27 Aug

Das Ich als Multispezies-Wesen

Von Dr. Leonie N. Bossert (Wien) und Dr. Davina Höll (Tübingen)


Billionen von Mikroben leben auf und in den Körpern von Menschen, Tieren und Pflanzen. Sie bilden das menschliche, tierliche, oder pflanzliche Mikrobiom. Mikrobiome existieren entsprechend nicht unabhängig voneinander. Durch die ständige Zirkulation und Interaktion von Mikroorganismen sind wir Menschen auf komplexe Weise miteinander und mit unserer Umwelt verbunden. Damit gehen zahlreiche ethische Fragen einher, welche wir in diesem Blogbeitrag mit einem Fokus auf menschliche Körperlichkeit beleuchten.

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22 Aug

Freundlich streiten unter Feinden. (Un)demokratische Debattenkultur – ein Tagungsbericht aus Regensburg

von Silvia Donzelli

Dieser Tagungsbericht erscheint parallel auf dem theorieblog.

Die diskursive Aushandlung von Meinungs- und Interessenkonflikten gilt zu Recht als Lebenselixier der Demokratie. Wie öffentliche Diskussionen geführt werden sollten und ob ihre Qualität ein Indikator für die Gesundheit einer Demokratie ist, steht indessen zur Debatte. Denn die vielerorts gestellte Diagnose einer demokratischen Krise oder gar einer demokratischen Regression betrifft, neben der institutionellen Ebene, auch Sprach- und Kommunikationspraktiken.

Die Stichworte der üblichen Verfalldiagnose der Gesprächs- und Debattenkultur in den sogenannten konsolidierten europäischen Demokratien – Polarisierung der Inhalte, Desinteresse am Wahrheitsgehalt, Aggressivität, hetzerische Wortwahl – weisen auf eine Verschiebung der Grenzwerte in Richtung steigender Feindseligkeit hin, die auch deshalb viele beunruhigt, weil sie sich allmählich zum Standard öffentlicher Kommunikation etabliert. 

Inwieweit ist eine solche Verrohung der Debattenkultur mit demokratischen Werten kompatibel? Wie lässt sich der Aufstieg der politischen Kategorie des Feindes, als Inhalt und Form öffentlicher Kommunikation, innerhalb demokratischer Ordnungen legitimieren? Sind grundlegende Konzepte westlicher Ideengeschichte wie politische Freundschaft und Zivilität inzwischen veraltet, oder können sie in aktualisierter Form einen brauchbaren Kompass für Theorie und Praxis der politischen Debattenkultur darstellen?

Ein Forum für die kritische, aber sicherlich freundschaftliche Diskussion gegenwärtiger (un)demokratischer Debattenkultur bot die internationale Tagung „How to dis/agree like friends. Historical insights, philosophical roots, and fresh perspectives on the current state of debate culture in liberal democracies”, die vom 12.06. bis zum 14.06.2024 in Regensburg stattfand. Das Organisationsteam mit Eva Helene OdzuckSarah Rebecca StrömelManfred Brocker Daniel Eggers und Ricarda Wünsch brachte auf der interdisziplinär ausgerichteten Tagung Positionen aus Demokratietheorie, Ideengeschichte und politischer Philosophie in Dialog.

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16 Aug

Die anwesende Abwesenheit von ‚Anarchy, State and Utopia‘ – eine Spurensuche

Von Matthias Brinkmann (München)


Für etwa sechs Wochen meines Lebens war ich ein Libertärer. Der alleinige Grund hierfür war Robert Nozicks Anarchy, State, and Utopia (ASU), das ich im ersten Jahr meines Bachelorstudiums las. Ich war auch nicht der einzige Nozicksche Sechs-Wochen-Libertäre. Ich kenne mehrere andere Leser, auf die das Buch einen ähnlich starken, wenn auch meist temporären, Eindruck gemacht hat. Aber von Beinahe-Konversionen abgesehen, wie anwesend oder abwesend ist ASU in der kontemporären politischen Philosophie? In diesem Beitrag gehe ich auf eine unvollständige Spurensuche.

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06 Aug

Von gestern: Kants Bild des Judentums

Von Marco Schendel (Erlangen)

Kants Bild des Judentums ist von gestern. So kommt es uns heute vor. In bestimmter Hinsicht war es das aber bereits zu Kants Zeiten. Kants Maßstab für die Einschätzung des Judentums ist seine moralisch zentrierte Vernunftreligion. Alle Teile von Religion und religiöser Praxis, die keine Verbindung zur Moral haben, sind für Kant überflüssiges, schädliches Beiwerk. Nach Kant besteht das Judentum ausschließlich aus diesem Beiwerk: aus Statuten, juridischen Gesetzen, Ritualen. Die Moral komme gar nicht in den Blick. Kant sieht für das Judentum nur einen Weg, um zur Vernunftreligion zu gelangen: Man müsse den „alten Kultus abwerfen“ (AA VII, 53). Kant weiß, dass das einer Selbstaufgabe gleichkommt. Die vernunftreligiöse Transformation des Judentums ist ein Absterben hin zur Vernunftreligion. Kant spricht in diesem Sinn von der „Eu-thanasie des Judentums [sic]“ (AA VII, 53). Natürlich kann Kant aufgrund dieser Formulierung nicht als Vorbote des Holocaust gelten. Aber die Formulierung lässt sich auch nicht einfach abschütteln. Zu Recht jagt sie uns heutigen Leserinnen und Lesern einen ungeheuren Schrecken ein. Abgesehen davon gibt es bereits im Zeitalter der Aufklärung überzeugendere philosophische Konzeptionen des Judentums. Dazu zählt die Theorie von Moses Mendelssohn, die er in Jerusalem (1783) entwickelt, für das Kant Mendelssohn im Übrigen brieflich ein Lob übermittelt. (Das Lob macht mäßig Sinn und ist nur möglich, weil Kant Mendelssohn in seinem eigenen Sinn interpretiert). Mendelssohn hält am jüdischen Zeremonialgesetz fest, verweist auf eine unbedingte Religionsfreiheit und stellt die Vernünftigkeit des Judentums heraus, welche die des Christentums noch übersteige. Bei Bildern von Judentum und Juden in der Aufklärung ist auch an Gotthold Ephraim Lessing zu denken. Im Lustspiel Die Juden (1749), noch weit vor seinem Nathan (1779), gibt er die moralischen Vorbehalte gegenüber Juden der Lächerlichkeit preis. Die Räuber im Stück sind Christen, die sich als Juden verkleiden, sich falsche Bärte anstecken. Ihr Überfall wird von einem moralisch integren Reisenden vereitelt, der, wie man am Ende erfährt, Jude ist. Allerspätestens ist Kants Bild des Judentums aber mit Hermann Cohens Studie Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919/29) überholt. Als jüdischer Philosoph und Neukantianer bringt Cohen das scheinbar Unversöhnliche – Kantianismus und Judentum – zusammen.

06 Aug

Kants problematischer Religionsbegriff

Von Christian Danz (Wien)

Mit seiner Erkenntniskritik hat Immanuel Kant die Grundlagen der modernen Religionsphilosophie und protestantischen Theologie geschaffen. Gleichwohl ist sein eigener Religionsbegriff heute nicht mehr fortsetzbar. Für Kant ist Religion kein Bestandteil der theoretischen Erkenntnis, sondern der praktischen Vernunft, genauer: ihrer Anwendung auf den Menschen. Erst in der Realisierung der Moral durch den Menschen kommt Gott in der kantischen Religionsphilosophie ins Spiel. Er repräsentiert die Beziehbarkeit und Kompatibilität von freiem sittlichen Handeln und Naturnotwendigkeit, die in jedem Handeln bereits vorausgesetzt, aber nicht hervorgebracht werden kann. Kants Gottesgedanke als Schöpfer, Gesetzgeber und Richter symbolisiert die reflexive Struktur des sittlichen Handlungsbewusstseins. Wenn aber von Religion nur dort die Rede sein kann, wo Moral vorliegt, dann ist sie eine Funktion von dieser und nichts Eigenständiges mehr.

06 Aug

Kants Theorie des Kunstschönen heute

Von Larissa Berger (Siegen)

Zentrales Charakteristikum des kantischen Kunstschönen ist, dass es Ausdruck sogenannter ästhetischer Ideen ist. Wir kennen rationale Ideen bzw. Vernunftideen als Begriffe, denen nichts in der Anschauung entsprechen kann. Die ästhetische Idee bildet das „Gegenstück (Pendant)“ dazu in der Anschauung: Es ist „eine Vorstellung der Einbildungskraft die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann“ (KU: 314). Interessanterweise können uns aber gerade ästhetische Ideen dabei verhelfen, rationale Ideen indirekt anzuschauen. Dabei hat Kant das Zusammenspiel dreier Elemente vor Augen. Den Ausgangspunkt bildet eine rationale Idee (möglich ist auch ein empirischer Begriff, der über das Erfahrbare erweitert wird); beispielhaft nennt Kant den Begriff vom Gott Jupiter. Diesen Begriff verknüpft die Künstlerin zweitens mit einem ästhetischen Attribut, welches die mit dem Begriff „verknüpften Folgen und die Verwandtschaft desselben mit anderen ausdrück[t]“ (KU: 315). Jupiter würde etwa indirekt durch einen Adler mit Blitzen in den Klauen dargestellt. Entscheidend ist das dritte Element. Die Rezipient*innen assoziieren mit dem ästhetischen Attribut nämlich eine Mannigfaltigkeit an Vorstellungen, etwa eine stürmische Nacht, Macht, Erhabenheit etc. Es ist diese Mannigfaltigkeit an assoziierten Vorstellungen, die einerseits aufgrund ihrer schieren Vielzahl unser begriffliches Vermögen sprengt, andererseits aber auf die zugrunde liegende rationale Idee (bspw. den Gott Jupiter) verweist. Wichtig ist, so denke ich, dass Kant Kunst in einem doppelten Sinne als sinnhaft begreift: Erstens liegt Kunstwerken ein tiefergehender Sinn zugrunde – eben eine rationale Idee; zweitens muss auch das ästhetische Attribut sinnhaft sein (d. h. eine konkrete Bedeutung haben), damit es in den Rezipient*innen Assoziationen hervorruft, die mit der zugrunde liegenden rationalen Idee sinnvoll verknüpft sind.

Ich will nun kurz zeigen, dass diese doppelte Sinnhaftigkeit hinter die zeitgenössische Vielfalt an Kunst und Kunstrichtungen zurückfällt. Erstens ist hier im Bereich der bildenden Kunst an nicht-repräsentationale, abstrakte Kunst zu denken. Denn in Kants Konzeption des ästhetischen Attributs scheint das konkret Dargestellte sowohl das Spiel mit Assoziationen als auch den Rückbezug auf die zugrunde liegende Vernunftidee zu gewährleisten. (Mir scheint jedoch nicht ausgeschlossen, dass auch in einem abstrakten Gemälde beispielsweise eine chaotische Zusammenstellung spitzer Formen auf die zugrunde liegende Idee des Krieges verweisen könnte.) Zweitens berücksichtigt Kants Konzeption ästhetischer Ideen nicht solche Kunst, die auf keinerlei Weise sinnhaft sein will, sondern explizit Unsinn evozieren will. Hier ist etwa an den Dadaismus zu denken. Drittens sperrt sich Kants Konzeption ästhetischer Ideen gegen solche Kunstformen, die nicht über das konkret Dargestellte hinausweisen wollen, die also auf kein dahinterliegendes, indirekt dargestelltes Sinnhaftes verweisen wollen. Hier wäre etwa an konkrete Poesie zu denken.

Es zeigt sich, dass Kants Theorie schöner Kunst mit ihrem Fokus auf das Sinnhafte und (indirekt) Dargestellte in der Kunst seiner Zeit verhaftet bleibt und auf einige spätere Kunstformen nicht anwendbar ist. Erwähnenswert ist noch, dass Kants Kunstverständnis auch Werke ausschließt, die den Rezipient*innen keine Freiheit im Assoziieren und Reflektieren lassen, sondern uns ihre Bedeutung mit aller Macht aufzwingen. Ob wir aber solche Werke, man denke nur an Propaganda, in einem heutigen Verständnis als Kunst einstufen wollen würden, ist äußerst fraglich.

30 Jul

Was macht eine resiliente Demokratie aus?

Prof. Dr. Tine Stein im Gespräch mit Dr. Sarah Rebecca Strömel

Wie können wir die Demokratie vor den inneren und äußeren Bedrohungen schützen? Was steckt hinter dem Konzept der „resilienten Demokratie“? Wie weit sollten staatliche Befugnisse im Umgang mit einer der größten Herausforderungen, nämlich der Klimakrise gehen und was können wir hierbei von Hans Jonas lernen? Diese und weitere Fragen thematisiert Dr. Sarah Rebecca Strömel (Universität Regensburg) im Gespräch mit Prof. Dr. Tine Stein (Universität Göttingen).

Die Themen:

00:00 Willkommen, Prof. Tine Stein!
00:58 Derzeit ist überall zu lesen und zu hören, dass sich die Demokratie in der Krise befinde. Einerseits, weil Gefahren wie Pandemien, Kriege und Umweltkatastrophen auf die Demokratie einwirken, andererseits weil die innere Stabilität durch populistische und extremistische Gruppen bedroht wird. Gleichzeitig stand die Demokratie historisch immer wieder vor Herausforderungen. Ist unsere Demokratie im liberalen, rechtsstaatlichen Sinne momentan tatsächlich stärker denn je gefährdet?
02:43 Wie können wir unsere Demokratie gegen die Bedrohungen von innen und außen schützen? Wie schaffen wir es für die Grundwerte zu werben und das Vertrauen wiederherzustellen?
04:53 Auch in Abgrenzung zur „wehrhaften“ oder „streitbaren Demokratie“ machen Sie in Ihren Publikationen den Begriff „resiliente Demokratie“ stark. Was meinen Sie damit und wieso halten Sie das Konzept für zielführend?
06:53 Einen konkreten Vorschlag auf institutioneller Ebene zum Umgang mit der ökologischen Krise haben Sie in Ihrer Doktorarbeit unterbreitet: einen „Ökologischen Rat“. Wie sah dieser Vorschlag im Detail aus – und warum haben es Verfassungsreformen so schwer?
11:19 In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Hans Jonas in Anlehnung an den kategorischen Imperativ von Kant einen neuen kategorischen Imperativ formuliert, der da lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Dieser Imperativ verortet die ökologische Verantwortung klar auf individueller Ebene. Wie weit sollten staatliche Befugnisse beim Thema Umweltschutz gehen?
14:04 Im Zusammenhang mit der Frage nach Klimaschutz und Umweltkatastrophen werden die möglichen „Rechte zukünftiger Generationen“ diskutiert. Sollten wir zukünftigen Generationen Rechte einräumen und wenn ja, warum?
16:20 Bei der Suche nach möglichen Ursachen für den inneren Stabilitätsverlust der Demokratie fällt im historischen Vergleich auf, dass sich die Rolle der Religion stark verändert hat. Sie haben – Böckenförde folgend – auf einen Zusammenhang zwischen unserem Begriff von Menschenwürde/Menschenrechten und christlichen Impulsen hingewiesen. Brauchen wir die Religion als Bindeglied für die Bürgerschaft und Impulsgeber zu bestimmten Werten der Demokratie, wie beispielsweise schon Rousseau und Tocqueville vermutet haben?
21:29 Was können wir in unserem alltäglichen Umgang miteinander tun, in der Öffentlichkeit aber auch im Privaten, um unsere Demokratie zu schützen und zu erhalten?

25 Jul

Der Code of Ethics als ethisch-politischer Auftrag der Sozialen Arbeit

Von Gudrun Perko (FH Potsdam)


Das Zunehmen „extremer Rechter“ (als Sammelbegriff für verschiedene rechtsextremer Gruppen), auch in ihrem parteipolitischen Gewandt, aber auch Praxen rechtsorientierter Politikenbedrohen sozialarbeiterische Unterstützungsstrukturen. Um so mehr ist der Rekurs auf den Auftrag der Sozialen Arbeit als Menschenrechts- und Gerechtigkeitsprofession gefragt. Zur Stärkung des Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit muss hierbei auf den (inter)nationalen Code of Ethics der Sozialen Arbeit zurückgegriffen werden. In dem vorliegenden Beitrag werden die darin dargestellten Aufforderungen beispielhaft beschrieben und gefragt, inwiefern es dabei um eine ethisch-politisierte Soziale Arbeit geht.

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23 Jul

Kants (selbst-)kritischer Universalismus

Von Conrad Mattli (Basel)

Aus gegebenem Anlass wird derzeit wieder gefragt: Was ist an Kant eigentlich noch aktuell, was nicht? Ohne Zweifel ist Kant unhaltbar geworden, wo wir den universalistischen Anspruch durch rassistische und kulturchauvinistische – kurz: partikularistische Inhalte widerlegt wissen. Sollte Kants Philosophie dadurch nicht insgesamt unhaltbar geworden sein? Nun, diese Philosophie besagt im Wesentlichen, dass die Frage, ob etwas der Fall ist, unendlich verschieden von der Frage ist, ob etwas der Fall sein soll. Und wer trotz Hegel nicht verlernt hat, derart zwischen Sein und Sollen (Nichtsein) zu unterscheiden, und den erwähnten Tatbestand einmal unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, sieht sich gezwungen, mit Kant zu urteilen, dass der rassistische und kulturchauvinistische Partikularismus schon zu Kants Zeiten nicht, ja niemals hätte sein sollen, dass er aber offenbar heute noch, wie zu Kants Zeiten, ein Faktum ist. Am Ende könnte sich die Aktualität der kantischen Denkart also, statt durch vermeintlich überzeitliche Inhalte dadurch erweisen, dass es nicht nur möglich, sondern notwendig ist, Kant mit Kant zu kritisieren; dass die Methode der Kritik also das letzte Wort gegenüber dem eigenen Ausdrucksgehalt behalten darf – ja sogar muss, damit der universale Anspruch kein leeres Versprechen bleibt.

23 Jul

Kants rassistischer Rassenbegriff

Von Reza Mosayebi (Bochum)

Dass Kants Rassentheorie aus heutiger Sicht widerlegbar ist, bedarf kaum einer Erwähnung. Doch selbst in solcher Art Theorien finden sich Momente, bei denen es immer noch Sinn macht, auf ihren Dogmatismus und ihre Gefährlichkeit aufmerksam zu machen. Inzwischen zählt Kant (nicht Blumenbach) für viele Ideenhistoriker*innen als der Gründer der modernen, „wissenschaftlichen“ Theorie der Rasse. Und schon hier ist wichtig daran zu erinnern, dass es Kant war, der (z. B. im Gegensatz zu Montesquieu oder Buffon) aufgrund seiner Teleologie für die Permanenz der Rassen, nachdem sie einmal entstanden sind, argumentierte (VvRM 2:442; BBMR 8:105; ÜGTP 8:166). Für Kant war die Rasse ein unveränderliches Schicksal von Individuen.

Doch – wie so oft – steckt der Teufel im Detail. Kant war aus zwei zusammenhängenden Gründen gegen jede Rassenmischung: Nach seinem teleologischen Narrativ sollten die einzelnen niedrigeren und höheren Rassen erhalten bleiben, eine Vermischung der Rassen aber löse sie vollständig auf (damit unterscheidet sich Kants Konzeption der Rassenmischung von der One-Drop-Rule), und führe zu einer Degradierung höherer Rassen (ÜGTP 8:166–67; BBMR 8:104–05; Anth 7:320; s. weiter etwa Refl 1520 15:878). Kant ging nämlich davon aus, dass bei der Vermischung allein die rassischen Nachteile vererbbar sind. Nach seiner Auffassung war somit die Entstehung von und Zugehörigkeit zu einer Rasse nicht nur irreversibel, sondern es sei auch nicht gut gewesen, verschiedene Rassen durch Mischung „zusammen[zu]schmelz[en]“ (Anth 7:320).

Das hat eine, in der Literatur vernachlässigte, Kehrseite, nämlich Kants Argumente zugunsten der Mischung innerhalb der weißen Rasse (VvRM 2:430; ÜGTP 8:166–67). (Wohlgemerkt, Kant hat ein weites Verständnis der Weißheit, die zwischen Okzidentalischem und Orientalischem Schlag unterscheidet, somit nicht auf Europäer*innen – Kant gendert nicht! – beschränkt ist, s. etwa Refl 1520, 15:879.) Auch dies beruht hauptsächlich auf zwei wichtigen Gründen: Die Weißen sind für ihn die überlegene Rasse (VvRM 2:440; ÜGTB 8:174; PG 9:316) und ihre innerrassische Diversität sorgt für die „Mannigfaltigkeit der Charaktere“ (ÜGTP 8:166), die er als Zweck der Natur für den Fortschritt der Kultur betrachtet (KU 5:431; Päd 9:449).

Doch was ist die Moral dieser Geschichte für heute? Um die moderne Rassentheorie und deren Rolle für den Rassismus zu verstehen, ist eine genaue und offene Untersuchung von Kants Rassentheorie unabdingbar. Weiterhin: Wie und aus welchen Gründen eine Rassentheorie die Mischung von „Rassen“ auffasst, verrät viel über diese Theorie selbst. So birgt die sog. One-Drop-Rule eine essentialistische Konzeption der Rasse in sich, welche (in der Regel) die Reinheit einer Rasse verteidigt. Ferner ist Kants eigener Dogmatismus, unter anderem bezüglich der Übertragung ausschließlich schlechter Eigenschaften bei der Rassenmischung (etwa im Unterschied zu José Vasconcelos‘ Idee der Raza Cósmica, welche sich genau für die entgegengesetzte Richtung entscheidet, nämlich für die Akkumulation guter Eigenschaften in gemischten Rassen), mehr als überraschend. Kants teleologische Opposition zur Rassenmischung auf der einen und seine Befürwortung der Vermischung innerhalb der weißen Rasse auf der anderen Seite wollen letzten Endes die Frage klären, wer die wahren Akteure des kulturellen Fortschritts sind. In ihrer janusköpfigen Funktion diente „Rasse“ Kant dazu, in seiner Naturgeschichte zu erläutern, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen dort sind, wo sie (kulturell) jetzt – das ist in der Aufklärungszeit – sind, und in seiner Geschichtsphilosophie trägt der Begriff dazu bei zu klären, wie Menschen dorthin gelangen, wo sie sein sollten.

Noch interessanter sowohl für heutige Analysen des Rassismus als auch zugunsten antirassistischer Agenden scheint es mir zu sein, Kants Rassentheorie in Verbindung mit seiner Moralphilosophie im breiteren Sinne zu betrachten. Und zwar so, dass wir eine mögliche Voreingenommenheit (bias) für letztere beiseitelegen; das heißt, Kants Rassentheorie zusammen und auf gleicher Augenhöhe mit seiner Moraltheorie lesen. Hierbei beachte man, dass Kant alle seine drei Abhandlungen über Rasse, selbst die erste aus seiner vorkritischen Periode, bis Ende der 1790er Jahren mehrmals unverändert wiederveröffentlicht hat. Beachtet man diese Punkte, lässt sich (trotz dem Ignorieren und Leugnen vieler) noch einiges von Kants Rassentheorie lernen – nicht unbedingt lediglich, um ihn zu kritisieren (geschweige denn zu canceln).