2022: 100 Jahre Kuhn, 60 Jahre Structure

Von Paul Hoyningen-Huene (Zürich)


Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (SSR)

Die bedeutendste Einzelpublikation in der Wissenschaftsphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Thomas Kuhns Buch von 1962 Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen (SSR). Das Buch hat aus dem früher etwas exotischen Wort «Paradigma» ein Wort der Alltagssprache gemacht. Es sind weit über eine Million Exemplare des Werks auf Englisch und mehr als zwei Dutzend Übersetzungen erschienen. Dieses Buch hat eine enorme Wirkung auf eine grosse Zahl von Disziplinen ausgeübt. Das ist sehr erstaunlich, denn schon aus dem Inhaltsverzeichnis von SSR wird ersichtlich, dass Kuhn ein allgemeines Entwicklungsschema (oder «Phasenmodell») der Wissenschaftsentwicklung aufstellt, und dies eingeschränkt auf die Grundlagendisziplinen der Naturwissenschaften, vor allem Astronomie, Physik und Chemie. Wieso sollte das eine breitere akademische Öffentlichkeit ausserhalb der Naturwissenschaftsgeschichte interessieren? Dazu werde ich weiter unten kommen. Zunächst aber müssen wir Kuhns Ausgangspunkt in SSR behandeln, der ihn zu seinem Phasenmodell der Wissenschaftsentwicklung führt.

Der Ausgangspunkt von SSR

Das erste Kapitel von SSR beginnt mit einem viel zitierten Satz, der prägnant beschreibt, worum es bei SSR geht: «Wenn man die Geschichte als mehr als eine Abfolge von Anekdoten oder als eine blosse Chronologie betrachtet, dann könnte sie das Bild der Wissenschaft, von dem wir heute besessen sind, entscheidend verändern.» Hier bezieht sich Kuhn auf zwei unterschiedliche Ansätze der Wissenschaftsgeschichte, d.h. auf zwei unterschiedliche historiographische Traditionen.  Für die ältere historiographische Tradition war das vorherrschende Ziel, ein tieferes Verständnis der zeitgenössischen Wissenschaft durch die Darstellung ihrer historischen Entwicklung zu erreichen. Dies sollte durch eine chronologische Darstellung der Entdeckungen der Konzepte, Theorien, experimentellen Methoden usw. der heutigen Wissenschaft erreicht werden. Das Bild der wissenschaftlichen Entwicklung, das sich daraus ergab, war notwendigerweise kumulativ: Die Wissenschaft wächst Schritt für Schritt und fügt neue Erkenntnisse zu den bereits vorhandenen hinzu. Diese Form der Geschichtsschreibung verzerrt jedoch unweigerlich die Darstellung der älteren Wissenschaft, indem sie die heutige Wissenschaft in die Vergangenheit projiziert. Stattdessen versucht die so genannte «neue Wissenschaftsgeschichtsschreibung» die historische Integrität einer Wissenschaft in ihrer eigenen Zeit darzustellen. Genauer gesagt müssen die Begriffe, die Forschungsprobleme und die Bewertungsmaßstäbe einer älteren Wissenschaft historisch adäquat rekonstruiert werden, was heisst, dass sie in ihrem eigenen Kontext verstanden werden müssen, und nicht aus heutiger Perspektive. Kuhns Projekt ist an diese neue Wissenschaftsgeschichtsschreibung gebunden, an deren Institutionalisierung in den USA er selbst massgeblich mitgewirkt hat. Das Ziel von SSR ist es, ein neues Bild der Wissenschaft zu entwerfen, «indem einige der Implikationen der neuen Geschichtsschreibung explizit gemacht werden».

Das Phasenmodell der Wissenschaftsentwicklung

Das Bild der Wissenschaft, das sich aus dieser neuen Art von Geschichtsschreibung ergibt, ist das schon genannte Phasenmodell der Wissenschaftsentwicklung. Ein allgemeines Entwicklungsschema oder Phasenmodell der Wissenschaft stellt die Entwicklung eines Gebietes als eine Abfolge verschiedener Phasen vor. Bei Kuhn sind das die Phasen «vornormale» Wissenschaft, «normale» Wissenschaft und «außerordentliche» oder «revolutionäre» Wissenschaft.

Bevor sie ihre Reife erlangen, sind neu entstehende wissenschaftliche Bereiche typischerweise durch Kontroversen und Wettbewerb zwischen konkurrierenden Schulen gekennzeichnet; es gibt keinen allgemeinen Konsens unter den Praktikern des entstehenden Bereichs über seine Grundlagen. Diese Phase der Wissenschaft heisst bei Kuhn «vornormale Wissenschaft». Der Wettbewerb zwischen den Schulen kann schließlich enden, wenn einer Gruppe eine herausragende Lösung für ein oder mehrere fundamentale Forschungsprobleme gelingt, die zwei Merkmale aufweist: Die Lösung ist so außergewöhnlich überzeugend, dass der Eindruck entsteht, dass das entsprechende Gebiet nun auf soliden Fundamenten steht. Und diese epistemische Eigenschaft der Lösung hat den sozialen Effekt, dass sie die Mitglieder der anderen Schulen anzieht, denn sie verspricht die fruchtbarste wissenschaftliche Arbeit in der Zukunft. Das führt dazu, dass die konkurrierenden Schulen sich ausdünnen und schliesslich absterben, so dass nur noch eine Schule übrigbleibt.

Jetzt sind wir in der Phase der sogenannten «normalen» Wissenschaft angekommen; «normal» ist diese Phase in dem Sinn, dass sie den statistischen Normalzustand der entwickelten Naturwissenschaften darstellt. Die siegreiche Lösung des oder der fundamentalen Forschungsprobleme ist nun allgemein in der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt und bildet die Grundlage der weiteren Arbeit. Sie wird deshalb als «Paradigma» bezeichnet; dieses griechische Wort bedeutet «Vorbild» oder «Musterlösung». Genau diese Rolle spielen Paradigmen in der Normalwissenschaft: Sie sind die Vorbilder für die weitere Forschung, die sich an ihnen ausrichtet. Es ist nach Kuhn nicht eine abstrakte «wissenschaftliche Methode», die die Wissenschaft bestimmt, sondern es sind Paradigmen, die konkrete Vorbilder für die weitere Forschung liefern. Das Vertrauen der Wissenschaftlergemeinschaft in die Paradigmen führt zu einer bestimmten Forschungspraxis, die einen überraschenden Zug aufweist: Sie lässt sich in Analogie zum Lösen von Rätseln beschreiben, zum Beispiel von Schachproblemen oder Kreuzworträtseln. Die Analogie besteht u.a. darin, dass es in beiden Fällen Regeln gibt, die für die jeweilige Tätigkeit konstitutiv sind und die daher von der Tätigkeit nicht in Frage gestellt oder bekräftigt werden. Zudem wird in beiden Fällen von der Existenz einer Lösung des Problems ausgegangen – für die Normalwissenschaft gilt das für richtig gewählte Probleme. Folglich kann keine der beiden Tätigkeiten als eine Prüfung oder Bestätigung der leitenden Regeln bezeichnet werden. So werden durch das Lösen eines Schachrätsels die Regeln des Schachspiels nicht wirklich getestet oder bestätigt, und analog dazu werden durch die Berechnung bestimmter Eigenschaften eines Atomkerns auch nicht die Regeln der Quantenmechanik getestet oder bestätigt. Dies widerspricht den Ansichten der Wissenschaftsphilosophie vor Kuhn, insbesondere dem logischen Empirismus und dem Falsifikationismus Karl Poppers.

Die normale Wissenschaft ist immer mit Anomalien konfrontiert, d. h. mit Phänomenen oder Problemen, die sich entgegen den vom Paradigma vorgegebenen Erwartungen verhalten. Normalerweise wird die Gültigkeit der Leitregeln der normalen Forschung durch eine Anomalie nicht in Frage gestellt. Unter besonderen Umständen kann dies jedoch der Fall sein, und dann werden aus (gewöhnlichen) Anomalien «signifikante» Anomalien, bei denen sich die Praxis der Wissenschaft in eine «außergewöhnliche» oder «revolutionäre» Wissenschaft  verwandelt. Diese Perioden zielen darauf ab, die zuvor verbindlichen Vorschriften zu ändern oder sogar zu stürzen. Die Forschung konzentriert sich in der Regel auf die signifikanten Anomalien und ihren Kontext. Wenn diese Forschung zu neuen Paradigmen führt, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiert werden und die alten Paradigmen ersetzen, dann hat eine wissenschaftliche Revolution im Sinne Kuhns stattgefunden. Wissenschaftliche Revolutionen sind, wie Kuhn es ausdrückt, „die traditionszerstörenden Ergänzungen zur traditionsgebundenen Tätigkeit der normalen Wissenschaft“ (SSR, S. 6). Die Verwerfung der alten Paradigmen geht einher mit einer Veränderung des Problemfeldes und der damit verbundenen Lösungsmaßstäbe sowie mit einer manchmal subtilen Veränderung der wissenschaftlichen Grundbegriffe. Revolutionen können sogar als Transformationen der Welt beschrieben werden, in der wissenschaftlich gearbeitet wird. In einem anderen Sinne ist die Welt jedoch immer noch dieselbe – aber es bedarf einiger Anstrengung, um diese beiden Aspekte revolutionärer Veränderungen miteinander in Einklang zu bringen.  Kuhn fasst diese Merkmale von Revolutionen in dem Begriff der „Inkommensurabilität“ zusammen: Diese Beziehung besteht zwischen aufeinander folgenden Traditionen der normalen Wissenschaft. In SSR ist das Konzept der Inkommensurabilität nicht ganz klar; es war daher Gegenstand umfangreicher Kritik und auch vieler Missverständnisse. Der größte Teil von Kuhns philosophischer Arbeit nach SSR zielt implizit oder explizit auf die Klärung und Weiterentwicklung des Inkommensurabilitätsbegriffs ab.

Nach Kuhn zwingt uns die Inkommensurabilität dazu, das Konzept des wissenschaftlichen Fortschritts zu überdenken. Erstens ist der Fortschritt in der Wissenschaft nicht kumulativ; das liegt an den konzeptionellen Veränderungen durch wissenschaftliche Revolutionen. Außerdem bestreitet Kuhn, dass wissenschaftlicher Fortschritt ein Prozess der Annäherung an die Wahrheit ist – eine Vorstellung, die auch bei Naturwissenschaftlern weit verbreitet ist. Anstatt den wissenschaftlichen Fortschritt als einen teleologischen, d. h. einen zielgerichteten Prozess zu verstehen, der der Wahrheit zustrebt, sollten wir ihn analog zur Darwinschen Evolutionstheorie betrachten. Die darwinistische Evolutionstheorie besagt, dass es kein Ziel der Evolution gibt, auf das sie ausgerichtet ist. In ähnlicher Weise gibt es in der wissenschaftlichen Entwicklung kein „gesetztes Ziel“, das „eine dauerhafte, feststehende wissenschaftliche Wahrheit“ wäre, der sich die Wissenschaft annähert (SSR, S. 173). Kuhn betont jedoch, dass dies nicht bedeute, dass es keinen Fortschritt in den Wissenschaften gäbe, wie er vielfach missverstanden wurde. Es gibt einen Fortschritt in den Wissenschaften, allerdings nicht in Form einer Zunahme der «Wahrheitsähnlichkeit», einer Annäherung an die Wahrheit. Es gibt vielmehr einen Fortschritt in Form einer „zunehmenden Artikulation und Spezialisierung“ des wissenschaftlichen Wissens (SSR, S. 172). Daher ist die weit verbreitete Charakterisierung von Kuhns Theorie als relativistisch schlicht falsch.

Die philosophische Bedeutung von SSR

Warum ist Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Entwicklung philosophisch bedeutsam? Warum haben Philosophen überhaupt Notiz von einer Theorie genommen, die im Wesentlichen historisch oder allenfalls eine induktive Verallgemeinerung aus historischen Episoden zu sein scheint? Der Grund für das philosophische Interesse an SSR ist, dass Kuhns Theorie vielen philosophischen Überzeugungen über die Wissenschaft zuwiderlief, die in den frühen sechziger Jahren vertreten wurden. Ich möchte auf sechs von ihnen eingehen. Ich habe bereits Kuhns veränderte Auffassung des wissenschaftlichen Fortschritts erwähnt.

Zweitens impliziert Kuhns Sichtweise die Unhaltbarkeit jener Formen des Realismus, die behaupten, dass die Wissenschaft zumindest annähernd beschreibt, was „da draußen“ wirklich ist, unabhängig von jedem Beobachter. Stattdessen beschreiben Theorien die Welt in Form von Begriffen, die historisch kontingent sind und sich in der Zukunft ändern können.

Drittens ist wegen dieses Wandels der wissenschaftlichen Grundbegriffe durch Revolutionen auch die in der Wissenschaftsphilosophie früher gängige Konzeption des Reduktionismus nicht haltbar. Nach dieser klassischen Auffassung können frühere Theorien auf ihre Nachfolgertheorien reduziert werden, z.B. die Mechanik auf die Quantenmechanik. Dazu werden die Begriffe der früheren Theorie mittels der Begriffe der Nachfolgertheorie redefiniert, ohne ihre Bedeutung zu verändern, und dann die Gesetze der früheren Theorie aus den Gesetzen der Nachfolgertheorie abgeleitet. Wenn jedoch zwischen dem betreffenden Theorienpaar Inkommensurabilität herrscht, kann diese Reduktionsbeziehung nicht bestehen, da einige der erforderlichen Redefinitionen aufgrund von Bedeutungsverschiebungen der involvierten Begriffe unmöglich sind. Tatsächlich ist, wie in Kuhns Werk nach SSR deutlicher geworden ist, die gegenseitige Unübersetzbarkeit einiger Schlüsselbegriffe der Theorien das Kennzeichen der Inkommensurabilität zwischen Theorien.

Viertens standen viele der Behauptungen von SSR in deutlichem Gegensatz zur Philosophie des kritischen Rationalismus von Popper, der damals die einzige philosophische Position war, die sich ernsthaft mit der wissenschaftlichen Entwicklung auseinandersetzte. So erscheint Kuhns normale Wissenschaft aus Poppers Perspektive geradezu als schlechte Wissenschaft, weil sie nicht auf eine kritische Prüfung der leitenden Regeln, sondern auf eine quasi-dogmatische Ausnutzung ihres Potentials gerichtet ist. Die kritische Evaluation fundamentaler Theorien ist bei Kuhn jedoch auf die Perioden der außerordentlichen Wissenschaft beschränkt, und selbst dann ist die wissenschaftliche Praxis nicht einfach ein Versuch, Theorien zu falsifizieren, indem man sie mit empirischen Aussagen konfrontiert, wie es Popper vorschwebt. Vielmehr handelt es sich bei der Theorieevaluation immer um ein vergleichendes Verfahren, bei dem mindestens zwei Theorien auf ihre Erkenntnisfähigkeit hin überprüft werden, insbesondere darauf, ob sie mit den signifikanten Anomalien, die den Krisenzustand erst verursacht haben, umgehen können. Die von Popper beschriebene Theorien-Falsifikation durch empirische Daten ist nach Kuhn ein Stereotyp, das in der tatsächlichen Wissenschaftsgeschichte nicht vorkommt.

Eine fünfte Konsequenz von Kuhns Theorie ist die Kritik der Vorstellung, dass die Wissenschaft von der wissenschaftlichen Methode geleitet wird, die als eine Reihe von Regeln verstanden wird, die strikt befolgt werden müssen. Diese Vorstellung, die vor allem auf Francis Bacon und René Descartes aus dem 17. Jahrhundert zurückgeht, hat das Verständnis der modernen Wissenschaft von Anfang an dominiert. Doch nach Kuhn leiten nicht abstrakte Regeln, sondern exemplarische Problemlösungen die wissenschaftliche Forschung in ihrer normalen Phase an. Ihr Erkenntnispotential für die Forschung wird gerade nicht durch explizite Regeln, sondern durch oft implizit bleibende Analogien ausgeschöpft. Neue Probleme werden im Lichte gelöster Probleme identifiziert, und ihre Lösungen werden im Blick auf die paradigmatischen Lösungen gefunden und als legitim beurteilt.

Der letzte Grund, warum SSR großes philosophisches Interesse hervorgerufen hat, ist die Tatsache, dass für Kuhn die Hauptakteure der Wissenschaft Gemeinschaften und nicht Individuen sind. In der wissenschaftsphilosophischen Tradition vor Kuhn waren die Hauptakteure der Wissenschaft immer Individuen; sie mussten die Regeln der wissenschaftlichen Methode anwenden. Das war typischerweise keine explizite These, die mit Argumenten belegt werden musste, sondern wurde als selbstverständlich angenommen. Mit einer Analogie kann man sagen, dass vor Kuhn die Wissenschaft ganz selbstverständlich als ein «ein-Personen-Spiel» angesehen wurde. In dieser Perspektive gibt es die Möglichkeit nicht, dass zwei Wissenschaftler auf rationale Weise uneinig sind. Mindestens einer der beteiligten Wissenschaftler muss bei Uneinigkeit einen Fehler machen. Entsprechend gab es auch keine philosophischen Diskussionen über die allmähliche Bildung eines wissenschaftlichen Konsenses aus einem Dissens, oder über die Entwicklung von Dissens aus einem zuvor etablierten Konsens. Bei allen Arten von (semantischen) Theorien der Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe, von Theorien der wissenschaftlichen Bestätigung oder der wissenschaftlichen Prüfung gab es immer höchstens eine und nur eine rationale Wahl oder Vorgehensweise. Niemand hatte eine nützliche, geschweige denn eine unverzichtbare Funktion für eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern entwickelt, in der verschiedene Individuen unterschiedlicher Meinung sein können, ohne dass mindestens eines von ihnen notwendigerweise irrational ist. Niemand hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass zwei Wissenschaftler dieselbe Theorie annehmen könnten, aber aus unterschiedlichen, aber jeweils guten Gründen. Für Kuhn ist die Wissenschaft aber kein ein-Personen-Spiel, sondern ein im Kern soziales Unternehmen. Es sind soziale Normen, die die Arbeit in wissenschaftlichen Gemeinschaften wesentlich beeinflussen. Es ist nicht trivial, genau zu bestimmen, auf welche Weise diese soziologische Perspektive in Kuhns Theorie einfließt und sich mit einer erkenntnistheoretischen Perspektive verbindet. Kuhns soziologische Perspektive wurde stark missverstanden, sowohl in der Philosophie als auch in der Soziologie. Der Philosoph Imre Lakatos glaubte in Kuhns soziologischer Perspektive lediglich eine Mob-Psychologie zu sehen, während viele SoziologInnen glaubten, Kuhn würde die Wissenschaftsphilosophie restlos soziologisieren. Das traf Kuhns Intentionen aber nicht, weil damit das erkenntnistheoretische Element völlig verloren gehen würde. Kuhn wollte weiterhin davon sprechen können, dass bestimmte wissenschaftliche Entscheidungen der Sache nach berechtigt sind, und nicht nur den konventionellen Normen der jeweiligen Gemeinschaft entsprechen. Wie dem auch sei, Kuhns Theorie hat auf die Wissenschaftssoziologie einen revolutionierenden Einfluss ausgeübt.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die enorme Bedeutung von SSR darin besteht, dass dieses Buch indirekt die moderne Wissenschaftsgeschichtsschreibung für alle diejenigen Disziplinen relevant gemacht hat, die sich mit Wissenschaft beschäftigen. Mit diesem Einfluss haben sich neue Sichtweisen auf die Wissenschaften ergeben, und dies hat in den Wissenschaften selbst zu erhöhter Selbstreflexion geführt. Dass diese Bewegung nicht zu einer einheitlichen Sichtweise geführt hat, scheint in der Natur der Philosophie zu liegen: Konsense gibt es hier nun einmal nicht.


Literatur:

Kuhn, Thomas S. (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2 ed. Frankfurt: Suhrkamp.

Hoyningen-Huene, Paul (2014): Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme. Wiesbaden: Springer Fachmedien.


Paul Hoyningen-Huene war bis 2014 Professor für Theoretische Philosophie, insbesondere Wissenschaftsphilosophie, an der Leibniz Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind die allgemeine Wissenschaftsphilosophie, die Philosophie verschiedener Einzelwissenschaften sowie die Wissenschaftsethik. Er ist Autor von Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns (1989, engl. 1993), Formale Logik (1998, engl. 2004) und Systematicity: The Nature of Science (2013). Seit 2014 lehrt er Philosophy of Economics am Department of Economics an der Universität Zürich.