Frau Baerbocks Auftritt vor der UN-Vollversammlung: Eine ikonographische Analyse
Von Veronika Surau-Ott (Greifswald) und Konrad Ott (Kiel)
Nicht erst im Zeitalter digitaler Technologien wird Kriegspolitik medial inszeniert. Solche medialen Inszenierungen können beabsichtigt und geplant sein. Sie dienen dann der Desinformation, der Verunsicherung und der Entmutigung. Dies ist ordinäre Propaganda („phony war“). Sie können sich aber auch spontan und ungeplant ereignen. Dann greifen sie, ohne dass dies von den Akteuren beabsichtigt sein mag, zurück auf die uns allen eingeprägte Symbolsprache, die moralischen Codierungen unserer Kultur, die in der symbolisch strukturierten Lebenswelt „menschheitlich“ verwurzelt sind. Tiefe kulturelle Deutungsmuster, Archetypen und lebensweltliche Überzeugungen, die in gewisser Weise für uns unhintergehbar sind, verschränken sich und treten spontan und unverhofft in Kontexten auf, in denen sie normalerweise nicht vorgesehen sind. Solche sprachlich vermittelten Szenen sind darum so wirkmächtig, weil sie nicht vollauf bewusst inszeniert werden, sondern in ihrer Performanz an archetypischen Bildern und Narrativen partizipieren.
Zu einer solchen Szene zählen wir den Auftritt der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock am 1. März 2022 bei der Notstandssondertagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN). Es geht im Folgenden nicht primär um die inhaltliche Analyse ihrer Rede, sondern um die Symbole und Narrative, die sowohl optisch als auch rhetorisch transportiert wurden. Frau Baerbock ist neu im Amt und gilt als unerfahren. Die „große“ Bühne war für sie neu. Die UN-Hauptversammlung ist bekanntlich kein Parlament, sondern ein permanent tagender Diplomatenkongress. Hier gelten Regeln diplomatischer Rede, die restriktiver sind als die Regeln parlamentarischer Debatte. Sie erlegen Zurückhaltung auf. Diplomaten und Diplomatinnen sind illusionslose „professionals“. Viele sehen die Welt der internationalen Beziehungen aus der Perspektive der auf Hobbes und Hegel zurückgehenden, sog. realistischen Schule. Auch das Auswärtige Amt ist eine hohe Schule der Besonnenheit.
Zunächst einmal stand mit Annalena Baerbock statt eines „white old man“ eine (für die Bekleidung hoher Staatsämter) recht junge Frau vor der Vollversammlung. In die Welt, die durch den russischen Einmarsch nunmehr im Zeichen von „Mars“, des antiken Kriegsgottes, steht, erscheint in leiblicher Präsenz ein gegensätzliches venerisches Moment, gleichsam die Verkörperung der Thematik von „Venus und Mars“ während des Irak-Krieges, als die neo-realistischen Militärs um G. W. Bush den Europäern vorhielten, sie dächten zu sehr im Geiste von „Venus“. Das weibliche Moment des Auftritts ist politisch kontingent, aber es ist wohl symbolisch wirksam für die Vertreter*innen der vielen Nationen, in deren Bevölkerung tradierte Assoziationen von Weiblichkeit, Mütterlichkeit und Fürsorge noch in Geltung sind. [1]
Frau Baerbock begann ihre Rede, nach diplomatischen Standards überraschenderweise, mit einer Geburtserzählung. Ein Baby wird an einem Unort geboren: in einer U-Bahn-Station in Kiew. Als christlich geprägtes Abendland sind wir sensibilisiert für diese Erzählung. Es ist, die Konfessionen der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirche übergreifend, die uns gemeinsame Weihnachtsgeschichte. Maria muss auf Befehl eines imperialistischen Herrschers ihr Kind an einem Unort zur Welt bringen, in einem Stall. Auch wenn dies unter antiken Bedingungen eher ein Ort der Ruhe vor den überfüllten Herbergen war und damit ein Schutzraum für die Gebärende, normal ist dieser Ort nicht, genauso wenig wie die U-Bahn-Station, die Sicherheit vor Raketenangriffen bieten soll. Frau Baerbock macht die Vollversammlung zu Zeugen dieser Geburt. Philosophisch gesehen, klingt das Motiv der Natalität an (Hannah Arendt). Die Geburt ist ein neuer Anfang, ein Anrecht auf ein Leben in Würde und zugleich wird durch die extreme Schutzbedürftigkeit des Säuglings die Prekarität menschlichen Daseins insgesamt erkennbar. Das Neugeborene ist in der Ethik von Hans Jonas eine phänomenale Evidenz: Sieh nur hin und du weißt um moralische Verantwortung. Der Mord der unschuldigen Kinder, dessen sich Herodes in der Legende schuldig macht, ist das abscheulichste aller Verbrechen.
Das Bild der jungen Mutter, die ihr Neugeborenes in den Armen hält, ist ein Archetyp, der in allen Kulturen dieser Welt zu finden ist. Die slawische Kultur hat dieses Bildmotiv in ihren Ikonen innig dargestellt. Dieses Bild ist aber in der christlichen Ikonographie auch ein Vexierbild, es zeigt zugleich die „Pieta“, das Bild der Mutter, die ihren toten Sohn betrauert, und es verweist dadurch auch auf die Skulptur von Käte Kollwitz an der Neuen Wache in Berlin und damit auf Leid, Trauer, Angst und Sorge aller Mütter aller Soldaten dieses Krieges. Diese Trauer ist die stärkste mögliche existentielle Negation der Natalität. Dieser assoziative und symbolische Verweisungszusammenhang mag in der westlichen Kultur stärker ausgeprägt sein als in anderen Kulturen, aber kaum jemand wird sich ihm vollständig entziehen können. Er erschließt ein Moment der Lebenswelt.
Vielsagend ist auch der Name, der diesem kleinen Mädchen gegeben worden ist: Mira. Die weibliche Kurzform des altslawischen Namens Miroslaw, was „der Berühmte, der Friedliche“ bedeutet. Mitten im Krieg wird ein Kind geboren, und sein Name soll ein Hoffnungszeichen sein. Das russische Grundwort ist „mir“ (Friede), das im Russischen häufig in Verbindung mit dem Wort für Freundschaft gesprochen wird: „mir i druschba“ (kyrillisch: Мир и дружба ). Damit ist Mira das lebendige Symbol für die Negativität des Jetzt-Zustandes, der das extreme Gegenteil von „mir i druschba“ ist. Es ist ja auch in russischer Tradition das „Brudervolk“, das angegriffen wird. Es ist ja die „Mutter“ der russischen Städte, Kiew, die eingekesselt, belagert, zerstört und erobert werden soll. Der Name „Mira“ symbolisiert kategorisch: „Einhalt! Schluss mit dem Irrsinn!“
Das Narrativ einer symbolischen Namensgebung ist tief verwurzelt in den drei Ausprägungen der abrahamitischen Religion: Judentum, Christentum, Islam. Biblisch-christlich kennen wir es aus den alttestamentlichen Verheißungen der Propheten, die untrennbar mit der Weihnachtserzählung verbunden sind. Selbst wenn wir agnostisch oder atheistisch denken, so haben wir doch wohl alle einmal die altjüdische Prophetie gehört, die in der Liturgie des Weihnachtsfestes gesprochen wird, so vor allem Jesaja (9, 1-6): „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn daher geht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“. Die messianische Hoffnung ist verbunden mit der Absage an Stiefel, die besiegte Feinde in den Staub treten, und an Mäntel, an denen Menschenblut klebt.
Frau Baerbock verbindet in ihrer Rede immer wieder Friede und Gerechtigkeit. Auch dies ist kultureller Bestand: Güte und Treue sollen einander begegnen, Friede und Gerechtigkeit sollen sich küssen und umarmen, so heißt es im Psalm 85. Die küssende Umarmung von Frieden und Gerechtigkeit symbolisiert deren enge Zusammengehörigkeit. Ein ungerechter Angriffskrieg negiert sie beide zugleich. Diese immanente Korrelation von Frieden und Gerechtigkeit ist lebensweltliches Wissen, wie in der Negation klar wird: ungerechte Zustände sind niemals friedvoll und Unfrieden führt nicht zu Gerechtigkeit.
Vor dem Hintergrund der Verbindung beider Narrative ist der rhetorisch zugespitzte[2] Vorwurf an Russland vernichtend: „Sie sagen, Russland schickt Friedenstruppen. Aber Ihre Panzer bringen kein Wasser, Ihre Panzer bringen keine Babynahrung, Ihre Panzer bringen keinen Frieden. Ihre Panzer bringen Tod und Zerstörung.“[3]
Frau Baerbock trug bei dieser Rede ein wadenlanges, in Falten schwingendes himmelblaues Kleid. Nach dem „dress code“ der Diplomatie war das Kleid auffällig, ja fast dem Anlass unangemessen. In unserer Kultur haben Farben auch eine symbolische Bedeutung und Blau steht für das Geistige, das Objektive, aber auch für Verlässlichkeit und Sanftmut. In unserer religiösen Tradition steht Blau für den himmlischen Bereich, für das Göttliche und Geistige. Das blaue Kleid hatte eine Art Schleppe, die in Falten schwingend war. Wir kennen solche wallenden Gewänder kunstgeschichtlich aus der Ikonographie der Engel, der Boten Gottes. In der slavischen Tradition der Ikonenmalerei wird Maria häufig im blauen Gewand dargestellt. Am 4. März erschien in der Ostsee-Zeitung das Bild eines 56jährigen Mannes, der in die Ukraine zurückkehren will, um zu kämpfen. Vor ihm lag der Tarnanzug und über ihm hing, liebevoll geschmückt, eine Ikone der Gottesmutter im weiten blauen Gewand vor blauem Himmel. Frau Baerbock ist freilich weder ein Engel noch die Gottesmutter, doch mit ihrem Auftritt in Himmels-Blau hat sie (unbewusst) einen Code aufgerufen, in dessen Horizont die Geschehnisse interpretiert werden können und sollen.
In säkularer Tradition steht die Farbe Blau für die Idee der vereinten Nationen. Die Flagge der Vereinten Nationen zeigt auf einem himmelblauen Flaggentuch den Erdkreis in Weiß, umrahmt von zwei Olivenzweigen. Es ist bekannt, dass der Völkerbund, die Vorgängerin der Vereinten Nationen, unter Rekurs auf Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ gegründet wurde, in der Kant aufforderte, die Kriege aus ihren Ursachen heraus zu bekämpfen. Eine Ursache war und ist der Despotismus von Alleinherrschern, deren mentale Zustände sich über die Zeit hinweg kontingent ins Schurkische ändern mögen. Seit alters her sprechen wir von „Cäsarenwahn“.
Frau Baerbock repräsentierte auch, aber nicht nur Deutschland, an dessen besondere Verantwortung als ehemaliger Kriegsaggressor sie erinnerte. Sie appellierte, kantisch gesprochen, an die „Menschheit in der Person“ eines und einer jeden. Die „Menschheit in der Person“ ist bei Kant das, was unsere Menschlichkeit ausmacht. In der Konzeption der „Menschheit in der Person“ kehrt all das wieder, von dem in der Ethik Kants zum Zwecke der Begründung des Kategorischen Imperativs (als eines synthetischen Satzes aus reiner praktischen Vernunft) abstrahiert werden musste, nicht zuletzt moralische Gefühle wie Empathie, Fürsorge, Mitleid, Empörung, Wut, Entsetzen über Unrecht, Hilfsbereitschaft. Diese Konzeption der „Menschheit in der Person“ wurde später von Herder zur Idee der Humanität, die sich durch geschichtliche Erfahrungen herausbildet.[4] Kant und Herder sind sich mit Michael Walzer einig: „War is hell“. Die „Menschheit in der Person“ ist eine Chiffre für die Lebenswelt.
Frau Baerbocks Gesicht war während ihrer Rede voller Emotionen und „bewegt“: Lächeln, Betroffenheit, Hingabe und Engagement, aber auch Wut, Empörung und Trotz. Mit dieser Lebendigkeit gewann und fesselte sie die Aufmerksamkeit der Delegierten. Gesichter sprechen Bände. Wer genau hinsah, dem fiel in den Tagen vor und nach dem Einmarsch der russischen Truppen auf, wie sich die Gesichter von Putin und Lawrow veränderten, Ernst Bloch hätte gesagt: zur Kenntlichkeit. Als Putin und Lawrow ihre Statements abgaben, schien Lächeln, Freundlichkeit, Empathie, d.h. all das, was uns für einen Menschen einnimmt, was ihn sympathisch macht, aus dem Gesicht gewichen zu sein. Mit Levinas gesagt: Das Antlitz selbst wich aus ihren Gesichtern. So zeigten sich in den Medien auf der einen Seite die frostigen, ja masken- und fratzenhaften Gesichter Putins und Lawrows, auf der anderen Seite das emotional bewegte, aber glaubwürdig wirkende Gesicht Baerbocks. Bei Lawrows im Menschenrechtsausschuss der UN kalt und steif abgelesener Rede verließen Diplomat*innen zu Dutzenden den Raum. Selbst Zuhören kann unerträglich werden. Baerbock hingegen fesselte die Aufmerksamkeit der Vollversammlung. Da stand plötzlich nicht mehr „Position gegen Position“ auf dem Schachbrett der Diplomatie. Der Geist der UN wurde zum Leben erweckt: Unrecht, das an einem Ort der Welt begangen wird, soll an allen Orten gefühlt werden. Vielleich kann man sogar so weit gehen, dass die Vollversammlung selbst sich veränderte: Sie wurde zum universellen Auditorium im Zeichen menschheitlich-lebensweltlichen Mitgefühls. Nach dem Ende der Rede applaudierte die Vollversammlung, was nach diplomatischen Maßstäben ungewöhnlich ist. Viele Delegationen und die hinter ihnen stehenden Regierungen könnten womöglich ins Grübeln geraten sein, ob sie nach ihren nationalstaatlichen Interessen im Verhältnis zu Russland oder nach normativen Prinzipien abstimmen sollten. Am Ende stimmten 141 Delegationen der Resolution zu (und nur 5 gegen sie), wobei vor der Abstimmung in Diplomatenkreisen schon 100 Stimmen als Erfolg galten.
Wir glauben nicht, dass Frau Baerbock und der Stab des Auswärtigen Amtes, der an der Abfassung dieser Rede mitwirkte, diese von uns explizierte Symboldimension der Rede planmäßig inszeniert hat. Es war keine theatralische Machenschaft, bei der man die Absicht ahnt und deshalb verstimmt ist. Wirkmächtig kann jedoch nur das sein, was den Ideen von Vernunft und Freiheit gemäß ist. So kann in diskursethischer Perspektive eine wirkmächtige Inszenierung die normative Rechtfertigung nicht ersetzen. Setzt man allerdings voraus, dass es a) stricto sensu keine gerechten, sondern allenfalls gerechtfertigte Kriege geben kann, dass b) die Verteidigung gegen eine Aggression und humanitäre Interventionen die einzigen zählbaren Rechtfertigungsgründe im Sinne eines ius ad bellum sind, und c) dass die Ukraine weder Russland bedroht noch Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine begangen hat, so ist eindeutig, wer im Unrecht ist. Die solide normative Rechtfertigungsbasis in Verbindung mit der symbolisch aufgeladenen Redeszene erbringt eine Verurteilung des Aggressors, die über ein völkerrechtliches Urteil hinausreicht.
So gesehen, hat Putin verloren. Er hat völkerrechtswidrig gehandelt, er ist außenpolitisch isoliert, der Westen steht ihm einig gegenüber, er wird ökonomisch hart abgestraft, er muss militärische Verluste politisch verkraften und es regt sich auch in Russland mutiger Protest unter Wissenschaftler*innen, pensionierten Offizieren und sogar Oligarchen. Er kämpft in der Ukraine nicht nur gegen eine Armee, sondern gegen ein Volk. Putin unterliegt auch – und das ist das Verdienst der Rede von Annalena Baerbock – auf der Ebene der symbolisch strukturierten Lebenswelt, die tief in die „Menschheit“ und in die elementaren Unterscheidungen von „gut und böse“ hineinreicht. Mit Habermas gesagt: Putin handelt den normativen Institutionen des Völkerrechts zuwider und er verletzt die Lebenswelt der Menschheit. Die Rede der Außenministerin hat ins Mark getroffen, nicht nur uns.
Dr. theol. Veronika Surau-Ott, geb. 1960, arbeitet an der Universität Greifswald als Lektorin für Latein. Forschungsschwerpunkt im Bereich Systematische Theologie und Religionsphilosophie zu einer Theorie performativer Glaubensakte.
Prof. Dr. phil. Konrad Ott, geb. 1959, ist Professor für Philosophie und Ethik der Umwelt an der Unversität Kiel. Forschungsschwerpunkte: Diskursethik, Umweltethik, Nachhaltigkeit, Klimaethik.
[1] Wir bezweifeln, ob sich solche archetypischen Symbole durch konstruktivistische gender-Theorien neutralisieren lassen, gehen aber auf diesen Punkt nicht weiter ein.
[2] Rhetorisch betrachtet handelt es sich um einen Parallelismus mit antithetischer Klimax.
[3] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2514698, 3.3.2022, 9:44 Uhr
[4] Vor einigen Jahren hat ein Autor dieses Textes geschrieben, dass der Krieg bei allen Beteiligten, die ihn führen, ihm ausgesetzt sind oder vor ihm fliehen müssen, die „Menschheit in der Person“ devastiert oder beschädigt. Diese Devastierungen beginnen schon, sobald man zu klügeln beginnt, wie man politisch Gewinn aus einem Krieg schlagen könne. Konrad Ott: „Allgemeine Ethik und praktische Philosophie“, in: Handbuch Friedensethik, hg. Werkner, Ebeling, Heidelberg: Springer 2017, S. 79-92, insbesondere S. 89f.