07 Mai

Träge und schwere Masse: Kants übergangenes Problem

Von Cord Friebe (Siegen)

Trägheit und Schwere sind eigentlich ganz verschiedene Eigenschaften, doch werden alle Körper im Schwerefeld der Erde gleichermaßen beschleunigt – wie man bei der Kant-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn an der Schiefen Ebene experimentell überprüfen sollte. Diese Gleichheit von träger und schwerer Masse war das große Rätsel der Newtonschen Physik, und erst Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie offeriert dafür eine Lösung. Bei Kant aber kommt dieses Rätsel gar nicht vor! Er hat das Problem einfach übergangen. Warum? Hielt er diese numerische Gleichheit bloß für eine empirische Zufälligkeit, die einer philosophischen Erklärung nicht bedarf? Vielleicht ist ihm etwas Wesentliches entgangen: Denn könnte es nicht sein, dass man aus seinem Ansatz a priori deduzieren kann, dass es Schwere als zusätzliche Eigenschaft gar nicht gibt, dass es also einen „metaphysischen Anfangsgrund“ von Einsteins Grundidee gibt? Das wäre doch bemerkenswert!

07 Mai

Gibt es eine Einheit aller Wissenschaften?

Von Lorenzo Spagnesi (Trier)

Für Kant ist ein wesentliches Kennzeichen von Wissenschaft ihre systematische Einheit. Die Vorstellung, dass die systematische Einheit eine zentrale Rolle in der Wissenschaft spielt, ist heute jedoch relativ unpopulär. Nur wenige Philosophen vertreten die These, dass die Wissenschaften systematisch vereinheitlicht werden sollten. Es ist unbestreitbar, dass der gegenwärtige Stand der Wissenschaft dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine Vielzahl von Theorien, Modellen und Klassifizierungen gibt, die jeweils unterschiedliche und oft unvereinbare Perspektiven auf die Phänomene eröffnen. Sollen wir daraus schließen, dass der gegenwärtige Stand der Wissenschaft Kants wissenschaftliches Projekt ungültig macht? Wenn Kants Wissenschaftsideal das eines Systems ist, in dem alle Komplexität auf ein einziges Prinzip reduziert ist, dann ist dieses Ideal nicht nur überholt, sondern kann der Forschung sogar schaden. Systematische Einheit beschränkt sich jedoch nicht auf einen Reduktionismus. Meines Erachtens kann sie auch einen vernünftigen Rahmen bedeuten, in dem verschiedene Perspektiven auf die Phänomene möglich sind und vereinheitlicht werden können (oder nicht). Wenn dies zutrifft, kann systematische Einheit auch heute noch relevant sein; dann nämlich, wenn wir sie als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft und nicht als deren notwendiges Endergebnis betrachten.

07 Mai

The Ether

Von Stephen Howard (Leuven)

It goes without saying that Kant’s most glaring errors are his views on race and gender, which will be discussed by other contributors. So, bearing in mind that my topic is of secondary importance, let me mention a different way in which Kant seems not to be our contemporary. In his early writings as well as in the final drafts he wrote at the end of his life, Kant showed himself to be an enthusiastic believer in the ether: an all-penetrating matter that is the bearer of forces and, in particular, light and heat.

The early Kant scholar Erich Adickes accused Kant of backing the wrong horse, so to speak, by affirming the substantiality theory of heat – according to which the ether is the substance (Stoff) of heat – rather than the vibration theory that later became standard. Kant was not the only natural philosopher who tried to explain heat on the basis of the ether: so did Boerhaave, Euler and Lavoisier. Thinkers such as Descartes and (in his unguarded moments) Newton speculated that the ether could explain gravitational attraction. The ether concept was only decisively disqualified in the late nineteenth and early twentieth century: experimentally by Michelson and Morley, and theoretically by Einstein.

When criticizing Kant, it is tempting to employ his own conception of critique, which entails not simply rejecting a view but rather identifying its sphere of validity and the limits of this validity (this conception of critique is not outdated, I would say). In this spirit we might say that the ether has value as part of our ‘manifest’ rather than ‘scientific’ image of the world, to borrow Sellars’ distinction. We tend to find it difficult to conceive of forces without something that carries them. And who knows: in future physical theories that try to explain, or reject, dark matter and dark energy, the ether might make a comeback.

30 Apr

Kants zu abstrakter Universalismus

Von Elena Romano (Berlin)

Meines Erachten handelt es sich beim “Universalismusstreit” um eine Debatte, die eine Grenze von Kants Philosophie berührt und uns aber auch ermöglicht, mit Kant über Kant hinauszuschauen. Ganz allgemein betrifft der Universalismusstreit Kants Konzeption der Rationalität als allgemeine Eigenschaft des Menschen, die zentral für seine Philosophie ist. Problematisch ist dies, da Kant dabei nicht die empirischen (sozialen, historischen, usw.) Bedingungen berücksichtigt, die die Ausübung der Rationalität beeinflussen. In diesem Zusammenhang scheint es jedoch offensichtlich, dass bestimmte Klassen von Menschen für Kant von der Möglichkeit, diese Rationalität auszuüben, ausgeschlossen sind. Kants rassistische und sexistische Behauptungen tragen also letztendlich dazu bei, seinen Universalismus infrage zu stellen. Daraus ergeben sich zwei mögliche Perspektiven auf Kants Philosophie.

Man könnte erstens der Vorstellung von der menschlichen Vernunft als Träger allgemeiner universaler Charakteristiken misstrauen, die alle Menschen unabhängig von ihrer jeweiligen Situierung verkörpern. Der abstrakte Universalismus könnte durch eine alternative Konzeption der Rationalität ersetzt werden, die z. B. auf den Begriff der “situatedness” beruhen könnte.

Zweitens könnte man aber auch Abstand davon nehmen, Kants Universalismus aufgeben und ihn stattdessen radikalisieren. Man könnte sich fragen, unter welchen Bedingungen wir den Universalismus denken und letztendlich verteidigen können, ohne dabei die spezifischen kulturellen und sozialen Voraussetzungen zu verneinen, in die Menschen überall auf der Welt hineingeboren werden.

    30 Apr

    Geht Kants Menschenwürde am Menschen vorbei?

    Von Bernward Gesang (Mannheim)

    Zwar betont Kant den absoluten Wert des Individuums, auch weil vor ihm das Individuum von absoluten Monarchen mit Füßen getreten wurde. Aber Kants Ethik überzieht den Schutz des Individuums. Eine Orientierung am Menschen und an dessen Bedürfnissen fehlt.

    Ethik ist bei Kant kein Instrument, um menschliches Zusammenleben konfliktfrei zu regeln, sondern sie orientiert sich am Gebot der Widerspruchsfreiheit. So wurde Kant schon zu Lebzeiten kritisiert, dass ein Regent, vor die Wahl gestellt, zu lügen oder sein Volk in intensivste Sklaverei zu werfen, nach Kant nicht lügen dürfe. Nicht der Mensch, sondern die Pflicht ist der Mittelpunkt. Wenn die Gerechtigkeit aus dem Lot geraten ist, muss diese für Kant um jeden Preis (Todesstrafe) wiederhergestellt werden. Damit wird Gerechtigkeit zum Selbstzweck: Menschen sind nicht an sich wertvoll, sondern nur als Instanzen von Gerechtigkeit.

    30 Apr

    Das Problem der Begründung der Menschenwürde

    Von Mario Brandhorst (Halle)

    Kant hat entscheidend dazu beigetragen, unseren moralisch aufgeladenen Begriff der Menschenwürde zu formen und ihm etwa durch die Zweckformel auch normative Konturen zu geben. Das war ein wichtiger Impuls, der das Grundgesetz und andere Rechtstexte geprägt hat und bis heute nachwirkt. Doch Kant begründet seine These, dass wir den Status der Würde besitzen, auf sehr problematische Weise. Erstens meint er, dass die Würde sich auf Autonomie, also Selbstgesetzgebung, gründet. Man kann sagen, Kant zufolge ist die Menschenwürde eigentlich die Würde des moralischen Gesetzes selbst. Zweitens setzt die Konzeption voraus, dass wir in einem transzendentalen Sinn frei sind. Als natürliche Wesen betrachtet hätten wir dann keine Würde. Drittens stellt sich nun die Frage, wie es um die Würde derjenigen Menschen steht, die noch nicht, nicht mehr oder nur in einem sehr eingeschränkten Sinn vernunftfähig sind. Wir müssen und wir können Menschenwürde heute anders konzipieren, ohne Kant ganz aufzugeben.

    30 Apr

    300 Jahre Kant: Menschenwürde und Universalismus

    Beiträge von Elena Romano, Berward Gesang und Mario Brandhorst aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.

    Mit der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie möchten wir den Fokus auf das Anachronistische, Antiquierte und Unzeitgemäße bei Kant legen. Dabei geht es nicht darum, Kant zu diskreditieren. Ziel ist vielmehr, durch eine Vielzahl kurze Statements einen Eindruck zu vermitteln, wie divers die heutige Kantforschung (im europäischen Raum und darüber hinaus) ist und wo sie die Grenzen von Kant verortet. Dafür werden wir ab dem 22. April 2024 jeden Dienstag drei thematisch verwandte Kurzbeiträge veröffentlichen.

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    22 Apr

    300 Jahre Kant: Kant lesen, Kant und Philosophie

    Kant Portrait

    Beiträge von Lucian Ionel, François Ottmann und Dina Emundts aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.


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    22 Apr

    Das Antiquierte und Unzeitgemäße bei und in Kant

    Von Dina Emundts (Berlin)

    Angenommen, wir sehen Kinder im Sandkasten spielen; das eine siebt den Sand und teilt Sand, Stöckchen und Steinchen säuberlich in drei Eimer, geht dann dazu über, die Steine nach Größen zu sortieren und die Stöcke zur Hecke zu bringen; all dies, während das andere aus dem Gemisch ein Haus gebaut hat, in dem man jetzt spielen könnte. Wenn die dabeisitzenden Eltern die Berufe ihrer Kinder erraten müssten, wo würden sie den der Philosophie vermuten?

    Kant hätte nicht gezögert. Das Kind mit den gründlichen Trennungen wäre es gewesen. In der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant: „Was Chemiker beim Scheiden der Materien, was Mathematiker in ihrer reinen Größenlehre tun, das liegt noch weit mehr dem Philosophen ob, damit er den Anteil, den eine besondere Art der Erkenntnis am herumschweifenden Verstandesgebrauch hat, ihren eigenen Wert und Einfluß sicher bestimmen könne.“

    Hier, wie an vielen anderen Orten, macht Kant deutlich, dass Philosophie Ordnung herstellt, dass sie dem ‚Herumschweifen‘ entgegenwirken sollte und dass sie auch in ihrem Auftritt möglichst trocken und nüchtern sein muss. An einer anderen Stelle heißt es bei Kant: „Im Grunde ist wohl alle Philosophie prosaisch; und ein Vorschlag, jetzt wiederum poetisch zu philosophieren, möchte wohl so aufgenommen werden, als der für den Kaufmann: seine Handelsbücher künftig nicht in Prosa sondern in Versen zu schreiben.“

    Ich möchte nicht sagen, dass Kant hier ein falsches Bild der Philosophie hat. Ordnung schaffen, Sortieren sowie klare Grundsätze und Nüchternheit zu pflegen, sind philosophische Tugenden. Das Ideal, das Kant hier geschaffen hat, war prägend und ein Stück weit hänge ich ihm auch an. Dann aber wurmt es mich plötzlich, ob dies nicht das Bild der Philosophie als einer Begriffspolizei bedingt hat, das mir manchmal in anderen Disziplinen begegnet ist und das ich auf keinen Fall als Ideal meiner Arbeit ansehe. Hatte Hegel nicht Recht, die Dialektik als die bessere Methode der Philosophie darzustellen? Muss in einer komplexen, lebendigen Welt die Philosophie nicht die Kunst der Übergänge mehr als die der Trennungen pflegen? Und muss sie dies wirklich immer so nüchtern tun? Soll sie ordnen und sortieren oder soll sie etwas bewohnbar machen und herstellen? Fehlt es unserer Zeit an Emphase oder an Nüchternheit von Seiten der Philosophie? Unzeitgemäß ist vielleicht am Ende sogar die Trennung von diesen Beiden: Nüchternheit und Emphase werden heute gar nicht mehr als Gegensätze verstanden. Wenn Kant hierin „unzeitgemäß“ ist, dann ist dieser Ausdruck aber nun in dem Sinne gemeint, dass etwas unzeitgemäß ist, wenn es aus einer anderen Zeit ist, in einem gewissen Kontrast zur eigenen Zeit steht und gerade dadurch etwas Überraschendes, Aufweckendes und Neues haben kann – das gilt dann bei diesem Thema auf jeden Fall von Kants Bemerkungen dazu, was für einen Charakter die Philosophie hat.

    22 Apr

    Kant zwischen Buchstabe und Geist

    Von Lucian Ionel (Leipzig)

    Wenn wir Kants Textkorpus untersuchen, stoßen wir zunächst auf die Grenze des Buchstabens. Der Buchstabe ist die Grenze des Geistes: Der Geist kann sich nur im Buchstaben verstehen; der Buchstabe ist aber auch die Weise, in der er sich verfehlen kann. Davor warnt uns Kant, wenn er sagt, Philosophie könne man nicht lernen. Er meint damit, dass philosophische Erkenntnis nicht in der Form von Lehrsätzen erworben werden kann. Philosophische Erkenntnis kann man nur erwerben, indem man philosophiert. Das Einzige, was wir von ihm lernen können, ist das Philosophieren. Wenn wir Kant stattdessen buchstäblich lesen, dann grenzen wir unser Verständnis dessen, was wir sind, selbst ein.

    Die Übersetzung des kantischen Geistes in Buchstaben wird deutlich in der Art und Weise, wie seine Kritik unserer Erkenntnisvermögen – also seine Artikulation dessen, was wir von dem wissen, was wir als geistige Lebewesen können – zumeist verstanden wird. Allzu oft wird Kants Unterfangen als eine Aneinanderreihung gegebener Dispositionen verstanden – als wären die Erkenntnisvermögen Dispositionen des Geistes, so wie die Zerbrechlichkeit eine Disposition der Knochen ist. Kant aber mahnt, dass es eine natürliche Illusion unserer Selbsterkenntnis ist, das Subjekt für ein Objekt, unser selbstbewusstes Können für eine gegebene Anlage zu halten. Diese Einsicht ist Ausdruck seines kritischen Geistes in der Frage der philosophischen Psychologie, der Selbsterkenntnis des Menschen. Diesen kritischen Geist brauchen wir auch heute – auch um Kant nicht als ein bloßes Lehrgebäude, als toten Buchstaben am Leben zu erhalten.