Politische Bildung und die Kontroverse über Kontroversitätsgebote
von Johannes Drerup (Koblenz-Landau)
Die Frage, was im Unterricht kontrovers, d.h. mit offenem Ausgang und nicht direktiv diskutiert werden sollte und was nicht, ist Gegenstand anhaltender nationaler und internationaler Debatten. Wie ist es z.B. mit den Themen Klimawandel oder Migration und wie sollten Lehrer als Vertreter liberaler Demokratie mit der Aussage umgehen, das dritte Reich sei nur ein `Vogelschiss´ in der deutschen Geschichte?
Ausgehend von einer kurzen Einführung in aktuelle Problemvorgaben der Kontroverse über Kontroversitätsgebote, werde ich im Folgenden die gängigsten Kriterien, die in der Debatte zur Differenzierung zwischen kontroversen und nicht kontroversen Themen vorgeschlagen wurden, rekonstruieren und auf den Prüfstand stellen (soziale, politische und epistemische Kriterien). Abschließend werde ich auf einige praktische und organisatorische Herausforderungen und Hindernisse eingehen, mit denen politische Bildung und Demokratieerziehung in Deutschland konfrontiert sind.
Beutelsbacher Konsens: Systematische Problemvorgaben
Die Folgen der Ausweitung des durch demokratische Verfahren approbierten politischen Meinungsspektrums durch die Erfolge der AfD sind schon seit längerem auch in deutschen Schulen und Hochschulen zu spüren. Zu nennen sind hier z.B. die von AfD-Vertretern initiierten Onlineplattformen, über die Schüler Lehrer melden sollen, die sich ihrer Meinung nach nicht hinreichend politisch neutral verhalten hätten.[1] Ähnliche Vorwürfe wurden im Rahmen von Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Lehrer vorgebracht, die sich – so die Unterstellung – nicht an das im Beutelsbacher Konsens kodifizierte Gebot der Kontroversiät gehalten hätten.[2] Die damit aufs Neue (man erinnere sich an Berufsverbote gegen Lehrer in den 1970er Jahren) entfachte politische und pädagogische Kontroverse über die angemessene Auslegung von Leitprinzipien politischer Bildung zeugt von der Brüchigkeit liberal-demokratischer Konsensunterstellungen. Sie zeigt eine auch strategisch orchestrierte politische Polarisierung der Öffentlichkeit und eine damit einhergehende Krise des politischen Gemein- und Wirklichkeitssinns an, ohne den gerade auch pluralistisch verfasste liberale Demokratien nicht auskommen.
Der Beutelsbacher Konsens (von 1976), der als zentrale normative Grundlage der politischen Bildung in Deutschland gilt und auf den sich die Kontroverse zum Teil bezieht, basiert auf drei Leitprinzipien:
Das Gebot der Schülerorientierung sieht u.a. vor, dass Schüler dazu in die Lage versetzt werden sollen, die politische Situation in der Gesellschaft, in der sie leben, zu analysieren. Das Überwältigungsverbot verbietet es Lehrern Schülern ihre persönliche politische Meinung aufzuzwingen. Das Kontroversitätsgebot gibt vor, Sachverhalte, die in politischen und wissenschaftlichen Debatten kontrovers diskutiert werden, auch im Unterricht kontrovers zu diskutieren. Die mit diesen allgemein gehaltenen Prinzipien verbundenen theoretischen und vor allem praktischen Schwierigkeiten verweisen auf Probleme der Bestimmung und Begründung der pädagogisch-politischen Rolle von Lehrern sowie der Abgrenzung zwischen Indoktrination und legitimen Formen von Unterricht und Erziehung.[3] Von besonderer Relevanz ist dabei das Problem der angemessenen Bestimmung von Kriterien (z.B. politische und epistemische Kriterien), die es erlauben, zwischen solchen Themen und Meinungen zu differenzieren, die im Unterricht kontrovers diskutiert werden sollten, und solchen Themen, für die das nicht gilt.
Zu unterscheiden ist hier zunächst zwischen der Frage, was im Unterricht kontrovers diskutiert werden sollte, und der Frage, wie eine solche Diskussion dann pädagogisch klug und angemessen ausgestaltet und angeleitet werden kann. Eine leitende Grundannahme der internationalen bildungs- und erziehungsphilosophischen Debatte ist in der Regel, dass alles, was kontrovers diskutiert werden sollte, nicht direktiv sondern mit offenem Ausgang diskutiert werden muss. Alles, was nicht kontrovers diskutiert werden sollte, sollte dagegen direktiv und mit direktiven Mitteln, d.h. mit einem klaren pädagogischen Ziel diskutiert werden. Der Klimawandel wird z.B. von keinem ernstzunehmenden Wissenschaftler geleugnet und sollte entsprechend – zumindest wenn man ein epistemisches Kriterium (s.u.) voraussetzt – im Unterricht kein kontroverses Thema darstellen (was nicht bedeutet, dass nicht auch die Leugnung des Klimawandels im Unterricht prinzipiell diskutiert werden kann!). Fragen der Migrationspolitik wird man dagegen z.B. in der Regel kontrovers und offen thematisieren müssen, da hier unterschiedliche, vernünftige und nachvollziehbare Positionen miteinander in Konkurrenz stehen.
Das zentrale Problem in der deutschen Debatte über die Deutung des Kontroversitätsgebots des Beutelsbacher Konsenses besteht darin, dass die Kriterien zur Differenzierung zwischen kontroversen und nicht kontroversen Themen (was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, soll auch im Unterricht kontrovers diskutiert werden), kaum angemessen expliziert und geklärt wurden.[4] Diesen theoretischen Unklarheiten entsprechen dann Verunsicherungen auf Seiten von Praktikern, die ggf. kontroverse Themen lieber ganz meiden, um potentiellen Konflikten (z.B. mit Eltern) aus dem Weg zu gehen. Dies ist jedoch mit der doppelten Konsequenz verbunden, dass Schüler im Unterricht nicht lernen über kontroverse Themen zu diskutieren und sich so in politischer Urteilskraft zu üben, und dass man auch von pädagogischer Seite rechtspopulistischen Narrativen und Positionen, die im Namen liberaler Prinzipien (politische Neutralität; Redefreiheit) liberale Demokratie einschränken oder gar abschaffen wollen, relativ wenig entgegenzusetzten zu haben scheint. Jeder Versuch einer pädagogischen Durchsetzung von Grundwerten liberaler Demokratie, wie z.B. der Akzeptanz grundlegender Freiheitsrechte, wird dann mit pädagogisch und politisch motivierter Skepsis betrachtet oder von interessierter Seite mit Verdikten belegt (`liberale Indoktrination´). Als Alternative bleibt nur die Flucht in die radikale Offenheit, die jedoch nur um den Preis zu haben ist, dass man gegenüber offensichtlich illiberalen und undemokratischen Positionen nicht eindeutig Stellung beziehen kann und man so all denjenigen das Feld überlässt, die ganz genau wissen, in welche Richtung die politische Reise gehen soll.
Beutelsbach reloaded: Drei Kriterien
In der internationalen Kontroverse über Kontroversitätsgebote werden in der Regel drei Kriterien diskutiert[5], die erlauben sollen kontroverse Themen von solchen zu unterscheiden, die mit offenem Ausgang diskutiert werden sollten: ein soziales, ein politisches und ein epistemisches Kriterium.
Das soziale Kriterium besagt, dass alles,was in der Öffentlichkeit, in politischen und wissenschaftlichen Debatten `kontrovers´ diskutiert wird, auch im Unterricht kontrovers diskutiert werden sollte. Der vermeintliche Vorteil dieses Kriteriums besteht darin, dass es erlaubt politische Themen im Unterricht in einer Weise anzusprechen, die den Usancen realer politischer Debatten zumindest ein Stück weit entspricht. Politische Bildung in der Schule und reale politische Debatten, so die zunächst progressiv anmutende Annahme, dürfen nicht zu weit voneinander entfernt sein. Ein zentrales Manko besteht jedoch darin, dass eine solche Position fast zwangsläufig auf eine Nobilitierung problematischer und unsinniger politischer und ethischer Positionen hinausläuft, ob es nun Verschwörungstheorien sind oder die Meinung Homosexualität sei `unnatürlich´. Um sicherzustellen, dass Schulen in liberalen Demokratien ihre epistemischen (u.a. Vermittlung von wissenschaftlich approbiertem Wissen; Kultivierung von politischer Urteilsfähigkeit)[6] und politischen (Vermittlung demokratischer Grundwerte) Funktionen ausüben können, sollten Schule und `Leben´ ein Stück weit getrennt werden, d.h. es sollte ein `Ethos der Diskontinuität´ (Harry Brighouse) zwischen Schule, Elternhaus und Öffentlichkeit herrschen. Einfacher und anders gesagt: Nicht jeder Unsinn ist es wert in der Schule ernsthaft diskutiert zu werden! Man führt das Ethos des Dialogs und der Kontroversität dagegen ad absurdum, wenn es dazu genutzt wird, illiberale oder sachlich falsche Positionen zu legitimieren und durchzusetzen.
Ein zweites, politisches Kriterium geht davon aus, dass eine Frage dann kontrovers diskutiert werden sollte, wenn mit Bezug auf diese auf Basis geteilter öffentlicher Werte (d.h. in erster Linie gleiche Rechte und Freiheiten)des liberal-demokratischen Staates keine eindeutige Antwort abgeleitet werden kann. Alle Positionen, die offensichtlich mit liberalen Grundprinzipien und -werten unvereinbar sind, sollten entsprechend nicht kontrovers diskutiert werden. Es ist zwar einerseits plausibel davon auszugehen, dass eine sinnvolle Auslegung des Kontroversitätsgebots auch auf politischen Grundwerten qua Grundrechten aufbauen muss, die nicht zur Debatte stehen dürfen. Andererseits kann die damit vertretene sehr weite Fassung des `Kontroversen´ jedoch, so ein Gegenargument, zu moralischem Skeptizismus und Relativismus auf Seiten der Schüler führen, da sie die zentrale Bedeutung guter Gründe und guter Begründungen für eine gesunde demokratische Kultur ausblendet. Die Annahme, dass man einen bestimmten Sachverhalt so und auch anders betrachten kann, ist zwar selbst Ausdruck einer liberalen Gesinnung, sie kann aber auch als Rechtfertigung dazu dienen sich nicht mehr ernsthaft mit schwierigen Problemen auseinanderzusetzen (die man ja immer so und auch anders bewerten kann…).
Auf diesen Einwand bietet das sog. epistemische Kriterium eine Antwort, welches vorgibt, dass ein Thema dann kontrovers diskutiert werden sollte, wenn es unterschiedliche vernünftige, d.h. gut begründete und (bestmöglich) empirisch fundierte Sichtweisen auf dieses Thema gibt. Die Annahme z.B., dass Homosexualität unnatürlich ist, ist offenkundiger Unsinn und sollte daher nicht kontrovers diskutiert werden. Gegen das epistemische Kriterium, welches in der aktuellen Debatte u.a. von Michael Hand[7] verteidigt wird, wird vorgebracht, dass es auf eine problematische Parallelisierung der Logik politischer Argumentation, welche in der Regel niedrigere rationale Begründungserfordernisse aufweist, und der Logik wissenschaftlicher und philosophischer Argumentation, welche hohe Begründungserfordernisse aufweist, hinausläuft[8], was zu einer Depolitisierung politischer Debatten und zu einer zu engen Fassung des Kontroversen führe. Wenn gut begründet wissenschaftlich gut begründet meinen soll, dann scheint dies darüber hinaus in eine Überforderung von Schülern und Lehrern im Namen eines expansionistisch gewendeten Ideals kritischer Rationalität zu führen. Wie viele Erklärungen für den Ausbruch des ersten Weltkriegs sollten z.B. gute Geschichtslehrer_innen kennen und wie viele können sie sinnvoll und realistisch mit Schülern diskutieren, ohne dass dies nolens volens zu einem kognitiven und curricularen Overload führt? Nichtsdestotrotz darf bzw. sollte Unterricht in liberalen Demokratien (und nicht nur hier) etablierte, wissenschaftlich approbierte und fachlich-disziplinär tradierte Rationalitätsstandards nicht unterbieten. Dies gilt selbstverständlich auch für Fragen der politischen Bildung. Ohne eine Variante des epistemischen Kriteriums, lässt sich daher bei der angemessenen Begründung und Auslegung des Kontroversitätsgebots in keinem Fall auskommen.
Eine sinnvolle Interpretation des im Beutelsbacher Konsens kodifizierten Kontroversitätsgebots, die hier nur angedeutet und nicht vollständig ausformuliert werden kann, besteht in einer Kopplung eines epistemischen mit einem politischen Kriterium. D.h., dass epistemische Faktoren bei der Anwendung und angemessenen Interpretation des Kontroversitätsgebots zur Geltung kommen müssen. Unvernünftige Positionen, die sich nicht angemessen begründen lassen, müssen im Unterricht entsprechend nicht kontrovers diskutiert werden. Dies gilt auch für basale Grundwerte liberaler Demokratie – über die Legitimität von Rassismus müssen wir glücklicherweise keine Kontroverse mehr führen. Mit der Kopplung eines epistemischen mit einem politischen Kriterium verbunden ist das Ziel einer epistemischen Domestizierung und Zivilisierung politischer Konflikte, die davon ausgeht, dass man sich über bestimmte politische Positionen und Sachfragen im Rahmen einer liberalen Demokratie nicht sinnvoll streiten kann und streiten sollte. Dies ist umgekehrt jedoch nicht vereinbar mit einer radikalen Politisierung epistemologischer Fragen, wie sie z.B. im Rahmen postkolonialer und feministischer Positionen propagiert wird. Über das Schulsystem gilt es vielmehr eine epistemisch fundierte und politisch legitime Form der liberal-demokratischen Hegemonie durchzusetzen, auch um potentielle Repräsentations- und Legitimationslücken langfristig und intergenerational zu schließen.[9]
Grauzonen, Grenzfälle und die Sache mit dem Vogelschiss
Soweit zu der Kontroverse über Kontroversitätsgebote. Was kann man nun aus der bildungs- und erziehungsphilosophischen Debatte für die Bewertung aktueller Problemvorgaben lernen?
Zunächst sei daran erinnert, dass keine der oben genannten Prinzipien Lehrer_innen daran hindern soll, ihre eigene (rational vertretbare, mit liberal-demokratischen Grundwerten kompatible und klar als solche deklarierte) politische Meinung offenzulegen und zur Diskussion zu stellen bzw. irrationale Positionen im Unterricht überhaupt zu diskutieren (nur eben nicht kontrovers). Außerdem ist es wichtig zu sehen, dass die oben vorgestellten allgemeine Prinzipien nur über eine eingeschränkte Orientierungskapazität verfügen, insbesondere wenn es um Grenzfälle und Grauzonen geht, und dass Praktiker letztlich immer auch auf ihre politische und pädagogische Urteilskraft verwiesen sind, die es in der universitären Ausbildung zu schulen gilt.
Jenseits von Grenzfällen und Grauzonen lässt sich jedoch mit Blick auf die eingangs genannten öffentlichen Debatten feststellen, dass der Beutelsbacher Konsens von Mitgliedern der AfD – zumindest mit Bezug auf einige Fälle – auf illegitime Weise instrumentalisiert wird, wenn sie das Kontroversitätsgebot zur Verteidigung und Durchsetzung ihrer doktrinären politischen Vorgaben in Stellung bringen. Sollen Geschichtslehrer z.B. einige der einschlägigen Aussagen von AfD Politikern ernsthaft `kontrovers´, d.h. mit offenem Ausgang diskutieren? Etwa nach dem Muster: Manche Leute denken, dass die Nazidiktatur keine besondere Bedeutung in der deutschen Geschichte hat („Vogelschiss“) und dass wir zudem wieder stolz auf die Leistungen der Wehrmacht im zweiten Weltkrieg sein sollten, andere dagegen gehen davon aus… Eine solche `Kontroverse´ ist eine politische Farce und eine pädagogische Absurdität. Man muss schließlich kein allseits informierter, gebildeter und interessierter Citoyen sein, um zu wissen, was diese – nun wirklich nicht sonderlich subtilen – Provokationen im Rahmen der politischen Kultur dieses Landes bedeuten. Kann man ernsthaft in Frage stellen, dass diese Äußerungen und die damit verbundene neue bzw. alte rechte Rhetorik auch auf eine Rehabilitierung rechtsradikalen Gedankenguts angelegt sind? Dass die Kritik der entsprechenden Äußerungen dann als liberale Indoktrination abqualifiziert und im Namen des Beutelsbacher Konsenses kritisiert werden, ist selbst nicht mehr als eine ideologiepolitische Strategie zur Durchsetzung illiberaler Positionen und führt letztlich die Grundwerte ad absurdum, für die dieser Konsens stehen sollte.
Lehrer als Repräsentanten liberaler Demokratien dürfen daher nicht nur, nein sie sind verpflichtet[10], entsprechende Äußerungen und die damit verbundene Rhetorik von AfD Politikern (welche nicht zu identifizieren sind mit der AfD als im Bundestag vertretener Partei)[11] als das zu benennen und zu kritisieren, was sie sind, eben als Äußerungen, die offensichtlich eine Nähe zu menschenverachtenden und rechtsradikalen Positionen aufweisen.[12] Was denn sonst? Sich angesichts der politischen Selbstpositionierungen Gaulands, Höckes und Co. hinter einem falsch verstandenen Kontroversitätsgebot zu verstecken, um vermeintliche Neutralität zu wahren, liefe dagegen auf eine politische Legitimation und pädagogische Nobilitierung auch solcher Positionen hinaus, die mit Sicherheit nicht mehr in das Spektrum liberal-demokratischer, verfassungskonformer Orientierungen eingemeindet werden können.
Streit um die angemessene Anwendung von Unterscheidungen zwischen dem moralisch, politisch, rechtlich und sachlich noch akzeptablen und nicht mehr akzeptablen ist zumindest ein Stück weit der demokratische Normalfall. Es soll daher natürlich nicht in Frage gestellt werden, dass es bezüglich der angemessenen Anwendung der Prinzipien des Beutelsbacher Konsenses immer auch Grauzonen gibt und geben wird. Die Existenz solcher Grauzonen – das sollte jedem Lehrer und Politiker klar sein – hebt die grundsätzliche Geltung dieser Unterscheidungen jedoch genauso wenig auf wie die Dämmerung die Unterscheidung zwischen Tag und Nacht.
Politische Bildung: Praxis- und Organisationsprobleme
Abschließend soll noch auf einige Probleme der praktischen Umsetzung und Organisation einer dialogorientierten politischen Bildung und Demokratieerziehung eingegangen werden, die in der häufig vor allem idealtheoretisch orientierten (inter-)nationalen Debatte eher ausgeblendet werden:
Hierzu gehören erstens einschränkende organisatorische Rahmenbedingungen, wie z.B. mangelnde Zeit für wirkliche Kontroversen über politische Fragen (nur 2,3 % des Unterrichts befasst sich durchschnittlich mit Themen der politischen Bildung)[13] oder auch curriculare Engführungen und blinde Flecken (all die Themen, die schon auf curricularer Ebene kontrovers dargestellt und diskutiert werden sollten, aber nicht kontrovers diskutiert werden)[14].
Zweitens werden in der Debatte häufig auch eher personengebundene Praxisprobleme ausgeblendet, wie z.B. potentiell mangelndes Interesse an und Wissen über Kontroversen auf Seiten der Lehrkräfte, was ggf. auf eine mangelnde Ausbildung zurückzuführen sein kann oder darauf, dass politische Bildung (sofern als eigenständiges Fach implementiert) fachfremd unterrichtet wird. Nicht zu unterschätzen ist außerdem politischer Druck, der auf Lehrer_innen ausgeübt wird (durch Parteien oder auch Eltern), die daher gute Gründe haben potentiellen Konflikten aus dem Weg zu gehen. In manchen Fällen ist natürlich die politische Orientierung der Lehrer_innen selbst das Problem, was die alte Debatte über Berufsverbote für Lehrer_innen erneut aktuell machen dürfte.
Drittens werden in der häufig von eher rationalistischen Annahmen über die Kraft des besseren Arguments geprägten Debatte sozialpsychologische Faktoren nicht hinreichend berücksichtigt, wie eher emotionale und irrationale Motive und Orientierungen, die dazu führen, dass Akteure eine bestimmte Position vertreten oder beibehalten.
Diese praktischen und organisatorischen Probleme sollten in Zukunft vermehrt Anlass bieten für Kooperationen zwischen Erziehungs- und Bildungsphilosophie und theoriegeleiteter empirischer Erziehungs- und Bildungsforschung.[15] Gegenstand der (philosophischen) Forschung sollten dann entsprechend nicht nur die Fragen sein, was, auf welche Art kontrovers diskutiert werden sollte, sondern auch von wem, wann und mit welchen Effekten.
Johannes Drerup vertritt eine Professur für Erziehungs- und Bildungsphilosophie an der Universität Koblenz-Landau.
[1] Silke Fokken (2018): Afd-Appell an Schüler: Überflüssige Provokation. In: Der Spiegel, online: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/afd-aufruf-fuer-schueler-in-hamburg-ueberfluessige-provokation-a-1229435.html (28.07.2019). Diese Onlineplattformen, die natürlich an Denunziationspraktiken aus der Zeit der deutschen Diktaturen erinnern, scheinen nicht leicht zu erreichen zu sein, was dafür spricht, dass es hier vor allem um Symbolpolitik geht, die auf die Verbreitung der Annahme abzielt, Lehrer seien – genauso wie die Presse – nicht hinreichend neutral gegenüber der AfD und ihren Positionen (vgl.: Uwe Ebbinghaus 2018: Denunziation und Opferrolle. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.11.2018, S. 9.).
[2] Hannah Knuth (2018), Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen? In: Die Zeit Nr. 26, online: https://www.zeit.de/2018/26/afd-lehrer-neutralitaetsgebot-beschwerde (28.07.2019).
[3] Hierzu: Drerup, J. (2018). „Zwei und zwei macht vier.“ Über Indoktrination und Erziehung. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 1, 7-24.
[4] So, z.B. die meisten der Beiträge in: Widmaier, B. & Zorn, P. (eds.) (2016). Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Bonn: bpb.
[5] Vgl. die exzellente Rekonstruktion von: Yacek, D. (2018). Thinking controversially: The psychological condition
for teaching controversial issues. Journal of Philosophy of Education, 52(1), 71-86.
[6] Hierzu auch der Beitrag von Thomas Rucker in diesem Blog: https://praefaktisch.de/bildung/schule-als-bollwerk-der-bildung/#more-851
[7] Hand, M. (2008). What should we teach as controversial? A defense of the epistemic criterion. Educational Theory, 58(2), 213-228.
[8] Hess, D. E. and McAvoy, P. (2014) The Political Classroom: Evidence and Ethics in Democratic Education, New York: Routledge.
[9] Dies bedeutet natürlich nicht, dass man liberale Demokratie nicht kritisieren sollte. Das Problem scheint mir vielmehr, dass es immer noch Pädagog_innen und Theoretiker_innen zu geben scheint, denen rein gar nichts Positives zu den Themen Liberalismus und Demokratie einfällt und die entsprechend auch gegenüber den Gegnern liberaler Demokratie keine Gegenargumente vorbringen können.
[10] In diesem Kontext reicht es nicht sich einfach auf die Selbstbestimmungs- und Urteilsfähigkeit der pädagogisch Adressierten zu verlassen, die, so die optimistische empirische Annahme, schon selbst zu den angemessenen und richtigen Einsichten kommen werden. Eine solche radikale Verantwortungsverschiebung (in Richtung der Adressaten) im Namen von Selbstbestimmung ist m.E. in pädagogischer und auch politischer Hinsicht verantwortungslos und beruht letztlich auf einer naiven politischen Sichtweise. In solchen Fällen ist es vielmehr die Aufgabe von Lehrern ihre epistemische und auch politische Autorität zu nutzen um gegen die entsprechenden Positionen Stellung zu beziehen.
[11] Ich danke Michael Geiss für den Hinweis auf diese wichtige Differenz.
[12] Nichtthematisierung wäre im Falle dieser Aussagen ggf. ebenfalls eine angemessene pädagogische Reaktion, da eben fraglich bleibt, ob sie würdig sind im Unterricht überhaupt behandelt zu werden, zumindest sofern sie nicht von Schülerseite selbst thematisiert werden. Ich danke Douglas Yacek für den entsprechenden Hinweis.
[13] Lange, V. (2018). Populismus, Fake News, Lügenpresse. Netzwerk Bildung: Friedrich Ebert Stiftung. Vgl. auch der Beitrag von Krassimir Stojanov in diesem Blog: https://praefaktisch.de/bildung/bildung-gegen-populismus/
[14] Dieser Punkt geht auf Überlegungen von Michael Merry and Darren Chetty zurück.
[15] Z.B.: Hess, D. E. and McAvoy, P. (2014) The Political Classroom: Evidence and Ethics in Democratic Education, New York: Routledge.