Digitalisierung und philosophische Bildung

von Klaus Feldmann (Wuppertal)


Mit dem Vorhaben der Digitalisierung wird gegenwärtig eine Neustrukturierung und -ausrichtung des Lehrens und Lernens in allen Bildungsinstitutionen gefordert. In Deutschland, welches in der Bildungspolitik föderal organisiert ist, wird für den sogenannten Digitalpakt zwischen den einzelnen Ländern und dem Bund das Grundgesetz geändert, so kann die Bundesregierung im Rahmen der Länderhoheitsaufgabe Bildung Gelder für eine Digitalisierung in Bildungsinstitutionen zur Verfügung stellen. Dabei ist die gegenwärtige Diskussion auf die Schaffung von Infrastruktur als Voraussetzung für die Möglichkeit digitaler Bildung fokussiert. Zwar wurde durch die fallengelassene Forderung einer 50:50-Bund-Länderfinanzierung aller Digitalisierungsprojekte versucht, den Investitionsanteil auf Länderseite festzu­schreiben, die für die Fort- und Ausbildung von Lehrkräften und damit Implementation von digitalen Bildungskonzepten verantwortlich sind, aber das legitime Beharren der Länder auf Bildungsautonomie und ihr gerechtfertigter Einwand gegen dieses starre Finanzierungsmodell bringt die Gefahr mit sich, dass digitale Infrastruktur geschaffen wird, die nicht zu den erklärten Zielen des Digitalpakts führt – die Vermittlung selbstbestimmter und verantwortungsvoller Nutzung digitaler Medien (vgl. BMBF 2019).

Die Länder ihrerseits haben sich mit einem Strategieplan der Kultusministerkonferenz 2016 das Ziel gesetzt, „dass möglichst bis 2021 jede Schülerin und jeder Schüler jederzeit, wenn es aus pädagogischer Sicht im Unterrichtsverlauf sinnvoll ist, eine digitale Lernumgebung und einen Zugang zum Internet nutzen können sollte“ (vgl. KMK, S. 6). Inhaltlich soll das Vorhaben der digitalen Bildung nach diesem Masterplan der Kultusministerkonferenz sechs Bereiche umfassen, die allen neu eingeschulten Schülerinnen und Schülern künftig vermittelt werden sollen: 1. Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren, 2. Kommunizieren und Kooperieren, 3. Produzieren und Präsentieren, 4. Schützen und sicher Agieren, 5. Problemlösen und Handeln und schließlich 6. Analysieren und Reflektieren. Strukturell sollen Bildungseinrichtungen von der Primarstufe über die Sekundarstufen und die berufsbildenden Schulen bis hin zur Hochschule bzw. Universität diese „Kompetenzen der digitalen Welt“ (vgl. KMK 2016, S. 10) nicht in einem gesonderten Fach vermitteln, sondern durch die je fachspezifischen Zugänge und Verhältnisse zum Digitalen auch je eigene Ausprägungen der Kompetenzen entwickelt werden (vgl. KMK 2016, S. 7).

In Bezug auf philosophische Unterrichtsfächer und Studiengänge besteht m. E. ihr spezifischer Beitrag in der gegenwärtigen Diskussion um die Digitalisierung und ihre Implementation in den betreffenden Institutionen in einer Schwerpunktverschiebung, weg von der Frage der technischen Um- und Einsetzung, hin zu einer kritischen Beurteilung digitaler Werkzeuge, Strukturen und Vorgehensweisen, auch wenn beides grundsätzlich nicht voneinander zu trennen ist. Aus dem Anspruch einer philosophischen Bildung besteht die fachspezifische Aufgabe diese Unterrichtsfächer und ihrer assoziierten Studiengänge in der Thematisierung der Bedeutung und Sinnhaftigkeit von Maßnahmen und Zielvorstellungen, die mit der Digitalisierung im Bildungssektor verbunden sind.

Als eine zentrale Aufgabe philosophischer Bildung kann die Entwicklung einer philosophischen Urteilsfähigkeit in Lehr-Lernprozessen angesehen werden. Christian Thein hat für die Philosophiedidaktik ein vierstufiges Modell der philosophischen, problemorientierten Urteilsbildung entworfen, welches durch einen vermittelnden Begründungsrekurs auf die Konzeptionen von Kant und Aristoteles eine überzeugende Theorie-Praxisrelation im Rahmen von Urteilsbildungsprozessen vorschlägt (vgl. Thein 2017, S. 60-65). In einer ersten Phase kommt es darauf an Materialien und Gegenstände mit kontroversem Gehalt genau zu sichten und sie nach ihrem deskriptiven und normativen Gehalt zu befragen. Für den zweiten Schritt schlägt Thein eine Vor-Urteils-Phase vor, bei der mit begrifflich-analytischen Mitteln und Methoden eine Positionierung (Präkonzepte) der Lernenden in Bezug auf den beschriebenen Gegenstand folgt. Es schließt sich drittens eine Erarbeitung eines zumeist philosophischen Gegenstands an, die sich unter den Perspektiven des bereits Problematisierten (Phase eins und zwei) vollzieht. Abschließend kommt es auf der Basis des erarbeiteten zu einer fundierten Urteilsbildung, indem die zuvor formulierten Vor-Urteile wieder aufgegriffen werden und Modifizierungen, Bestätigungen, Ausdifferenzierungen oder Widerlegungen erfolgen (vgl. Thein 2017, S. 80-81).

Welche Zusammenhänge lassen sich zwischen dem hier lediglich skizzierten philosophiedidaktischen Modell der philosophischen Urteilsbildung und der Frage nach Bedeutung der Digitalisierungsvorhaben von und in Lehr-Lernprozessen herstellen? Bei einer genaueren Betrachtung der oben bereits erwähnten Aufgabenfelder digitaler Bildung wird deutlich, dass Momente philosophischer Urteilsbildung durch die im Modell strukturell durchgehende Problemorientierung für die Erfüllung ihrer Ansprüche relevant und hilfreich sind. So sind im ersten Bereich Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren bereits alle die Phasen von zentraler Bedeutung: Ohne eine vorgängige Frage- und Problemstellung ist es nicht möglich Arbeits- und Suchinteressen festzulegen, Suchstrategien zu entwickeln oder relevante von nichtrelevanten Quellen zu scheiden. Werden Quellen ausgewählt, kommt es auf ihre differenzierte Analyse an, mit Hilfe von hermeneutischen Zugriffen besteht die Möglichkeit sie zu interpretieren, zu analysieren und so ihren Informationsgehalt zu gewinnen. Sodann bedarf es einer kritischen Prüfung und schließlich der Entscheidung, ob und gegebenenfalls wie mit der Quelle weiter verfahren wird. Ähnliches lässt sich für das fünfte Aufgabenfeld Problemlösen und Handeln feststellen. Ohne das Aufwerfen, Formulieren und Differenzieren eines Problems bringt philosophiedidaktisch das Problemlösen wenig Gewinn für den philosophischen Lernprozess. Im Gegenteil stellt das Problematisieren von Gegebenem einen zentralen philosophischen Vollzug und somit ein Lernziel in philosophischen Bildungsprozessen dar. Erst wenn die Fragen, die beantwortet werden sollen, erarbeitet wurden, ist es gewinnbringend Anforderungen an digitale Umgebungen zu formulieren, eröffnet sich die Möglichkeit, digitale Werkzeuge bedarfsgerecht einzusetzen und für eine Urteilsfindung sich dienstbar zu machen.

Die höchste Relevanz philosophischer Urteilsbildung kommt der Vermittlung des sechsten Aufgabenfeldes Analysieren und Reflektieren zu. Hierunter subsummieren sich unter anderem Kenntnis und Bewertung von digitalen Gestaltungsmitteln, die Entlarvung von Interessensansprüchen als zumeist ökonomische, die häufig mit Präsenz und Dominanz von Inhalten und Strategien im Internet realisiert werden, sowie die kritische Analyse von Inszenierungen und verdeckten Beeinflussungsversuchen. Insgesamt gehört ein verstehender Umgang mit Strukturen und Verfahren in digitalen Netzen zu den Aufgaben und Zielen dieses Feldes digitaler Bildung. Durchgehend ist dieser Bereich gekennzeichnet von einer Metareflexion der Digitalisierung – sei es mit dem Ziel ihrer Nutzbarmachung oder mit dem der Entwicklung einer kritischen Perspektive. Sie lässt sich strukturell mit der philosophischen Urteilsbildung beschreiben, wie Thein sie mit seinem Modell entwirft.

            Neben der Frage nach der dringlichen Entwicklung von Urteilskraft erscheint es als unverzichtbare Aufgabe philosophischer Unterrichtfächer die Sinnhaftigkeit digitaler Medien zu erschließen. Hilfreich ist hier Volker Steenblocks Begriff philosophischer Bildung; er konstatiert, „dass Philosophieren das durch und durch und von Grund auf Menschliche ist. Gerade die Philosophie ist stets an undelegierbare Interessen rückgekoppelt, in denen jeder Einzelne sich unmittelbar verhalten muss. Sich über sich selbst und seine Welt zu orientieren, ist wesentliches Ziel unserer humanen Existenz. Dies betrifft jeden, denn niemand kann andere für sich denken lassen oder für sich „Mensch“ sein lassen“ (vgl. Steenblock 2012, S. 109). Zentral ist damit die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als Grund und zugleich Ziel philosophischer Bildungsprozesse postuliert. Letztlich bilden den Sinnhorizont philosophischer Bildung die philosophierenden Individuen selbst, er lässt sich nicht auf außerhalb ihrer selbst liegende Zwecke reduzieren.

Vor diesem Hintergrund erscheinen weitere Aufgabenfelder des Strategieplans der Kultusministerkonferenz in einer spezifisch philosophiedidaktischen Perspektive: Mit dem Aufgabenbereich Kommunizieren und Kooperieren sollen die Grundfähigkeiten des kommunikativen Austausches im Digitalen erlernt werden, digitale Kooperation in Netzwerken eingeübt und Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ermöglicht werden. Entsprechend sind Lernende im Kontext philosophischer Bildungsprozesse dahingehend zu sensibilisieren, nach der Sinnhaftigkeit, dem Gewinn für das Menschliche bei digitaler Kommunikation, beim Teilen von Information, bei digitaler Kooperation und ihrem Verhalten in digitalen Welten zu fragen. In der Folge können bestimmte Formen, Inhalte oder Arrangements digitaler Kommunikation und Kooperation in verschiedenen Kontexten als nicht wünschenswert oder im Gegenteil als geboten erscheinen. So ist auch nach festzulegenden Grenzen digitaler Medien zu fragen, denn menschliche Angelegenheiten umfassen auch Situationen und Kontexte, die ein persönliches Gespräch oder eine Begegnung von Person zu Person fordern, in denen das Medium des digitalen technisierten Austauschs dem Menschlichen nicht gerecht wird.

Mit dem Aufgabenbereich Schützen und sicher Agieren lässt sich bezüglich der Forderung nach Unversehrtheit des Individuums Vergleichbares anführen: Sich sicher in digitalen Umgebungen bewegen, die persönlichen Daten und Privatsphäre schützen zu können erfordert ein zu entwickelndes Problembewusstsein, sich selbst und seine persönlichen Daten als schützenswert anzuerkennen. Die häufig verkannte menschliche Tatsache, dass niemand nichts zu verbergen hat, (vgl. Zyen 2017) ist hier in Erinnerung zu rufen. Die Thematisierung der in Bezug auf das Digitale weit verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Identität, die letztlich dem individuellen Menschsein unangemessen ist, erscheint als wichtiges Bildungsziel philosophischer Lehr- und Lernprozesse.

Insgesamt stellt der zentrale Beitrag philosophischer Bildung eine kritische Außenperspektive auf die digitale Welt dar, die letztlich auf allen Ebenen als bloßes Werkzeug für den Menschen als Zweck an sich selbst dienstbar zu machen ist. Wesentlich gehört zur philosophischen Urteilsfähigkeit in der Sache eine differenzierte Reflexion der Grenzen einer Nutzung des Digitalen. Angesichts hoher Suchtgefahren im Umgang mit dem Digitalen (vgl. BZgA 2017) und gerade wegen möglicher kontraproduktiver Effekte auch schon bei seinem bloßen instrumentellen Einsatz (vgl. E-READ 2019) in Bildungsprozessen, gilt es gegenüber der Digitalisierung in Bildungsinstitutionen stets einem Vorbehalt aufrecht zu erhalten, den philosophische Bildung mit ihren Methoden und Perspektiven zu artikulieren vermag. Ihr im Prozess der Digitalisierung von Bildungsinstitutionen diese Funktion zukommen zu lassen, erscheint für einen unverkürzten Begriff von Bildung im digitalen Zeitalter als unverzichtbar.  


Klaus Feldmann ist Akademischer Studienrat am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal


Literatur

Brüning, Barbara, 22016, Ethik Philosophie Didaktik. Praxishandbuch, S. 160-165.

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BmBF), 2019, Der Digitalpakt Schule kommt, www.bildung-forschung.digital/de/der-digitalpakt-schule-kommt-2330.html (14. März 2019).

Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2017, Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland, www.bzga.de/fileadmin/user_upload/PDF/studien/drogenaffinitaet _jugendlicher_2015_teilband_computerspiele_und_internet–636b12366c1d5d32387b4f21a31 e88ea.pdf (14. März 2019).

Kultusministerkonferenz (KMK), 2016, Bildung in der digitalen Welt, www.kmk.org/fileadmin/Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/2018/Strategie_Bildung_in_der_digitalen_Welt_idF._vom_07.12.2017.pdf (14. März 2019).

Schmidt, Donat / Schütze, Mandy, 2015, Digitale Medien im philosophischen Unterricht, in: J. Nida-Rümelin / I. Spiegel / M. Tiedemann, Handbuch Philosophie und Ethik, S. 300-308.

Schütze, Mandy, 2016, Digitale Medien, in: J. Pfister / P. Zimmermann, Neues Handbuch des Philosophieunterrichts, S. 353-374.

Evolution of Reading in the Age of Digitalisation, (E-READ), 2019, Stavanger-Erklärung, www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/stavanger-erklaerung-von-e-read-zur-zukunft-des-lesens-16000793.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (14. März 2019).

Steenblock, Volker, 2012, Kulturphilosophie – Philosophiekultur, in: Philosophie und Lebenswelt, Hannover, S. 97-112.

Thein, Christian, 2017, Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht, Opladen u. a., S. 60-65.

Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 1/2019, Medienalltag – Alltagsmedien

Zeyn, Martin, 2017, Niemand hat nichts zu verbergen. Ein Essay über Geheimnisse, www.deutschland funk.de/ein-essay-ueber-geheimnisse-niemand-hat-nichts-zu-verbergen.1184.de.html?dram: article_id=395252 (14. März 2019).