Anerkennung in Zeiten von COVID-19

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Zeiten der Krise sind Zeiten, in denen Helden gemacht und Heldenerzählungen geschrieben werden. Die COVID-19-Pandemie kennt einige Helden: das gesamte medizinische Personal vorne weg, aber auch die vielen anderen Menschen, die die Gesellschaft am Laufen halten und sich gegen die Pandemie stemmen. Es mehren sich so auch die Stimmen, die diesen „Helden des Alltags“ öffentlich ihre Anerkennung aussprechen. Eine bekannte Supermarktkette in Österreich hat zum Beispiel eine Anzeige geschaltet, in der sie ihren Angestellten ihren Dank ausspricht für das, was sie gerade jetzt leisten. Während einige Berufsgruppen wie zum Beispiel ÄrztInnen es gewohnt sind, weit oben in der Anerkennungshierarchie zu stehen, kommen nun auch Menschen in den Genuss solcher Anerkennung, die normalerweise davon ausgeschlossen sind. Gemeint sind damit unter anderem die schlechte bezahlten Angestellten in den Supermärkten und Lagerhallen, aber auch die vielen, die Pflege- und Fürsorgearbeiten in den Krankenhäusern, Pflegeheimen oder in privaten Arrangements für bedürftige und chronisch kranke Menschen leisten. Zwei Fragen stellen sich: wie verschieben sich Anerkennungsregime in Zeiten der Krise und was ist eigentlich mit allen, die keine „Helden des Alltags“ sind, was macht die Krise mit ihnen?

Es ist ein mittlerweile gut etablierter Topos der Sozialtheorie und Philosophie, dass Anerkennung in modernen Gesellschaften eine eminente Rolle spielt. Anerkennungsregime ordnen und bestimmen, wer für welche Tätigkeiten und Leistungen wie viel Anerkennung erwarten kann. Sie erzeugen Anerkennungshierarchien, die relativ stabil und der Verfügungsgewalt des einzelnen Individuums entzogen sind. Anerkennung kann in unterschiedlichen Währungen erfahren werden. Anerkennung kann in Lob ausgedrückt werden, aber auch in einem höheren sozialen Status oder in einem dickerem Gehaltsscheck. Es ist bekannt, dass Erwerbsarbeit in modernen Gesellschaften wichtige Funktionen hat, unter anderem eben auch, dass Menschen im Rahmen ihrer Tätigkeiten und für die Leistungen, die sie dort erbringen, von anderen Anerkennung bekommen. Es ist auch bekannt, dass Jobs unterschiedlich viel und unterschiedliche Formen von Anerkennung generieren – manche stehen eher weiter oben, manche eher weiter unten. ÄzrtInnen stehen in vielerlei Hinsicht weiter oben in der Anerkennungshierarchie. Ihre Tätigkeit wird als besonders nötig, sinnvoll und anstrengend und verantwortungsvoll geschätzt. ÄrztInnen verdienen im Schnitt auch ganz gut und erfahren ihre eigene Tätigkeit als erfüllend und wichtig. Das sind alles Anerkennungsformen, die anderen Tätigkeiten, die nun durch die COVID-19-Pandemie in den Fokus rücken, fehlen. Die Tätigkeiten der Beschäftigten im Lebensmittelhandel und seinen Zulieferbetrieben sind zumeist nicht besonders hoch anerkennt, sie sind auch nicht sehr gut bezahlt und sie werden zu einem großen Teil von Frauen geleistet. Jobs, die typischerweise von Frauen ausgeübt werden oder als „weiblich“ gelten, stehen in der Anerkennungshierarchie oft eher weiter unten. Das gilt auch für das nicht-ärztliche medizinische Personal, also Hilfspersonal, PflegerInnen oder Krankenschwestern. Besonders weit unten in der Anerkennungshierarchie stehen auch solche pflegerischen Berufe, die von migrantischen Frauen ausgeübt werden und in der Unsichtbarkeit privater Haushalte fast gar keine öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Öffentliche Aufmerksamkeit ist auch eine Quelle der Anerkennung, da sie sowohl die öffentliche als auch private Wahrnehmung von Berufen und denen, die sie ausführen, prägt.

Klar ist, dass nette Worte zwar besser sind als nichts aber nicht die eigentlich wichtige Währung der Anerkennung in modernen Arbeits- und Geldgesellschaften. Daher sollte solchen formelhaften Lobeshymnen auf die „Helden des Alltags“ in den Supermärkten, Lagern und den Fürsorge-und Pflegeberufen durchaus auch kritisch gesehen werden. Für die Supermarktketten sind sie auch gute PR, für diejenigen, die das Lob aussprechen immer auch eine Strategie der Entlastung. Wichtiger wäre eine langfristige Verschiebung und Veränderung der herrschenden Anerkennungsregime und Anerkennungshierarchien, die manche Berufe und Tätigkeiten systematisch unterbewertet. Diese Unterbewertung ist auch nicht interessenlos: Anerkennungshierarchien nützen denen, die oben stehen, da sie selbst davon profitieren, mehr Anerkennung zu erhalten als andere, insbesondere wenn es sich um kompetitive Anerkennungsgüter handelt (was auch solche scheinbar einfachen Dinge wie Lob oder Aufmerksamkeit sind, da diese entweder begrenzt sind oder ihren Wert verlieren, wenn sie alle erhalten). Die geringe Bezahlung von und die Ignoranz gegenüber Menschen im Einzelhandel und anderen Dienstleistungsbereichen ermöglicht die dort generierten Profite. Die geringe Anerkennung der vornehmlich weiblichen Fürsorge- und  Pflegearbeit macht es möglich, dass diese Tätigkeiten weiterhin zu einem günstigen Preis erbracht werden und Gesellschaft und Politik die Probleme in diesen Bereichen weiterhin ignorieren und verdrängen können. Dazu kommt eine Form der moralischen Erpressung, da allen Menschen, die dort arbeiten, klar ist, dass die von ihnen gepflegten und betreuten Menschen auf eben diese Pflege und Betreuung angewiesen sind. Ob die COVID-19-Pandemie also dazu führt, dass letztlich mehr als nette Worte und Werbeanzeigen und symbolisches Schulterklopfen durch die Medien übrig bleiben, ist noch nicht ausgemacht – ja es ist leider sogar eher zu bezweifeln. Die jetzt so wichtigen ArbeiterInnen in der Grundversorgung, die Menschen mit Nahrungsmitteln und anderen Produkten versorgen, drohen nach der Krise wieder in Vergessenheit zu geraten und in der Anerkennungshierarchie weiterhin am unteren Ende eingereiht zu bleiben.

Die COVID-19-Pandemie ermöglicht aber auch in anderer Hinsicht einen Blick auf das geltende Anerkennungsregime und seine Hierarchie. Plötzlich sind viele Menschen von gewohnten Anerkennungsressourcen und –kontexten ausgeschlossen oder drohen sie zu verlieren. Da sind einmal alle jene, die durch diese Krise ihren Job verlieren und ins Elend der Arbeitslosigkeit mitsamt drohender Verarmung gestürzt werden. Arbeitslosigkeit ist für viele Menschen, vor allem, wenn sie länger andauert, mit einem Verlust von materieller, sozialer und symbolischer Anerkennung verbunden. Es könnte sein, dass die massenhafte Arbeitslosigkeit, die durch die ökonomische Krise, die mit der COVID-19-Pandemie einhergehen bzw. durch sie mitverursacht werden wird, es ermöglicht die gängige Individualisierung von Arbeitslosigkeit teilweise aufzuheben und dadurch für die betroffenen Menschen leichter verarbeitbar zu machen. Das ist aber noch nicht ausgemacht.

Menschen in Kurzarbeit erhalten nicht nur weniger Lohn, sondern sind ihrer Erwerbsarbeit und ihres Arbeitsumfelds beraubt, welches für viele von ihnen bis vor Kurzem für die Strukturierung ihres Alltags und ihr Selbstverständnis und ihre Identität eine wichtige Rolle spielte. Natürlich ist auch in modernen Arbeitsgesellschaft ein gutes Leben jenseits der Erwerbsarbeit möglich und sie ist nicht die einzige Anerkennungsressource, aber dennoch eine wichtige und zwar sogar für jene, die keine tollen und hochgeschätzten Jobs machen.

Es sind aber nicht nur die Menschen, die arbeitslos geworden sind bzw. werden oder jene, die zur Zeit nicht mehr arbeiten können, für die sich vieles verändert hat. Die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Ausgangsbeschränkungen und das Runterfahren weiter Bereiche des sozialen und ökonomischen Lebens schneiden auch viele, die noch erwerbstätig sind, von ihren gewohnten Anerkennungsressourcen ab. Die Interaktion mit KollegInnen, Vorgesetzten, KundInnen aber auch im privaten Bereich verändert sich notwendig, wenn man Home Office macht oder durch die Krise bedingt, weniger zu tun hat als sonst üblich. Manche spüren nun vielleicht deutlich, was bislang implizites Wissen war, nämlich, dass ihre Erwerbsarbeit und damit sie selbst, nicht so wichtig sind. Die allermeisten Jobs sind eben nicht systemrelevant oder kritisch. Das könnte auch eine Chance sein. Durch die COVID-19-Pandemie könnte ein gesellschaftlicher wie auch privater Reflexionsprozess eingeleitet werden, um die Rolle von Erwerbsarbeit unter den Bedingungen des Kapitalismus neu zu bewerten und darüber nachzudenken, welche alternativen Anerkennungsregime möglich wären. Anerkennung wird wohl immer ein privater und sozialer Wert sein, der für ein gutes Leben eine wichtige Rolle spielt, ihre zu enge Verknüpfung mit Erwerbsarbeit und Leistung sollte aber kritisch überdacht werden.


Eine kürzere englische Version dieses Blogbeitrags erschien zuerst auf dem Blog Justice Everywhere.


Gottfried Schweiger arbeit am Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg. Dort forscht er hauptsächlich im Bereich der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Gottfried ist Ko-Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Praktische Philosophie.