Die neue Sichtbarkeit der Lehre. Eine Zwischenbilanz zur philosophischen Lehre in Zeiten der Pandemie
von Daniel Kersting (Jena) und Michael Reder (München)
Heute beginnt das neue Semester – bei vielen sicherlich mit gemischten Gefühlen. Eigentlich sollte das Wintersemester als ein „Hybrid-Semester“ stattfinden: So viel Präsenzlehre wie möglich, soviel Distanzlehre wie nötig. Doch die Infektionszahlen steigen rapide an und vielerorts startet das Semester nun doch online. Wir möchten diese außergewöhnliche Situation zum Anlass nehmen, Zwischenbilanz zu ziehen, und – vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen, bundesweiter Umfragen sowie einiger Diskussionsbeiträge zum Thema – danach fragen, was gute Lehre insbesondere in der Philosophie auszeichnet und welche institutionellen Bedingungen es dazu braucht. Dabei lassen wir uns von der Beobachtung leiten, dass der Lehre durch die COVID-19 Pandemie gleichsam über Nacht eine neue Bedeutung und Sichtbarkeit zuteilwurde, die es unseres Erachtens über die Krise hinaus zu sichern gilt. Die Pandemie fungiert dabei auch wie ein Katalysator: sie zeigt, an welchen Stellen wir in der Vergangenheit zu wenig über die Lehre nachgedacht haben und was daraus für die Zukunft der Lehre folgen könnte.
Was ist gute philosophische Lehre?
Lehre ist kein nachgeordnetes Anhängsel der Forschung, sondern ein essenzieller Bestandteil der Universität. Dieses akademische Selbstverständnis wurde lange nicht mehr so vehement bekräftigt, wie in den letzten Monaten, als Lehrende und Studierende sich unermüdlich für die „Rettung“ des Sommersemesters eingesetzt haben und ihre Vorstellungen von guter universitärer Lehre in offenen Briefen, Stellungnahmen und Petitionen öffentlich proklamierten. Weil bestehende Formen von Frontaldidaktik digital schnell ins Leere laufen, hat die Pandemie uns alle in der ein oder anderen Weise herausfordert, neu darüber nachzudenken, wie wir Lehre organisieren wollen und welche Formate wir für besonders geeignet halten.
Dabei hat sich einmal neu gezeigt: Gute philosophische Lehre bedeutet nicht nur einen philosophischen Text (gemeinsam) zu lesen oder in Vortragsmanier philosophiehistorisches Wissen zu dozieren, das Studierende auch andernorts im Netz finden können. Gute Lehre bedeutet vielmehr, die Kontexte der Studierenden mit zu bedenken, philosophische Fragestellungen unter Rekurs auf reale Erfahrungszusammenhänge zu motivieren und Studierende in Lehrprozesse einzubinden. Philosophieren lernt man nämlich nicht nur vom Zuhören oder Bücher lesen; vielmehr ist Philosophieren eine Praxis, die man aktiv und – gerade zu Beginn des Studiums –gemeinsam vollziehen muss. Die Beantwortung der Frage, was gute philosophische Lehre auszeichnet, ist außerdem, so zeigt die Pandemie, keine rein theoretische Frage: Sie braucht immer auch reale Erfahrungen und ihre Reflexion in konkreten Situationen. Dazu ist eine Arbeitsweise wichtig, die ebenfalls in vielen Fakultäten in den vergangenen Monaten neu entdeckt und erprobt wurde: das Arbeiten im Team. An manchen Standorten wurden Gesprächskreise oder Jours Fixes aufgesetzt, in denen sich Lehrende aller Qualifikationsstufen teils auch gemeinsam mit Studierenden über neue Lehrformate im Zeitalter der Pandemie ausgetauscht haben. So können die eigenen Ideen zur kollegialen Diskussion gestellt werden und Lehrende von ihren Erfahrungen wechselseitig profitieren. Es wäre guter Lehre sicher zuträglich, wenn wir uns diesen Teamgeist auch über die Pandemie hinaus bewahren könnten.
Digitalisierung der Lehre: Hoffnung oder Schreckensvision?
In den letzten Monaten wurde sehr viel über die Digitalisierung der Lehre gestritten und man hatte zuweilen den Eindruck, als könne es nur eine, der akademischen Lehre angemessene Form geben: analog oder digital. Tatsächlich aber kann gute Lehre doch in sehr unterschiedlicher Weise erfolgen, jede Methode und jedes Format hat dabei spezifische Vor- und Nachteile, und welche Methode zu wählen ist, hängt von den Lehr-Lern-Zielen der Veranstaltung ab – und oftmals auch von der Persönlichkeiten und den Vorlieben der Studienenden und Lehrenden. Darüber hinaus dürften die Einschätzungen über den Sinn und Unsinn der Digitalisierung je nach Selbstverständnis eines Faches sowie der darin gepflegten Kultur des Lehrens und Lernens variieren. Fächer, deren Lehre eher auf Wissensvermittlung ausgerichtet ist, können digitale Formate leichter umsetzen als geistes- oder sozialwissenschaftliche Fächer. Denn in diesen vollzieht sich das Lehren und Lernen weniger über Vermittlung von Wissensbeständen top-down als vielmehr diskursiv und vernetzt, im Rahmen theoriegeleiteter Reflexion, die ein dialogisches Miteinander erfordert.
Chancen der Digitalisierung…
Ungeachtet dieser Differenzen haben schon die bisherigen Erfahrungen gezeigt, dass digitale Formate die herkömmliche Lehre auch in den Geisteswissenschaften vielfältig bereichern können. Gerade Formate des Blended-Learning ermöglichen eine intensive Einbindung von Studierenden auf unterschiedlichen Ebenen (z.B. durch Kurzinputs, Erarbeitung eigener Fragestellungen, parallellaufenden Kleingruppen, gemeinsame Schreibprozesse, Erstellung von Kurzvideos usw.). Auch das selbstorganisierte diachrone Lernen in Gruppen wurde in den vergangenen Monaten mancherorts zu einem Lernerfolg. Und vielleicht werden viele Lehrende auch nach der Pandemie damit fortfahren, externe Referent*innen oder Autor*innen virtuell zur Seminarsitzung dazu zu schalten, kooperative Lehrveranstaltungen mit anderen Universitäten aus dem Ausland durchzuführen u.v.m.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Pandemie erweist sich die Digitalisierung ohnehin als Rettung der Lehre: Digitale Medien und Formate ermöglichen es, Studium und Lehre auch in Krisenzeiten weiterführen zu können und dabei immerhin ein Mindestmaß an persönlichem Kontakt und Betreuung aufrecht zu erhalten. Das ist für die Philosophie schon deshalb wichtig, weil sich ein Philosophiestudium – entgegen dem in unserem Fach noch immer verbreiteten Genie-Mythos – nicht einfach im Selbststudium absolvieren lässt. Akademisches Philosophieren setzt Fertigkeiten und Kenntnisse voraus, die gemeinsam erworben werden müssen und die nur von geschultem Personal vermittelt werden können.
Deshalb darf die digitale Lehre auch nicht als eine Konserve verstanden werden, die sich beliebig wiedereinsetzen lässt (und die vielleicht auch noch langfristig Personal einsparen hilft). Das Gegenteil ist der Fall: auch digitale Lehre braucht reale Lehrende, die je neu das Angebot mit Leben füllen, für Austausch und Reflexion zur Verfügung stehen und Philosoph*innen auf ihren akademischen Wegen begleiten können. Außerdem bedarf es des argumentativen Austausches zwischen Studierenden, um die Universität als Ort kritischen Denkens zu erhalten. Deshalb sollten wir gerade auch unter den Bedingungen der Pandemie aktiv nach Wegen suchen, Lehre als Raum für Diskussionen, Kontroversen, Pluralität und Kritik zu sichern. Gerade hier zeigen sich allerdings auch deutlich die Grenzen der neuen digitalen Lehr- und Lernformate.
…und ihre Grenzen
Eine kontroverse Diskussion oder ein philosophisches Gespräch lassen sich im digitalen Raum nur sehr eingeschränkt führen. Das liegt daran, dass das digitale Medium die sprachliche Mitteilung vor allem auf ihren Informationsgehalt reduziert. Kommunikation ist aber bekanntlich mehr als bloßer Informationsaustausch. Miteinander-Sprechen – und so auch das Philosophieren – ist nicht nur eine kognitiv-sprachliche, sondern auch eine performative und leibliche Tätigkeit, die als solche affektive und expressive Aspekte einschließt (bestimmte Gefühle und ihre Ausdrucksformen in Körperhaltung, Blick, Mimik, Gestik, Intonation u.v.m.). Diese lassen sich virtuell nur begrenzt vermitteln, weil sie als leibliche Phänomene auf den physischen Raum als Erscheinungs- und Entfaltungsraum der Person angewiesen sind.
Deshalb ist Philosophieren im digitalen Raum voraussetzungsreich. Wer via Videokonferenz eine philosophische Diskussion führen möchte, rechnet mit Subjekten, die bereits in der Lage sind, sich in einer dem Fach angemessenen Weise sprachlich zu äußern und die selbstbewusst genug sind, den eigenen Redebeitrag in die Mitte einer Stille, die durch ausgeschaltete Mikrophone erzeugt wird, hinein zu legen. Das alles setzt Fähigkeiten voraus, die im Studium eigentlich allererst erlernt und geübt werden müssen – und zwar mit allen Sinnen. Hinzu kommt, dass in dem Maße, in dem das Studium aus dem öffentlichen Raum heraus in die eigenen vier Wände der privaten Wohnung verlegt wird, auch das soziale Miteinander, das ein lebendiges und erfahrungsreiches Studium ausmacht, erheblich umgebaut wird. Distanzlehre führt zu sozialer Isolation. Genau deshalb wird sie unter den Bedingungen der Pandemie ja auch praktiziert. Solche Isolation mag für jene, die in einer Stadt bereits gut vernetzt sind, weniger ins Gewicht fallen. Aber Studienanfänger*innen, Austauschstudierende oder auch Geflüchtete, die in unseren Universitätsstädten ein neues Leben beginnen möchten, sind auf Räume der Begegnung und auf Kontakte zu anderen Studierenden angewiesen. Diese entstehen unter normalen Bedingungen oftmals gerade informell „am Rande“ eines Seminars, einer Vorlesung oder einer Tagung, oder bei der zufälligen Begegnung in der Mensa oder auf dem Campus – sicherlich aber nicht in der eigenen Wohnung via Onlineseminar.
Für eine bildungsgerechte und diskriminierungssensible Lehre
Auch in Bezug auf die Lehre zeigt die Pandemie einmal wieder, dass sich soziale Ungleichheiten oder machtbesetze Kommunikationsformen in Krisenzeiten eher reproduzieren als auflösen. Dies gilt natürlich auch für Asymmetrien und Ungleichheiten im philosophischen Lehrbetrieb. Beim Philosophieren im Angesicht von 25 und mehr kleinen Videofenstern auf einem Bildschirm, sind beispielsweise zurückhaltende Studierende nur allzu schnell aus dem Bildschirm verschwunden. Noch mehr in Veranstaltungen, bei denen sich der Usus etabliert hatte, das Video gar nicht mehr anzumachen. Auch geschlechtsbedingte Ungleichheiten verstärken sich durch die Pandemie, beispielsweise durch die oft unhinterfragte Annahme, dass Mütter mehr als Väter neben dem Studium für Kinderbetreuung zuständig seien – was in der Praxis zu einer massiven Mehrbelastung weiblicher Studierender mit Kindern führt. Daher sollten wir gerade jetzt einen besonders aufmerksamen Blick für all die Studierenden entwickeln, die durch unsere Lehrformen (gegenwärtige oder zukünftige) vernachlässigt, benachteiligt oder diskriminiert werden, und Beratungsstrukturen schaffen, damit Studierende die Möglichkeit haben, über ihre Situation zu sprechen und Überlastungen zu benennen.
Zuweilen wird es als ein Vorteil der Digitalisierung angesehen, dass Studierende in der Online-Lehre weniger von sich preisgeben müssen, weil dadurch auch Eigenschaften, aufgrund derer sie diskriminiert werden – Hautfarbe, Kopftuch, u.v.m. – unsichtbarer würden. Ohne Frage mag das Ausstellen des Videos im Onlineseminar oder der Wechsel auf eine rein schreibbasierte Lehre im E-Learning punktuell vor diskriminierenden Handlungen schützen. Zugleich wissen wir heute aber auch, dass erfolgreiche Antidiskriminierungsarbeit nicht allein über das Unsichtbarmachen von Differenzen erfolgen kann, sondern vor allem darüber erfolgen muss, sie zu erfahren und den eigenen Umgang mit ihnen bewusst und kritisch zu bearbeiten. Hierzu aber sind leibhaftige Begegnungen, in denen wir reale Erfahrungen miteinander machen, unverzichtbar. Lehrformen, die darauf zielen, diese Erfahrungsmöglichkeiten abzubauen, tragen nicht zum Abbau von Diskriminierung bei, sondern im schlechtesten Fall dazu, sie fortzuschreiben und in neuen Formen zu reproduzieren. Dies gilt auch für die Gewährleistung einer barrierefreien Lehre: Zwar mag es für einige Menschen mit Behinderung individuell und situativ von Vorteil sein, für ein Seminar nicht den Weg in den Seminarraum auf sich nehmen zu müssen. Eine angemessene Maßnahme zum Abbau von Bildungsnachteilen kann hierin aber wohl kaum gesehen werden; die Digitalisierung würde so zur Blaupause für längst überfällige infrastrukturelle Maßnahmen. Kurzum: Die vermeintliche Inklusivität der Neuen Medien ist trügerisch: Denn Digitalisierung ohne sozial- und bildungspolitische Intervention verschärft Bildungsungerechtigkeit und führt zu einer Besserstellung der ohnehin schon Privilegierten.
Gute Lehre braucht flexible Institutionen und sichere Beschäftigungsverhältnisse
Das individuelle Engagement Einzelner ist zu wenig, um gute Lehre nachhaltig zu sichern – auch das lehrt uns die Pandemie, die viele Lehrende an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit bringt. Es braucht auch den politischen Willen, um angemessene institutionelle Bedingungen für gute Lehre zu schaffen. Neue Lehrformen und Methoden fallen nicht vom Himmel. Sie müssen erarbeitet, ausprobiert, evaluiert und weiterentwickelt werden. Dazu brauchen Fakultäten zum einen didaktisch geschultes Personal und entsprechende Stellen, die es in Deutschland noch zu wenig gibt. Zum anderen ist bei den Lehrenden Freiraum zu schaffen, um sich an der Diskussion und Entwicklung neuer Lehrkonzepte und Methoden zu beteiligen und sie umzusetzen. Neue unkonventionelle Lehrformate sollten nicht durch strikte Auslegungen von Deputats-Regeln vorschnell aussortiert, sondern vielmehr experimentell in das Curriculum integriert werden. Und wieso nicht beispielsweise Fortbildungen in Philosophiedidaktik auf das Deputat anrechnen? Gute Lehre braucht aber auch gute und sichere Beschäftigungsverhältnisse: Lehrkräfte für besondere Aufgaben, die 18 SWS unterrichten müssen, haben für die Entwicklung neuer kreativer Formate eindeutig zu wenig Spielraum und sie sind in Krisenzeiten wie der gegenwärtigen viel zu stark belastet. Aber auch Kurzzeitverträge oder der enorme Karrieredruck, unter dem Nachwuchswissenschaftler*innen angesichts knapper Anschlussstellen stehen, sind guter Lehre nicht förderlich. Solange hohes Engagement in der Lehre größtenteils unsichtbar bleibt und in Berufungskommissionen wenig honoriert wird, ist es Nachwuchswissenschaftler*innen strategisch einfach nicht geraten, ihre Arbeitszeit auch in gute Lehre zu investieren. Deshalb müssen wir die hochschuldidaktische und bildungsphilosophische Diskussion um die Zukunft der Lehre mit der hochschulpolitischen Diskussion um gerechtere Arbeitsbedingungen und nachhaltige Nachwuchsförderung verbinden und uns gemeinsam für eine bessere Universität einsetzen – für die Zeit der Krise, vor allem aber für die Zeit danach.
Daniel Kersting ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie in Jena. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ethik, der philosophischen Anthropologie und der Politischen Philosophie.
Michael Reder ist Professor für Praktische Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie mit dem Schwerpunkt Völkerverständigung sowie Vizepräsident der Hochschule für Philosophie in München.