Kant) für unsere wackelige Gegenwart lernen? Und was wurde bereits daraus gelernt (sei es auch nur, dass sich nichts daraus lernen lässt), was dagegen schon wieder vergessen? – Das gilt für Politisches, Philosophisches, aber nicht weniger auch für Poetisches und zwar insbesondere dort, wo die drei Momente derart ineinanderspielen wie im Zeitgefüge um 1800. Was also wird zu dichten und zu denken einst geheißen haben – aus der Perspektive unserer Gegenwart betrachtet? Und was heißt das umgekehrt für unsere Gegenwart?
Eine Relektüre der einschlägigen Texte, greifen wir etwa nur Hegels Ästhetik-Vorlesungen heraus, setzt uns schnell und unmissverständlich ins Bild: „Das Denken ist nur eine Versöhnung des Wahren und der Realität im Denken, das poetische Schaffen und Bilden aber eine Versöhnung in der wenn auch nur geistig vorgestellten Form realer Erscheinung selber.“[4] – Nicht nur für Hegel ist schlichtweg gesetzt, dass „spekulative[s] Denken“ und „poetische Phantasie“ in einer „Verwandtschaft“ stehen.[5] Strittig ist allein unter den Zeitgenossen, und man könnte hierbei unzählige Passagen von Kant, Fichte, Schiller und Schelling oder auch den Romantikern heranziehen, in welchem Verwandtschaftsverhältnis genau Dichten und Denken zueinander stehen sollen.
Hegel kommt hierbei das Verdienst zu, eine systematische Erörterung für die andernorts meist Intuition oder Aperçu gebliebene Gleichung von Spekulation und poetischer Phantasie oder Geist und produktiver Einbildungskraft vorgelegt zu haben, die uns zugleich auf die Grenzen des Dichterischen nicht nur zum philosophischen Denken stoßen lässt, sondern auch zur Religion oder der profanen Prosa des Alltags. Mag die poetische Phantasie eine Versöhnung auch anschaulich vorführen, indem sie sich nach Hegel vor allem selbst bespielt,[6] d.h. als geistiges Vorstellungsvermögen sich in den unterschiedlichsten Gattungsformen (selbst) vorstellt und derart real in Erscheinung tritt, statt Wahrheit und Realität ‚nur‘ im Begriff, bildlos, als versöhnt zu begreifen, so ist ihr damit doch zugleich ihr Platz angewiesen in einem umfassenden Zusammenhang ideeller Selbstvermittlung:
„Nur durch diesen Gang der Betrachtung ergibt sich dann auch die Poesie als diejenige besondere Kunst, an welcher zugleich die Kunst selber sich aufzulösen beginnt und für das philosophische Erkennen ihren Übergangspunkt zur religiösen Vorstellung als solcher sowie zur Prosa des wissenschaftlichen Denkens erhält. Die Grenzgebiete der Welt des Schönen sind […] auf der einen Seite die Prosa der Endlichkeit und des gewöhnlichen Bewußtseins, aus der die Kunst sich zur Wahrheit herausringt, auf der anderen Seite die höheren Sphären der Religion und Wissenschaft, in welchem sie zu einem sinnlichkeitsloseren Erfassen des Absoluten übergeht.“[7]
Indem diese Grenzen nochmals derart feinsäuberlich gezogen wurden, mochte der Verlockung ihrer Übertretung kaum widerstand werden. Hegels Hellsichtigkeit bestätigt sich auch in diesem Fall, vergegenwärtig man sich die deutsche Literaturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, speziell die der Lyrik, etwa von Heinrich Heine, über Stefan George, bis Gottfried Benn. Die ‚Auflösung‘ der Kunst ist dabei immer wieder durch eine partielle Übersetzung der Poesie in andere Sprachspiele (profane, sakrale, wissenschaftliche) betrieben worden.[8]
Hat sich daran nun Wesentliches geändert bis heute? Man meint auch gegenwärtig die gleiche Klangbreite zwischen Alltagsprosa und hohem Ton (der darum eher gehalten als erst neuerlicher wieder erhoben wurde) ausmachen zu können. Ein Unterschied scheint lediglich darin zu bestehen, dass man sich über die vermittelnde Mitte der poetischen Phantasie im Sinne Hegels und seiner Zeitgenossen zuletzt kaum noch im Klaren war, selbst wo man sich um die Nähe zur Philosophie bemühte. Hier sollten andere Autoren und Autorinnen in den Vordergrund treten wie etwa die ‚Klassiker‘ der Frankfurter Schule oder der Postmoderne, doch auch diese wussten zumindest noch, wovon sie sich abzusetzen suchten (und das gilt wohl auch noch für Wittgenstein).
Denn wessen man sich bei Hegel repräsentativ vergewissern kann, betrifft ein poetisches Selbstverständnis, das weniger auf ‚Kreativität‘ um jeden und für jeden Preis zielt, als auf ein ‚Gründertum‘ (im schlagenden Gegensatz zu kurzlebigen Startups), von dem mit Hölderlin zu behaupten wäre: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. So erfüllt nach Hegel die Lyrik – im Unterschied zu Epos und Drama – die Aufgabe, den objektiven Orts- und Zeitgeist in subjektiver Partikularität eine ergreifende (und in wesentlichen Momenten auch begreifende) Stimme zu geben. Mag Hegel aus persönlichen und professionellen Gründen auch nicht so weit gegangen sein wie sein früherer Busenfreund Hölderlin (oder er selbst zu Zeiten des ‚ältesten Systemfragments‘), so spricht aus Sätzen wie den folgenden gleichwohl eine Auffassung lyrischer Sinnstiftung, die sich nicht allzu schwer in eine dichterische Mission von singulärer wie epochemachender Sprachgewalt umdeuten oder umgekehrt als solche verspotten ließ:
„Innerhalb dieser Vereinzelung nun steht […] das Allgemeine als solches, das Höchste und Tiefste des menschlichen Glaubens, Vorstellens und Erkennens: der wesentliche Gehalt der Religion, Kunst, ja selbst der wissenschaftlichen Gedanken, insofern dieselben sich noch der Form der Vorstellung und der Anschauung fügen und in die Empfindung eingehen. Allgemeine Ansichten, das Substantielle einer Weltanschauung, die tieferen Auffassungen durchgreifender Lebensverhältnisse sind deshalb aus der Lyrik nicht ausgeschlossen […].“[9]
Heideggerianische Einbildungen
Wollte man die Summe aus dieser denkenden Hochschätzung des Dichtens ziehen, sieht man sich am Ende dieses ‚deutschen Sonderwegs‘ nicht von ungefähr wiederum auf Hölderlin verwiesen – wenn auch nunmehr in der Nachbarschaft zu Heideggers Seinsgeschichte. In dem berühmten Text „dichterisch wohnet der Mensch“ aus den Vorträgen und Aufsätze deutet schon der titelgebende Vers Hölderlins das Metier und die eigentliche Baukunst an, die die Poesie bzw. diese poesis höchster Potenz nach Heidegger auszeichnen soll. Dieser Vortrag von 1951 hat seinerzeit (und tut es noch heute) Verwunderung und Irritationen hervorgerufen, scheint hierin doch Heideggers Privatmythologie vom ‚Dichter in dürftiger Zeit‘, vom Künder inmitten der Weltnacht, die Kehre zu seiner eigentlichen Parodie genommen zu haben… Entsprechend dürfte man auch in der Spitze der Erörterung: „Das Dichten erbaut das Wesen des Wohnens“[10] vor allem die Früchte einer gewaltsamen Interpretation lediglich einiger weniger Passagen aus dem komplexen Œuvre Hölderlins erblicken, statt die späte Ernte einer reifen Tradition.
Doch anstatt abermals in eine kritische oder apologetische Auseinandersetzung einzutreten, geht es hier vielmehr darum, die Verknüpfungen mit einer Überlieferung zu straffen, die sich mutatis mutandis von Hölderlin und Hegel über Heidegger – und zu nennen wäre auch Celan – bis in unsere Gegenwart erstreckt. Fragt man darum genauer nach, was Bauen Wohnen Denken und Dichten eint, tut sich ein Pfad und eine Pfadabhängigkeit auf: „Der Mensch wohnt nicht, insofern er seinen Aufenthalt auf der Erde unter dem Himmel nur einrichtet, indem er als Bauer das Wachstum pflegt und zugleich Bauten errichtet.“ – Nach Heideggers Sprachgebrauch geht es also nicht um das ‚Richtige‘, das zu tun war in Zeiten des Wiederaufbaus und einer Rekultivierung der Boden- oder auch Bildungsressourcen, sondern um das ‚Wahre‘, um eine ‚Bewahrung‘ des Wesens des menschlichen Wohnens:
„Das Wohnen aber geschieht nur, wenn das Dichten sich ereignet und west und zwar […] als die Maß-Nahme für alles Messen. Sie ist selber das eigentliche Vermessen, kein bloßes Abmessen mit fertigen Maßstäben zur Verfertigung von Plänen. […D]as Dichten ist als das eigentliche Ermessen der Dimension des Wohnens das anfängliche Bauen. Das Dichten läßt das Wohnen des Menschen allererst in sein Wesen ein. Das Dichten ist das ursprüngliche Wohnenlassen.“[11]
Auch wer mit dieser poetisch-philosophischen Eingewöhnung in die Wesensmetrik gar nichts anzufangen weiß, dürfte doch zumindest in der Rede von der „Maß-Nahme“ eine Doppeldeutigkeit heraushören, die Richtigkeit, Rechnen und Ratio einer planerischen Konstruktion in ein Spannungsverhältnis versetzt zu jener dichterischen Maß-Nahme, die hier wortwörtlich auf sich selbst angewendet wird: Indem Heidegger das Wort „Maß-Nahme“ selbst zum Sprechen bringt, eröffnet sich ein Bedeutungsspielraum im gewöhnlichen Erwartungshorizont und seinen Definitionen, gibt sich eine andere Deutungsdimension frei. Nichts anderes erbringt Dichtung nach Heidegger jedoch durchgehend durch ihren Sprach(ge)brauch, sofern es ihr um ein angemesseneres Bewohnen jenes ‚Hauses des Seins‘ geht und zwar über den bloß ökonomischen Bedarf hinaus.
Man könnte das abschätzig ein ‚erbauliches‘ und etwas phantastisches Verständnis von Dichtung nennen und liefe doch Gefahr, dessen intrikate Pointe zu verspielen, ignorierte man dabei zugleich die bereits vorangegangenen Darlegungen Heideggers, die ihrerseits Maß nehmen, wenn auch kritisch, an der ästhetischen Tradition poetischer Phantasie. So heißt es bereits zu Anfang des Vortrags (mit dem üblichen Hintersinn): „Die Art der Dichter ist es, das Wirkliche zu übersehen. Statt zu wirken, träumen sie. Was sie machen, ist nur eingebildet. Einbildungen sind lediglich gemacht. Mache heißt griechisch ποίησις.“ Und im folgenden Absatz: „Es [das Wort des Dichters (Hölderlin); Anm. FA] sagt auch nicht, das Dichterische erschöpfe sich im unwirklichen Spiel der poetischen Einbildungskraft.“[12] Oder ein paar Seiten weiter abermals: „Denn das ‚Dichterische‘ gehört doch, wenn es als das Poetische gilt, in das Reich der Phantasie. Dichterisches Wohnen überfliegt phantastisch das Wirkliche.“[13] All das ist in dem Sinne bereits selbst ein spielerisches Überfliegen und Übersehen von geläufigen Vorurteilen und ästhetischen Vorgaben, dass wir am Ende des Textes nur bei einer anderen Erörterung dieser Einbildungen landen können:
„Der uns geläufige Name für Anblick und Aussehen von etwas lautet ‚Bild‘. Das Wesen des Bildes ist: etwas sehen zu lassen. Dagegen sind Abbilder und Nachbilder bereits Abarten des eigentlichen Bildes, das als Anblick das Unsichtbare sehen läßt und es so in ein Fremdes einbildet. Weil das Dichten jenes geheimnisvolle Maß nimmt, nämlich am Anblick des Himmels, deshalb spricht es in ‚Bildern‘ – Darum sind die dichterischen Bilder Ein-Bildungen in einem ausgezeichneten Sinne: nicht bloße Phantasien und Illusionen, sondern Ein-Bildungen als erblickbare Einschlüsse des Fremden in den Anblick des Vertrauten.“[14]
Das oft unbegreiflich Wirkende an Heideggers Interpretationen rührt zumeist daher, dass man sie noch nicht bildlich und wörtlich genug nimmt. Erst aus seiner direkten ‚Nachbarschaft‘ zum Dichten gibt sich dieses Denken selbst zu erkennen als Einschluss des Fremden im Vertrauten, als ein Schweben über dem Boden der Alltagssprache und doch weit unter den Höhenflügen begrifflicher Spekulationen (im besten Sinne des philosophischen Idealismus). Bewusst schreibt sich Heidegger in die Tradition von Dichtern und Denkern ein, indem er sie um-, statt nur über- oder unterschreibt. Auf dieselbe (d.h. nicht gleiche, sondern ineins andere) Weise baut er auf eine poetische Ein-Bildungskraft, ohne jedoch den strikten Maßgaben eines Systems zu folgen. Umgekehrt nimmt er Maß an einem unvordenklichen Ereignis, das letztendlich auch nur gestatten mag, sich in der offenen Fremde der Kontingenz zu beheimaten.[15]
Ob das gelingen kann oder hierbei nicht wiederum andere Maß-Gaben (so der Seinsgeschichte) Richtung und Sinn vorgeben, lässt sich in Kürze nicht ermessen. Dass dieser Versuch aber überhaupt zu unternehmen ist, nötig sich schon von Zeit(lichkeits)umständen her auf, die allen voran bei Celan Gestalt gewonnen haben und auch weiterhin im Andenken ihren Anspruch aufrechterhalten. Hegel, Hölderlin, Heidegger, aber auch Celan (dessen 50. Todestag sich 2020 jährte) haben ihre Zeit als eine Not erfahren, die man nur im abgründigsten Sinn eine erdichtete und erdachte nennen kann. Durch sie lässt sich auch heute noch ein moderner Abgrund durchmessen, zwischen – oder soll man mit Celan sagen: von – Himmel und Hölle, vor dem wir nicht wie vor einem Nichts zu stehen kommen, sondern in den wir selbst schon hineingehalten sind.
So muss es einstweilen wie ein poetisches Errichten von Luftschlössern erscheinen, sich mit phantasiereichen Sprachexperimenten oder durchgeplanten Creative Writing Workshops im Kultur- und Bildungsbetrieb einzurichten. Doch selbst die Kulturkritik (die lyrische miteingeschlossen) scheint vor diesem Hintergrund nur noch eine Erbaulichkeit derselben Art, wo weder der Versuch, sich auf den Boden der Tatsachen zu stützen, noch am Anblick des Himmels Maß zu nehmen, verfängt. Gibt es dagegen, gegen den ganzen Un-Sinn, nicht eine ordinary language? Gibt es heute tatsächlich noch eine Prosa der Wirklichkeit, der man sich vorbehaltlos verschreiben könnte? Gab es sie je? – Doch selbst, wenn dem tatsächlich nicht so sein sollte: Wäre das etwa der freudigste Zuspruch, den die Poesie genießen könnte, heute wie einst? – Die Schwebe einmal angenommen, stünde damit zumindest ein erneutes Ankommen in unserer 200 Jahre alten Gegenwart in Aussicht, gleichsam im Anfang ihres Dichten und Denkens.
Womöglich aber hieße das auch nur, auf das längst Gewesene unserer Zukunft zurückzugehen – ein Irrtum letztendlich, unnötig in notloser Gegenwart?
Hölderlinreparatur
Trunkenheit ists, eigener Art, wenn Himmlische da sind
Aber: Sind (denn) Himmlische da?
Sind Trunkenheit 22, Echo 26, nACHT
nicht Nachhall nur anderer/
schadhafter Sprachen, schwärzlicher Sprachen
sprachlicherer Sprachen
der See(le) zersplittertes Schwarzlichttheater
akustisch sortiert?
Viele versuchen umsonst das Freudigste freudig zu sagen
doch, in den Schranken der Sinne
ist dies Freudigste selten geheuer
wellness (reicht auch)
ihnen und ihresgleichen
gleichwohl dauernd und mit Macht
und GOtt darin als rotierendes Wort
die Epiphanie
des Ungesuchten
Größeres leistet[16]
Florian Arnold ist als akademischer Mitarbeiter an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und zurzeit als Vertretungsprofessor für Designtheorie an der Hochschule für Gestaltung Offenbach tätig. Er ist Redakteur der Philosophischen Rundschau.
Dieser Text ist der Teil einer Kooperation mit der Philosophischen Rundschau. Arnolds ausführlicher Artikel zum Thema findet sich hier (leider hinter einer Paywall).
[1] So Christian Metz auf dem Klappentext von Poetische Denken. Die Lyrik der Gegenwart, Frankfurt 2018: S. Fischer.
[2] Ben Lerner: Warum hassen wir die Lyrik? Essay, aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Berlin 2021: Suhrkamp.
[3] Vgl. So der Originaltitel von Amir Eshel: Dichterisch denken. Ein Essay, aus dem Englischen von Ursula Kömen, Berlin 2020: Suhrkamp/Jüdischer Verlag.
[4] G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, Theorie-Werkausgabe, S. 244.
[5] Ebd., S. 243
[6] Vgl. etwa ebd. 233: „Sie [= die Poesie; Anm. FA] ist deshalb auch an keine bestimmte Kunstform ausschließlicher gebunden, sondern wird die allgemeine Kunst, welche jeden Inhalt, der nur überhaupt in die Phantasie einzugehen imstande ist, in jeder Form gestalten und aussprechen kann, da ihr eigentliches Material die Phantasie selber bleibt, diese allgemeine Grundlage aller besonderen Kunstformen und einzelnen Künste.
[7] Ebd. S. 234f.
[8] Dass dabei nicht nur im deutschsprachigen Raum die idealistische Ästhetik (insbesondere Hegels) der Ausgangs- und Absetzungspunkt der Avantgarde werden und bleiben sollte, belegt zudem der Entwicklungsgang im Mutterland der literarischen Moderne selbst, wo die Bahnen über Victor Cousin über Théophile Gautier bis zu Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé führen.
[9] Ebd., S. 419f.
[10] Martin Heidegger: „«…dichterisch wohnet der Mensch…»“, in: ders: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 102004: Klett-Cotta, S. 181-198, hier S. 196.
[11] Ebd.
[12] Ebd., S. 182.
[13] Ebd., S. 186.
[14] Ebd., S. 195.
[15] Der langjährige ‚Lehrling‘ Heideggers, wie Max Müller sich und Seinesgleichen anlässlich einer Festrede zur Meßkirchner Ehrenbürgerschaft Heideggers am 27. September 1959 einmal tituliert hatte, erwähnt andernorts folgende von Viktor von Gebsattel kolportierte Bemerkung Heideggers und zwar, „dass er im Augenblick versuche, nicht mehr in systematischen Büchern, sondern in freien Rhythmen die Sprache des Seins selbst zu finden, weil dies der eigentliche Auftrag an den Philosophen sei. Philosophie sei Dichtung durch den philosophischen Begriff, wie Kunst Dichtung durch das künstlerische Bild sei. Beide Urarten der Dichtung hätten aber dasselbe Ziel, die Vergegenwärtigung des Geheimnisses, des Absoluten als solchem.“ (Martin Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. v. Holger Zaborowski und Anton Bösl, Freiburg i. Br./München 2003, S. 79.) – Diese Bemerkung ist so wahr, dass sie eigentlich nur erdichtet sein kann: inklusive einer Anspielung auf den Sokrates der letzten Stunden rundet sich hier die Gestalt vom ‚Zauberer‘, ‚Meister‘ und ‚Weisen‘ Heidegger ab, wie er den Augen seiner Lehrlinge (Müller besteht darauf: nicht ‚Jünger‘) erschienen sein soll.
[16] Gerhard Falkner: „Hölderlinreparatur“, in: Hölderlinreparatur. Gedichte, Berlin 2008.