Betrachtungen zum gelingenden Altern: Salutogenetische Perspektiven
von Ulrich Wiesmann (Universitätsmedizin Greifswald)
Einleitung
Nach Variante 4 der 14. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung befinden wir uns schon seit geraumer Zeit auf dem Weg in eine „alternde“ Gesellschaft. Dieser Trend wird in den nächsten vierzig Jahren seine Fortsetzung finden. Waren im Jahr 2018 13% der deutschen Bevölkerung zwischen 67 und 79 Jahre alt, werden dies im Jahr 2060 17% sein. Der Anteil der über 80-jährigen wird sich verdoppeln: von 6% auf 13%. Demgegenüber wird der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (zwischen 20 und 66 Jahre) von 62% auf 53% sinken, wobei der Anteil der Altersgruppe unter 20 Jahren ungefähr gleich bleiben wird (18% und 16%).
Die Menschen in Deutschland werden älter bei geringen und stagnierenden Geburtenziffern. Die mittlere individuelle Lebensspanne verlängert sich – erfreulicherweise. Im Jahre 2060 wird fast jeder dritte der Bevölkerung in Deutschland (30%) 67 Jahre und älter sein. Angesichts dieser Prognose wird einerseits eine ansteigende Morbidität erwartet, die in einem sehr starken Maße gesellschaftliche Ressourcen bindet. Diese Befürchtungen basieren auf einem biologischen Altersbegriff, der Alter mit Krankheit gleichsetzt. Andererseits kann vermutet werden, dass ältere Menschen in Zukunft sich besser an biologische Altersveränderungen anpassen können, was mit einem umfassenderen Verständnisses des Alterns als biopsychosoziales Phänomen einhergeht. Nach Ansicht des Alternsforschers Andreas Kruse werden Prävention und Gesundheitsförderung die wesentlichen gesellschaftspolitischen Aufgaben und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sein. Die Utopie (im positiven Sinne) besteht darin, Langlebigkeit unter bestmöglicher gesundheitsbezogener Lebensqualität für möglichst viele Menschen zu erreichen.
In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass das Salutogenese-Modell des israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eine fruchtbare theoretische Grundlage dafür liefert, diese Vision von Gesundheitserhaltung und ‑förderung im höheren Lebensalter Realität werden zu lassen. Bevor diese Perspektive vorgestellt wird, sollen einige Gedanken und Fakten über das Altern in der Gesellschaft betrachtet und wesentliche theoretische Ansätze zum erfolgreichen Altern aus psychogerontologischer Sicht vorgestellt werden.
Das Altern in der Gesellschaft: Herausforderung oder Last?
Folgt man der Utopie eines „gesunden“ Alterns, lautet die psychogerontologische Maxime: Es kommt darauf an, dem enormen Zuwachs an Lebenszeit mehr „Leben“ zu geben. Das höhere Lebensalter muss demzufolge von den nachfolgenden Generationen neu „erfunden“ werden: Historisch gesehen ist die Perspektive neu, dass Menschen (aus Ländern der privilegierten „ersten“ Welt) ein hohes Lebensalter erreichen und gleichzeitig ihr Potential für die Verwirklichung eines „optimalen Alterns“ – diesen Begriff hatten es die Berliner Gerontologen Paul und Margret Baltes gewählt – ausnutzen können. Diese Idealform des Alterns kann gelingen, wenn die Wohn- und Lebenswelt altersfreundlich gestaltet ist und das Individuum sich „entwickelt“ hat, d.h. seine Anlagen im Zuge seiner Ontogenese entfalten konnte. Aus psychologischer Sicht geht es darum, dass das Individduum im Kontext seiner sozio-kulturell geprägten Lebenswelt das eigene Leben nach eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten so auszugestalten kann, dass ein hohes Ausmaß an Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden erreicht werden kann. Der Alternsprozess wird verstanden als ein bio-psycho-soziales Geschehen, wobei vier grundlegende Kräfte die Entwicklung bestimmen: biologische (genetische, physiologische und gesundheitsbezogene Faktoren), psychologische (internale Faktoren aus den Bereichen Wahrnehmung, Kognition, Emotion und Persönlichkeit), soziokulturelle (zwischenpersönliche, gesellschaftliche, kulturelle und ethnische Faktoren) und Lebenszyklus-Kräfte (Zeitpunkt des Auftretens bestimmter Ereignisse im Lebenslauf).
Mit der Vorstellung eines optimalen Alterns ist die Idee der lebenslangen Entwicklung des Menschen verbunden, die nach Andreas Kruse die Grundlage für das sogenannte Kompetenzmodell des Alterns darstellt. Die Metapher für Entwicklung im höheren Lebensalter ist ein Baum, der beständig wächst und sich immer weiter verästelt. „Altern“ wird verstanden als fortwährender Entfaltungsprozess von Erfahrungen und Fertigkeiten. Insofern trifft der Spruch des Heraklit zu, dass wir nicht zweimal in denselben Fluss zu steigen vermögen – zum einen, weil wir uns über die individuelle Lebensspanne verändern, und zum anderen, weil die Umwelt und Mitwelt sich im Laufe unserer individuellen Lebensspanne ebenfalls ändern, nicht zuletzt auch deswegen, weil wir Umwelt und Mitwelt zum Teil mitprägen.
Es besteht Hoffnung, dass der Wandel in der Altersstruktur aufgrund der beschriebenen ökonomischen Erfordernisse Auswirkungen auf die soziale Repräsentation von Altersbildern haben wird. Das einseitig negative Altersbild würde durch eine realistische Anerkennung der Potentiale und Ressourcen älterer Menschen abgelöst. Im Sinne des Kompetenzmodells kann das höhere Lebensalter als eine Phase verstanden werden, in der die über die Lebensspanne erworbenen Kompetenzen produktiv umgesetzt und weiter ausgestaltet werden können. Ursula Staudinger hat in diesem Zusammenhang den Begriff der psychologischen Produktivität geprägt, die sich nicht notwendigerweise in monetären Einheiten ausdrücken lasse. Produktivität könne nicht auf handwerklich-manuell Erzeugtes reduziert werden; Produktivität beinhalte auch geistig-spirituelle, emotionale und motivationale Aspekte, die einen wesentlichen gesellschaftlichen Nutzen aufweisen.
Paul Baltes spricht in seiner Entwicklungspsychologie der Lebensspanne von der individuellen Plastizität bzw. Kapazitätsreserve und deutet an, dass das ältere Individuum sein ontogenetisches Potential, das es für die „erfolgreiche“ Ausgestaltung ihrer Entwicklung nutzen kann, tatsächlich nicht ausschöpft. Allerdings zeige das höhere Alter nicht nur Entwicklungsmöglichkeiten, sondern auch Entwicklungsbegrenzungen in Folge von altersbedingten biologischen Veränderungen auf. Jedoch weist Ursula Lehr, die Grande Dame der Altersforschung, darauf hin, dass das Lebensalter (das chronologische Alter) kein Maßstab für Kompetenz sein könne. Mit zunehmendem Alter steige die Interindividualität und damit dieUnterschiedlichkeit zwischen Gleichaltrigen, so dass die Anzahl an Lebensjahren überhaupt kein Maßstab sein kann. Es gibt keinen Grund, ältere Menschen allein wegen ihres kalendarischen Alters vom Arbeitsmarkt fern zu halten.
Andererseits steuern negative Stereotype das Denken über das Alter. Es herrscht in unserer wettbewerbsorientierten Leistungsgesellschaft ein negatives Altersbild vor, das Altern mit Kranksein und Vergänglichkeit gleichsetzt und die Potentiale des Alterns ausblendet. Der ältere Mensch wird als ein krankes, geschlechtsloses, seniles, armes, geistig minderbemitteltes Wesen betrachtet, das ein „sitzendes“ Leben führt, keine Leistung mehr bringt und damit eigentlich seine Existenzberechtigung verloren hat. Das negative Altersbild beruht auf dem bio-medizinisch geprägten Defizitmodell des Alterns, das besagt, das der Mensch im höheren Lebensalter im Zuge degenerativer biologischer Prozesse, die mit dem Begriff der Seneszenz beschrieben werden, seine Anpassungsfähigkeit verliert. Das Defizitmodell kann als empirisch widerlegt gelten und entspricht nicht der Realität.
Das Alter ist keine exklusive Vorbereitungsphase auf das Sterben und den Tod, sondern bietet eine Fülle von Entwicklungsaufgaben. Dieses von Robert J. Havighurst entwickelte Konzept beinhaltet Aufgaben, die in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums hervortreten und deren erfolgreiche Umsetzung zu seinem Wohlbefinden und zum Gelingen späterer Aufgaben führt, während ein Fehlschlag Unzufriedenheit erzeugt und zu gesellschaftlicher Missbilligung führt und Schwierigkeiten bei späteren Aufgaben beinhaltet. Entwicklungsaufgaben tragen somit zu einer Verortung des Individuums im Lebenslauf bei. Für das höhere Lebensalter können eine Fülle solcher Aufgaben identifiziert werden, in der eine Auseinandersetzung mit einer Reihe von Themen stattfindet, wie z.B. Berentung und Übergang in den „Ruhestand“, Sinn- und Identitätsfindung, geschlechtliche Identität und Sexualität, intra- und intergenerative Beziehungen, Altersabbau, Krankheit und Tod.
Damit wird deutlich, dass das Alter auch als eine Grenzsituation der menschlichen Existenz verstanden werden kann. Es drängen sich angesichts der Endlichkeit des eigenen Lebens spirituelle Fragen auf, offensichtliche Fragen über den Wert und Sinn des eigenen Lebens und die Bedeutung menschlicher Beziehungen. Dies gilt insbesondere für das hohe Lebensalter (das sog. vierte Alter, 85 Jahre und älter), in der Pflegebedürftigkeit und körperliche Erkrankungen wie Tumor- oder hirnorganische Erkrankungen zunehmen und zu einer immensen Verschlechterung der Lebensqualität führen, die ethische Fragen nach der Würde des Menschen aufwerfen. In unserer wettbewerbs- und leistungsorientierten Gesellschaft werden Sterben und Tod tabuisiert und institutionell ausgelagert. Aus entwicklungspsychologischer Sicht kann das Individuum in einer solchen Grenzsituation der menschlichen Existenz (z.B. angesichts einer lebensbedrohlichen Erkrankung) persönliches Wachstum erfahren.
Eine altersassoziierte Entwicklungsbegrenzung ist darin zu sehen, dass – vor dem Hintergrund einer ausgeprägten interindividuellen Variabilität – mit zunehmendem kalendarischem Alter die Vulnerabilität des Organismus steigt. So weist die SHARE-Studie einen deutlichen Zusammenhang zwischen Alter und chronischer Krankheit in Deutschland 2004 auf. Der Anteil der Personen mit chronischen Gesundheitsproblemen steigt deutlich linear an von 44/46% bei Männer und Frauen im Alter von 50-59 Jahren und 76/84% bei Männern und Frauen im Alter von 80 Jahren und älter. Multimorbidität steigt ebenfalls mit dem Alter an (21/24% in der Altersgruppe 50-59 Jahre bis hin zu 63/68% in der Altersgruppe 80+).
Die Entwicklungsaufgaben im höheren Lebensalter müssen vor dem Hintergrund dreier allgemeiner Entwicklungsziele betrachtet werden, die von Baltes‘ Entwicklungspsychologie der Lebensspanne hervorgehoben werden: Wachstum (Erreichen eines höheren Funktionsniveaus), Aufrechterhaltung (eines Funktionsniveaus einschließlich Resilienz (im Sinne von Wiederherstellung) und Verlustregulation (Sicherstellung eines Funktionsstands auf geringerem Niveau, wenn der entsprechende Verlust [teilweise] irreversibel ist).
Für das Erreichen dieser Ziele müssen biologisch-genetische, sozio-kulturelle, psychologische, materielle etc. Ressourcen eingesetzt werden. Für das Alter werden die beiden letzteren Ziele immer wichtiger, so dass ältere Menschen ihre Ressourcen vornehmlich in Funktionserhalt und Verlustregulation investieren. Baltes konstatiert, dass die Biologie keine Freundin des Alters sei; Seneszenzprozesse (biologische Veränderungen) seien irreversibel und bedrohten die Anpassungsfähigkeit des Organismus. Mit der demographischen Entwicklung sei eine dramatische Zunahme an Morbidität und Pflegebedürftigkeit verbunden, die das Altern zu einer Last werden lässt.
Der amerikanische Gerontologe James Fries dagegen argumentiert, dass ein Komprimieren der Morbidität im Alter möglich sei. Es sei möglich, den Beginn chronischer Erkrankungen durch präventive Orientierungen und Interventionen hinauszuzögern, so dass die Zeitspanne zwischen Erkrankungsbeginn und Tod verkürzt werde. Auf diese Weise könne die Periode des passiven Leidens und der Hilfsbedürftigkeit minimiert werden.
Aus ontogenetischer Perspektive ist festzustellen, dass es möglich ist, das eigene Altern zu antizipieren in der Weise, dass das Individuum sich mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen konfrontiert. Wie lässt sich ein gelingendes Altern erklären und vorhersagen? In der Gerontologie gibt es verschiedene Vorstellungen darüber, wie ein Altern in Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden möglich ist. Diese theoretischen Ansätze sollen im Folgenden skizziert werden, wobei dem Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation von Paul Baltes und Margret Baltes besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Gelingendes Altern – ausgewählte „klassische“ theoretische Ansätze
Die von Cumming und Henry propagierte Disengagement-Theorie postuliert, dass ein sozialer Rückzug und eine Abnahme der Häufigkeit und Intensität von Aktivitäten förderlich für die Entwicklung von Zufriedenheit und Wohlbefinden im Alter sei. Rückzug, Passivität und Isolierung würden von älteren Menschen geradezu angestrebt und machten sie glücklich. Ein Abbau von Engagement sei deswegen wichtig, damit der ältere Mensch sich in Freiheit und mit einem Gefühl der Gelassenheit mit der Endlichkeit seiner Existenz konstruktiv auseinandersetzen kann. Die zugrunde liegende Hypothese, ein Rückzug stelle die Strategie des erfolgreichen Alterns dar, ist falsifiziert worden.
Die Aktivitätstheorie von Robert Havighurst ist die Antithese zur Disengagement-Theorie. Sie besagt, dass ein aktiver Lebensstil ein gesundes und zufriedenes Altern ermöglicht. Ältere Menschen sollten sich in das gesellschaftliche Leben einbringen, soziale Kontakte pflegen, eigenen Interessen nachgehen und sich diesbezüglich weiterentwickeln und sich engagieren. Inaktivität dagegen mache krank, es führe dazu, sich nutzlos und nicht mehr gebraucht zu fühlen. Es forciere die subjektive Wahrnehmung einer Sinnlosigkeit des eigenen Lebens, was zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes führe. Diese Grundannahme scheint plausibel zu sein und entspringt der naiven Alltagserfahrung und –beobachtung.
Die Kontinuitätstheorie des normalen Alterns von Robert Atchley beinhaltet, dass Personen des mittleren und höheren Erwachsenenalters versuchen, Beständigkeit und Konstanz in ihrem Leben aufrechtzuerhalten, d.h. an bestehende Entwicklungsmuster anknüpfen und diese in ihrer ‚Tradition‘ fortzuführen. Kontinuität im Alltag bedeutet, sich selbst (die eigene Persönlichkeit), die soziale Mitwelt und die physikalische Umwelt als dauerhaft, stetig, gleich bleibend und stabil zu erleben. Die Erfahrung von Vertrautheit und Gewohnheit führt zu einer Elaborierung bewährter Strukturen und Strategien zur erfolgreichen Anpassung an das Alter. Die Kontinuitätstheorie beinhaltet eine Identitätsperspektive insofern, als dass der (ältere) Mensch im Zuge wahrgenommener Altersveränderungen die eigene Identität aufrechterhalten kann.
Paul und Margret Baltes haben ein Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK) vorgestellt, das erfolgreiches Altern vor dem Hintergrund einer zunehmend negativen Bilanzierung von Verlusten und Gewinnen darstellt. Die Verluste werden größer (Berufsrolle, Einkommen, Morbidität und Tod nahestehender Menschen, chronische Krankheiten und damit verbundener eingeschränkter Aktionsradius, Anpassungsfähigkeit, etc.), während Gewinne seltener und geringer werden (weniger Verpflichtungen, mehr Zeit für sich, Engagement und Ehrenamt, Ausbau erworbener Wissenssysteme). Diese negative Bilanzierung trete trotz des ungenutzten Anpassungspotential („Kapazitätsreserve“, Plastizität) ein, das prinzipiell durch geeignete Umwelten und persönlichen Einsatz realisiert werden kann. Diese Vorstellung basiere auf einem negativen Altersbild.
Selektion bezeichnet eine Konzentrierung auf subjektiv bedeutsame Bereiche, bei denen Anforderungen anderer Menschen, persönliche Motive, Fertigkeiten und biologische Leistungsfähigkeit für das Individuum passen. Die Kreise werden kleiner, es werden Bereiche ausgewählt, die individuell beherrschbar sind. Das Prinzip der Selektion bewirkt, dass der ältere Mensch antizipatorisch Überforderungen vermeidet. Zum Beispiel mag ein musikalisch vielseitiger älterer Mensch, der unter einem Tinnitus und weiteren Einschränkungen des Hörvermögens leidet, einen Teil seiner musikalischen Aktivitäten aufgeben, entweder völlig oder schrittweise. Oder er könnte seine Erwartungen, Ansprüche und Ziele im Bereich des Musizierens gemäß seiner Kapazitäten neu definieren, um weiterhin subjektiv zufrieden stellende Erfahrungen machen zu können.
Optimierung bezeichnet die Verbesserung in der Qualität und Quantität der sogenannten Handlungsmittel, die der ältere Mensch zur Erreichung seiner Ziele verwendet. Der ältere Mensch ist prinzipiell in der Lage, seine Fähigkeiten in einem ausgewählten Bereich auszugestalten und zu verfeinern. Mit anderen Worten, er kann seine Kapazitätsreserve aktivieren, in dem er mehr Zeit aufwendet, sich mehr anstrengt, im Voraus plant, mehr auf Pausen/Erholung achtet usw. Auf diese Weise kann er sich in persönlich wichtigen und befriedigenden Lebensbereichen weiterhin engagieren.
Kompensation beinhaltet die Vorstellung, dass der ältere Mensch alternative Möglichkeiten finden kann, d.h. einen Ausgleich schaffen kann, wenn sein Potential kein hohes Funktionsniveau erlaubt. Kompensationsprozesse setzen ein, wenn trotz erfolgter Selektion bestimmte Verhaltensweisen nicht mehr ausgeführt werden können. Die Kompensation besteht darin, neue Ressourcen zu schaffen oder zu nutzen um verlorene Kapazitäten auszugleichen. Zum Beispiel könnte das Individuum bei Vergesslichkeit auf psychologischer Ebene kompensieren, indem es neue Gedächtnisstrategien nutzt. Oder es könnte bei Schwerhörigkeit auf eine Technologie, ein Hörgerät, zurückgreifen, um das Funktionsniveau des Hörens zu verbessern.
Die Berliner Gerontologen geben für ihr Modell ein sehr schönes Beispiel: Der weltberühmte Pianist Arthur Rubinstein habe nach eigenen Angaben die Schwächen des Alters dadurch bezwungen, dass er weniger Stücke spielte (Selektion), diese häufiger übte (Optimierung) und vor schnelleren Passagen Verlangsamungen einführte. Auf diese Weise erschienen die nachfolgenden Passagen schneller (Kompensation). Diese drei Prozesse sind miteinander verquickt. Paul Baltes spricht in diesem Zusammenhang von „Orchestrierung“ der Prozesse Selektion, Optimierung und Kompensation im Sinne einer Feinabstimmung zur Sicherstellung der individuellen erfolgreichen Anpassung an das Altern.
Offen bleibt jedoch, was nun die Mechanismen sind, die eine adaptive (erfolgreiche) Orchestrierung der Prinzipien Selektion, Optimierung und Kompensation sicherstellen. Es fehlt theoretisches Wissen darüber, auf welche Weise die Prinzipien der Selektion, Optimierung und Kompensation eingesetzt werden und wie sich diese drei Prozesse wechselseitig beeinflussen, um Entwicklungsaufgaben erfolgreich zu meistern. Eine Antwort darauf mag das Salutogenese-Modell geben.
Gelingendes Altern aus salutogenetischer Sicht
Das salutogenetische Denken basiert auf dem fundamentalen Postulat, dass Heterostase, Altern und fortschreitende Entropie die Kerncharakteristika aller lebenden Organismen sind. Der menschliche Organismus ist zu jeder Zeit Kräften ausgesetzt, die ihn auf einen Zustand der maximalen Unordnung hinzubewegen. Das Grundprinzip des Lebens basiert folglich auf Ungleichgewicht, Krankheit, Leiden und Tod. Gesundheit ist daher die Ausnahme oder das „Wunder“, das es zu erklären gilt.
Das Salutogenese-Modell ist von Aaron Antonovsky formuliert worden, um das Phänomen der Gesundheit zu erklären und vorherzusagen (siehe die vereinfachte Darstellung in Abbildung 1). Gesundheit wird als „Gesundheits-Krankheits-Kontinuum” konzeptualisiert, das zwischen den beiden Polen „maximale Gesundheit“ und „maximale Krankheit/Tod“ aufgespannt ist. Jeder Mensch besitzt demnach in unterschiedlichem Ausmaß gesunde und kranke Anteile. Gesundheitsförderung bedeutet, die Position einer Person in Richtung Gesundheitspol zu verändern.
Ausgangspunkt ist die Lebenswelt einer Person. Sie wird in einen bestimmten sozio-kulturellen und historisch geprägten Kontext hineingeboren, der ein Spektrum an Möglichkeiten (Ressourcen) und Hindernissen (Stressoren, Defizite) für die ontogenetische Entwicklung bietet. Jene Kräfte, die eine Person einsetzen kann, um Belastungen anzugehen bzw. auszugleichen, werden Generalized Resistance Resources (GRRs) genannt. Da sie in allen Situationen wirksam werden können, hat Antonovsky den Begriff „generalisiert“ verwendet. „Widerstand“ bedeutet, dass durch diese Ressourcen die Widerstandsfähigkeit einer Person verstärkt wird.
Beispiele für GRRs sind körperliche Konstitution, Ich-Stärke, soziale Unterstützung, sozio-ökonomischer Status, etc. GRRs haben die gemeinsame Eigenschaft, dass sie Lebenserfahrungen ermöglichen, die gekennzeichnet sind durch Kontinuität, Belastungsbalance und Partizipation. Diese über die Lebensspanne akkumulierten Lebenserfahrungen führen zur Ausbildung des Kohärenzgefühls (Sense of Coherence – SOC), definiert als eine globale Orientierung, die sich aus den drei Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit speist. Diese drei Komponenten sollten nicht voneinander getrennt werden.
Verstehbarkeit („comprehensibility“) meint das Ausmaß, in dem interne und externe Stimuli, mit denen eine Person alltäglich konfrontiert wird, Sinn machen. Reize werden kognitiv als klare, geordnete Information und nicht als Rauschen (chaotisch, ungeordnet, willkürlich und unerklärlich) verstanden. Das Leben erscheint strukturiert, vorhersehbar und erklärbar.
Bewältigbarkeit („manageability“) meint das Ausmaß, in dem eine Person auf sie zukommende Anforderungen als bewältigbar wahrnimmt, weil sie über hilfreiche Ressourcen verfügt. Verfügbare Ressourcen sind solche, die eine Person selbst unter Kontrolle hat, aber auch solche, die von wichtigen nahestehenden Personen kontrolliert werden (eine Person, auf die man zählen kann, der man vertraut).
Sinnhaftigkeit („meaningfulness“) beinhaltet ein motivationales Moment; sie meint das Ausmaß, in dem das eigene Leben emotional Sinn macht, d.h. in dem die Probleme und Anforderungen des Lebens als solche erlebt werden, für die es sich einzusetzen lohnt und die Engagement verdienen.
Stressoren als Generalized Resistance Deficits sind ein natürlicher Bestandteil des Lebens. Sie sind allgegenwärtig, können nicht vermieden werden und wirken stetig auf den Organismus ein. Sie können für ein Individuum schädlich oder sogar tödlich, aber auch wegen ihrer mobilisierenden Funktion für die ontogenetische Entwicklung nützlich sein. Aufgrund seiner Selbstregulationsfähigkeit ist der Mensch Stressoren nicht hilflos ausgeliefert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Stress und Spannungszustand (tension). Der Organismus reagiert auf einen Stressor mit einem Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder heilsame Auswirkungen haben kann. Ein Stressor ist also an und für sich nicht negativ, er kann auch positive Wirkungen in Form eines motivierenden Spannungsgefühls haben. Dieser Spannungszustand ist von positiven oder negativen Affekten und physiologischer Erregung begleitet und muss reguliert werden.
Gelingt die Spannungsregulation nicht, entsteht ein Stresszustand, der Entropie im Organismus erhöht und die Person in Richtung Krankheitspol bewegt. Die Spannung wird dadurch reguliert, dass die Person auf adäquate Ressourcen zurückgreifen kann. In diesem Sinne ist eine Widerstandsressource jedes Merkmal der Person, der Gruppe oder der Umgebung, das Spannungsregulation ermöglicht.
Die Kernaussage des Salutogenese-Modells lautet, dass das SOC das Gesundheitsniveau einer Person bestimmt, weil es den Umgang mit (potentiellen) Stressoren und somit den Bewältigungsprozess beeinflusst. Personen mit einem starken SOC können ein hohes Gesundheitsniveau bewahren, weil ihnen eine Integration der vom Stressor verursachten „Störung“ gelingt, d.h. ihre Versuche der Spannungsregulation sind erfolgreich. Aaron Antonovsky orientiert sich dabei am Coping-Modell der transaktionalen Stresstheorie von Richard Lazarus und Susan Folkman. Die Stressbewältigung erfolgt über die Funktionen des problemfokussierten und emotionsfokussierten Coping. Während beim ersterem die Bewältigungsbemühung auf die direkte Beseitigung oder Minderung des Problems (i.d.R. durch instrumentelle Aktivitäten) zielen, geht es bei letzterem um die Regulierung von Emotionen (z.B. in Form von Selbstgesprächen). Die Rolle des SOC für die Bewertung eines potentiellen Stressors kann wie folgt zusammengefasst werden:
Zum einen beurteilen Personen mit einem starken SOC in der primären Bewertung von Reizen viele Situationen als neutral, die von Personen mit einer schwachen Ausprägung als belastend empfunden werden (primary appraisal I). In der weiteren Reizbewertung kann dann die Person mit hohem SOC unterscheiden, ob der Stressor irrelevant, bedrohlich oder günstig ist. Schätzt sie einen Stressor als potentiell bedrohlich ein, so vertraut sie darauf, über die geeigneten Ressourcen zu verfügen, um die Situation zu bewältigen. Eine Person mit einem starken SOC wird Stressoren vornehmlich als positiv bzw. irrelevant für das eigene Befinden einstufen (primary appraisal II). Schließlich dürften hoch kohärente Personen eine klarere und differenziertere instrumentelle Problemwahrnehmung aufweisen; ihre Emotionen dürften weniger diffus und deswegen weniger lähmend sein (primary appraisal III).
Die Studienlage zur Kohärenzabhängigkeit von Coping-Strategien im höheren Lebensalter ist dürftig. Es wird insgesamt die salutogene Hypothese bestätigt, dass ein starkes SOC positiv mit „adaptiven“ (z.B. problembezogenes Handeln) und negativ mit „maladaptiven“ (z.B. Verleugnung) Coping-Strategien assoziiert ist. Empirische Studien zum Zusammenhang zwischen Sense of Coherence (SOC) und den Life-Management-Strategien der Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK) existieren nicht.
Insgesamt ist das Salutogenese-Modell für das höhere Lebensalter empirisch gut belegt. Ressourcen und Kohärenzgefühl zeigen einen systematischen Zusammenhang (zusammenfassend Wiesmann, 2006). Greifswalder Arbeiten belegten den theoretisch postulierten Zusammenhang für ein breites bio-psycho-soziales Ressourcenspektrum. Der postulierte Zusammenhang zwischen SOC und diversen Gesundheitsmaßen (physische und psychische Gesundheit, Symptombelastung, Subjektives Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit, etc.) kann ebenfalls als gesichert gelten, wobei sich Aspekte der psychischen Gesundheit sich stärker kohärenzabhängig zeigten als Aspekte der physischen Gesundheit. Greifswalder Arbeiten belegten diesen Zusammenhang für verschiedene subjektive Gesundheitsmaße. Das SOC ist auch als Moderator- und Mediatorvariable wirksam. Eigene Forschungsarbeiten haben die Mediatorfunktion für das Seniorenalter eindrücklich aufgewiesen. In Abbildung 2 ist die Mediatorfunktion des SOC veranschaulicht. Wenn aufgewiesen werden kann, dass Ressourcen, Kohärenzgefühl und Gesundheitsparameter signifikant zusammenhängen, kann geprüft werden, ob das Kohärenzgefühl die Einflüsse der Ressourcen auf die Gesundheit vermittelt. Eine vollständige Mediatorwirkung ist gegeben, wenn der direkte Einfluss der Ressourcen auf die Gesundheit verschwindet und nur der indirekte Einfluss auf die Gesundheit über das Kohärenzgefühl aufgewiesen wird.
Resümee
Angesichts der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung und dem stetigen Zuwachs der Bevölkerungsgruppen im Alter von 60 Jahren und älter ist dieser Beitrag ist mit der These angetreten, es komme nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass die subjektive Lebensqualität und die individuelle Lebensgestaltung die entscheidenden Kriterien für „erfolgreiches Altern“ sind, und nicht die Maximierung der individuellen Lebensspanne per se.
Damit ist nicht notwendigerweise eine Beliebigkeit in der inhaltlichen Ausgestaltung verbunden, weil subjektive Repräsentationen von „erfolgreichem“ Altern in einen jeweiligen sozio-kulturellen Diskurs eingebettet sind. Aus psychologischer Sicht ist zu bemerken, dass für den Kulturkreis der westlichen Industriestaaten die Befriedigung vierer Grundbedürfnisse subjektive psychische Gesundheit bestimmt: das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, das Bindungsbedürfnis und das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung.
Angesichts der Tatsache, dass das höhere Lebensalter sich durch eine große Vielfalt auszeichnet, dass in dieser Altersphase die interindividuellen Unterschiede am größten sind, geben nicht wie in der Kindheit und Jugend Altersnormen Richtlinien vor, sondern wir haben im Grunde nichts als die Ontogenese. Deshalb ist es wichtig, die biographischen Bezüge eines „erfolgreichen Alterns“ im Blick zu haben. Aus der Biographiearbeit wird deutlich, zu welchen Ressourcen ein Individuum im Laufe seines Lebens Zugang hatte und aktuell hat.
Psychogerontologische Ansätze wie die Aktivitätstheorie und das SOK-Modell sowie das Salutogenese-Modell heben die Bedeutung einer Ressourcenorientierung für ein erfolgreiches und gesundes Altern hervor. Es ist wichtig, nicht nur den Blick auf die Pathologie zu haben (Erkrankungen, Symptome, Defizite, Einschränkungen), sondern verstärkt die Aufmerksamkeit auf die Potentiale des Alterns zu richten (Ressourcen, Kompetenzen, soziales Umfeld). Weil nun die Potentiale sehr vielfältig sind und biologische, psychologische, soziale, ökologische Ressourcen mit einschließen, ist es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, was schlussendlich eine Ressource zu einer Ressource macht.
Auf diese Frage gibt das Salutogenese-Modell eine Antwort. Eine Ressource stärkt die Widerstandsfähigkeit eines Individuums. Eine Widerstandsressource schafft Lebenserfahrungen, die durch drei Merkmale gekennzeichnet sind: Konsistenz (im Sinne von Stetigkeit, Beständigkeit und Regelmäßigkeit), einer Balance zwischen Überbelastung und Unterforderung (im Sinne einer „gesunden“ Schwankungsbreite zwischen sympathikotoner und vagotoner Spannungslage, zwischen Arbeit/Leistung und Entspannung/Erholung) und durch Partizipation an der Gestaltung der eigenen Lebenswelt (im Sinne von Teilhabe, Mitbestimmung und Gleichberechtigung). Diese über die Lebensspanne verdichteten Erfahrungen der eigenen Widerständigkeit führen zu einem starken Kohärenzgefühl.
Ein starkes Kohärenzgefühl spielte eine wesentliche Rolle für die Altersgesundheit. Das wesentliche Ziel für Prävention und Rehabilitation im Alter ist aus salutogenetischer Sicht die Stärkung und Aufrechterhaltung der Verstehbarkeit der Welt, Handhabbarkeit von Problemlagen und Sinnhaftigkeit. Mit der letzten Komponente erfasst das SOC auch die spirituelle Dimension des menschlichen Daseins.
Es ist anzunehmen, dass infolge der altersassoziierten Vulnerabilität ein starkes Kohärenzgefühl fortwährend attackiert wird. Es droht, auf ein niedrigeres Niveau zu sinken. Vermutlich wird eine ältere Person mit einem starken SOC unter Belastung (z.B. während eines Krankenhausaufenthaltes im Zuge einer Femurfraktur) nach Erfahrungen suchen, welche die belastenden Erfahrungen ausgleichen können. Kohärenzschwache ältere Personen werden dazu nicht oder nur bedingt in der Lage sein. Ihnen sollte besondere Aufmerksamkeit zu teil werden. Ihnen würden Lebenserfahrungen helfen, die ihr Gefühl von Verstehbarkeit der Welt, Handhabbarkeit von Problemen und Sinnhaftigkeit des Daseins vermitteln. Aus diesem Grunde brauchen meiner Ansicht nach besonders kranke ältere Menschen mit einer eher inkohärenten Lebensorientierung ein bio-psycho-sozial wirkendes, ressourcenstärkendes Versorgungskonzept.
Prinzipiell kann ein starkes SOC infolge von Verlusterfahrungen aufrechterhalten werden. Es kann bewahrt werden, wenn vier essentielle sinnstiftende Bereiche des eigenen Lebens integriert werden. Dazu gehören 1) die eigenen Gefühle, 2) primäre interpersonelle Beziehungen (Partnerschaft, Familie), 3) die wichtigste eigene Tätigkeit (Berufsleben, Kompetenzbereiche) und 4) existentielle Fragen (Tod, unvermeidbares Scheitern, persönliche Fehler, Konflikte und Isolation). Personen, die diese Bereiche als bedeutungslos wahrnehmen, weisen per definitionem ein schwaches SOC auf.
Ein starkes SOC sollte demnach die selektive Optimierung mit Kompensation nach Paul und Margret Baltes erleichtern. Es werden außer den genannten vier Kernbereichen jene weniger verstehbaren oder handhabbaren Randbereiche ausblendet und gleichzeitig jene Bereiche fokussiert, die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit fördern. Diese Bereiche werden optimiert, und im Falle von Verlusten werden Ersatzmöglichkeiten identifiziert. Insofern könnte das SOC der Mechanismus sein, der eine adaptive (erfolgreiche) Orchestrierung der Prinzipien Selektion, Optimierung und Kompensation sicherstellt. Dies wird eine spannende Fragestellung für die Zukunft sein.
Ulrich Wiesmann ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Greifswald.