Zum 250. Geburtstag: über Schlegels „wirklich schlechtes Buch“ und warum es gelesen werden sollte
Von Max Brinnich (Wien)
Friedrich Schlegel wurde sicher für vieles hochgerühmt, für manches aber gleichermaßen tief verdammt: sein Konzept der Universalpoesie etwa, das keine Grenzen mehr kennt, zwischen Literatur und Philosophie einerseits und zwischen Kunst und Natur und Leben und Poesie andererseits, oder auch sein frühes Verständnis der Grundzüge der hermeneutischen Methode und des Perspektivenwechsels, den diese erforderlich macht – dass einen Text zu verstehen eben weit weniger bedeutet, den ursprünglichen Intentionen seines Autors nachzuspüren, sondern vielmehr selbst Hand anzulegen, selbst Kritik zu üben –, aber auch seine tragende Rolle innerhalb der Romantik und noch vieles mehr haben ihn zeitlebens als feingeistigen Denker bekannt und später dann zu einer zentralen Figur der deutschsprachigen Ideengeschichte gemacht. Weniger bekannt sind seine literarischen Bemühungen. Diese haben seinen Ruhm nicht gerade vermehrt.
Das mag zunächst daran liegen, dass Schlegel sich zeitlebens wenig Freunde machte, indem er vielen Werken seiner Zeitgenossen teils verheerende Versäumnisse und Verfehlungen attestierte und dabei alles andere als unparteiisch im Sinne seiner Vorstellungen, aber auch derjenigen seiner romantischen Mitstreiter agierte. Das mag aber auch daran liegen, dass, was an seinen literarischen Bestrebungen das Licht der Öffentlichkeit erblickte, nicht mehr ist als ein einziger lange angekündigter und dann ebenso schnell in Verruf geratener Roman: die Lucinde. Hinzu kommt noch, dass dieses Buch so unverkennbar biographische Züge offenbart, so direkt aus dem Leben gegriffen zu sein scheint. Und dann auch noch dieser spezifische Inhalt: die Lucinde scheint Schlegels an sich schon skandalträchtige Beziehung zu Dorothea Veit auf äußerst unverhüllte und für die damalige Zeit dementsprechend skandalträchtige Weise zur Schau zu stellen.[1]
Das alles hat eine positive Rezeption der Lucinde nicht gerade begünstigt. Der Text sei schlicht „unsittlich“, so fasst Wilhelm Dilthey den Tenor der Kritiker knapp zwanzig Jahre nach dessen Erscheinen schließlich zusammen. Dilthey nimmt dabei absolut kein Blatt vor den Mund: “Ich beabsichtige nicht zu beweisen, daß der Roman Friedrich Schlegels sowohl unsittlich als dichterisch formlos und verwerflich ist. Diese Einsicht bedarf keiner Begründung mehr.”[2]
Dass der Roman so schlechte Kritiken erhielt und im Vergleich zu den anderen Werken Schlegels doch schnell in Vergessenheit geriet, könnte aber auch an etwas anderem gelegen haben, an etwas, das gleichwohl in Verbindung damit steht – etwas, das Dilthey bereits anspricht, wenn er Schlegels Lucinde eben nicht nur als unsittlich, sondern im selben Zuge und darüber hinaus auch als „dichterisch formlos“ klassifiziert. Diltheys Kritik zieht, gewollt oder ungewollt, eine Verbindung zwischen dem Unsittlichen des Romans, womit im Fall der Lucinde kaum etwas anderes gemeint sein kann als die etwas expliziten Darstellungen der Liebeziehung der beiden Hauptfiguren, die, so könnte man meinen, die niederen Sinne ansprechen und reizen sollen, und der dichterischen Formlosigkeit der Schrift. Dilthey steht hier, das ist unschwer zu erkennen, in einer langen Tradition, die er sehr wohlwollend fortführt, wenn er diese Verbindung zieht: was schön ist, soll – im kantischen Sinne – interesselos und wohl gefallen.[3] Schlegels Lucinde reizt aber die Sinne und aus dieser Perspektive und ausgehend von dem kantischen Paradigma eines interesselosen Wohlgefallen ist sie eben, wie Dilthey anderenorts dann auch festhält, ein „wirklich schlechte[s] Buch[]“[4] – dazu braucht es auch keinerlei weitere Begründung mehr.
Allerdings könnte man sich hier fragen, ob Kunst nicht auf interessieren darf, und, wenn ja, wen eine solche Kunst, wen ein solches Kunstwerk wie die Lucinde interessieren könnte. Interessieren könnte es grundsätzlich jene, die die kantische Ästhetik von Grund auf schon nicht teilen und die in den Worten Bourdieus im Sinne einer anti-kantischen Ästhetik vom Kunstwerk demensprechend gerade das Gegenteil von einem interesselosen Wohlgefallen erwarten, nämlich dass „es eine Funktion erfülle“.[5] Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass auch Schlegel der Ansicht war, dass interesseloses Wohlgefallen in der Poesie, hervorgerufen durch die „Zweckmäßigkeit ihres zwecklosen Spiels“, das Höchste sei, das es in den schönen Künsten zu erreichen gelte[6] – wer Schlegels Lucinde also in diesem Sinne lobt, tut dies zumindest wider die Absichten ihres Autors, was Schlegels Leistung zumindest insofern minderte, als, was er mit der Lucinde erreicht hätte, dann mehr das Produkt des Zufalls als seiner künstlerischen Intentionen wäre.
Interessieren könnte die Lucinde aber auch, wer, wiederum im Sinne Bourdieus, der Ansicht ist, dass sowohl die ästhetischen Intentionen, aus denen heraus ein Werk geschaffen wird, als auch die ästhetische Perspektive und der entsprechende Habitus des Rezipienten ein Produkt gesellschaftlicher Konventionen sind und das beides auch Teil einer Klassenauseinandersetzung und historisch gewachsen ist.[7] Denn dieses philosophische Theorem scheint in Schlegels Lucinde geradezu zu ästhetischer Praxis geronnen: indem dieses Buch in stofflicher Rücksicht eine zur damaligen Zeit prekarisierte Form der Liebe aus erzählerischer Perspektive scheinbar ohne jede Form darbietet – die Lucinde erscheint auf den ersten Blick als ein Sammelsurium aus einer Vielzahl nur lose verbundener kleiner literarischer Formen wie etwa der Allegorie oder der Charakteristik – regt sie dazu an, das Geschriebene in einem verstärkten Maße selbst erst zu erzählen. Durch die eigene kritische Lektüre wird dem Stoff also die zunächst noch fehlende Form erst verliehen, und zwar je nach der eigenen, historisch gewordenen ästhetischen Perspektive. Auf diese Weise haucht die Lektüre dem Geschriebenen nicht nur auf immer neues Leben ein und der Text wird sozusagen selbst lebendig, sondern er regt, indem er erst erzählt werden möchte, an der Schnittstelle zwischen Ethik und Ästhetik auch dazu, die in diesem Buch stoffliche eingeschriebene Form der Liebe durch die eigene Erzählung nachzuleben und somit zu verstehen.
Und diese Leseart wird Schlegels Lucinde in jedem Fall gerechter – nicht nur, weil sie deren Selbstverständnis, „das schönste Chaos von erhabnen Harmonien und interessanten Genüssen nach[zu]bilden und [zu] ergänzen“,[8] etwas mehr entspricht, oder, weil sie jene geschichtliche Dimension des ästhetischen Schaffens und Geschmacks würdigt, von der Schlegel – wenn auch mit Sicherheit auf andere Weise als Bourdieu – zutiefst überzeugt war. Diese Leseart wird Schlegels Lucinde vor allem deshalb gerechter, weil sie die in diesem literarischen Werk eingeschriebene ästhetische Praxis besser widerspiegelt, dem Leser und der Leserin eine Lebensform frei von moralischen Werturteilen und allen zeitgenössischen Imperativen der Sittlichkeit auf eine Weise anzubieten, sodass man das Geschriebene erst selbst erzählen muss und somit selbst durchlebt.[9]
Hierzu noch eine kurze Anmerkung: Der französische Philosoph Jaques Rancière geht davon aus, dass ästhetisch autonome Werke, gerade, indem sie frei von allen äußeren Interessen zur Schau stellen, was sonst ungesehen bleibt, auf apolitische Weise politisch wirken können, sodass sie etwa im Blick auf prekarisierte Lebensformen zu einer „Fremdheit des widerständigen Scheins [führen], die vom nicht notwendigen oder unerträglichen Charakter einer Welt zeugt“.[10] Im Blick auf Schlegels Lucinde könnte man hier sagen, dass es gerade das ist, was dieses in den Augen Dilthey „wirklich schlechte Buch[]“ auch 250 Jahre nach dem Geburtstag seines Autors noch immer lesenswert macht, dass es eine zu seiner Zeit prekarisierte Form der Liebe widerspiegelt und dabei die Möglichkeit bietet, sich selbst ein Bild zu machen, selbst Hand anzulegen und dem Geschriebenen durch seine kritische Lektüre erst eine Stimme zu verleihen.
Quellenverzeichnis
Pierre BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main 19968.
Ulrich BREUER, Lebensstationen, in: Johannes Endres (Hg.), Friedrich Schlegel – Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, 1–32.
Max BRINNICH, Die literarische Romantik: zwischen Ästhetik, Ethik und Didaktik. Postmoderne Relektüre mit didaktischem Bezug. Stuttgart 2021.
Wilhelm DILTHEY, Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6. Göttigen: Vandenhoeck & Ruprecht 19624.
Wilhelm DILTHEY, Fragmente aus dem Nachlass, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Karlfried Gründer/Frithjof Rodi, Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus, hg. v. Martin Redeker. Göttingen 19906.
Wilhelm DILTHEY, Leben Schleiermachers, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Karlfried Gründer/Frithjof Rodi, Bd. 13: Leben Schleiermachers, Bd. 1, Halbbd. 1: 1768–1802, hg. v. Martin Redeker. Göttingen 1970.
Jaques RANCIÈRE, Das Unbehagen in der Ästhetik. Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard, hg. v. Peter Engelmann, 3. überarb. Aufl. Wien 2016
Friedrich SCHLEGEL, Lucinde, in: ders., Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hg. v. von Ernst Behler et al., Bd. 5: Dichtungen, hg. u. eingel. v. Hand Eichner (= KFSA 5). München 1962.
Friedrich SCHLEGEL, Die Griechen und die Römer. Historische und kritische Versuche über das klassische Alterthum. ders., Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hg. v. von Ernst Behler et al., Bd. 1: Studien des klassischen Altertums, hg. u. eingel. v. Ernst Behler (= KFSA 1). München 1979.
[1] Vgl. Ulrich BREUER, Lebensstationen, in: Johannes Endres (Hg.), Friedrich Schlegel – Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, 1–32, hier: 10
[2] Wilhelm DILTHEY, Leben Schleiermachers, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Karlfried Gründer/Frithjof Rodi, Bd. 13: Leben Schleiermachers, Bd. 1, Halbbd. 1: 1768–1802, hg. v. Martin Redeker. Göttingen 1970, 496.
[3] Wilhelm DILTHEY, Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6. Göttigen 19624, 118.
[4] Wilhelm DILTHEY, Fragmente aus dem Nachlass, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Karlfried Gründer/Frithjof Rodi, Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus, hg. v. Martin Redeker. Göttingen 19906, 362.
[5] Pierre BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main 19968, 82.
[6] Friedrich SCHLEGEL, Die Griechen und die Römer. Historische und kritische Versuche über das klassische Alterthum. ders., Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hg. v. von Ernst Behler et al., Bd. 1: Studien des klassischen Altertums, hg. u. eingel. v. Ernst Behler (= KFSA 1). München 1979, 275.
[7] Pierre BOURDIEU, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main 19968, 57 ff.
[8] Friedrich SCHLEGEL, Lucinde, in: ders., Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hg. v. von Ernst Behler et al., Bd. 5: Dichtungen, hg. u. eingel. v. Hand Eichner (= KFSA 5). München 1962, 9.
[9] Vgl. hierzu näher: Max BRINNICH, Die literarische Romantik: zwischen Ästhetik, Ethik und Didaktik. Postmoderne Relektüre mit didaktischem Bezug. Stuttgart 2021.
[10] Jaques RANCIÈRE, Das Unbehagen in der Ästhetik. Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard, hg. v. Peter Engelmann, 3. überarb. Aufl. Wien 2016, 53.