Corona-Triage
Ein Kommentar zu den anlässlich der Corona-Krise publizierten Triage-Empfehlungen der italienischen SIAARTI-Mediziner
Von Weyma Lübbe (Regensburg)
[Dieser Text ist zuerst erschienen in: VerfBlog, 2020/3/15, https://verfassungsblog.de/corona-triage/]
Triage – das ist die Sortierung von Patienten in Gruppen vor- und nachrangig zu Behandelnder bei einem die verfügbaren Ressourcen weit übersteigenden Massenanfall von Bedürftigen. Das ist schon immer ein heikler und belastender Vorgang gewesen. Die italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI) hat den Intensivmedizinern, die derzeit nicht mehr allen bedürftigen Covid-19-Patienten Beatmungsgeräte bereitstellen können, dazu kürzlich Empfehlungen an die Hand gegeben. Man wolle auf diesem Wege die Praktiker davon entlasten, die Auswahlentscheidungen persönlich verantworten zu müssen, und man wolle die Kriterien explizit und kommunikabel machen. Auch den daran interessierten Betroffenen und ihren Familien müssten sie zugänglich gemacht werden, um das Vertrauen in das öffentliche Gesundheitswesen aufrecht zu erhalten.
Diese Anliegen sind nachvollziehbar. Wäre ich derzeit in Italien Patientin oder Angehörige, fände ich es auch nicht passend, erschöpfte Praktiker zwischen Tür und Angel in Diskussionen über Zuteilungsentscheidungen zu verwickeln. Wenn die Kriterien – genauer: Empfehlungen zu Kriterien – nun öffentlich gemacht werden, muss man sie freilich auch kommentieren dürfen. Das möchte ich hier tun. Mein Vertrauen in das (italienische) öffentliche Gesundheitswesen ist nämlich durch diese Veröffentlichung nicht gestützt worden. Vielmehr hat es gelitten. Dass italienischen Medienberichten zufolge einzelne praktizierende Mediziner die Anwendung der Empfehlungen öffentlich bestritten bzw. abgelehnt haben, finde ich erfreulich. Aber ich frage mich, für wie viele das gilt.
1.
Die zentrale Passage des Papiers lautet so: Ressourcen, bei denen erhebliche Knappheit eintreten könne, seien zunächst [1] für denjenigen zu reservieren, der eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit habe, und zweitens [2] für denjenigen, der mehr Jahre geretteten Lebens („più anni di vita salvata“) erreichen könne, im Blick auf [3] eine Maximierung des Nutzens („dei benefici“) für die größte Anzahl der Personen. Im dritten Teil dieser von mir nummerierten Formulierung erkennt man unschwer die Maxime des Utilitarismus. Der zweite Teil spezifiziert die Nutzenwerte, um die es geht, als Jahre geretteten Lebens. Damit sind die Lebensjahre gemeint, die bei einem Patienten im Falle seiner Behandlung zum Entscheidungszeitpunkt zu erwarten sind. Mit dem ersten Teil der Formulierung schließlich soll wohl nicht auf die absolute Überlebenswahrscheinlichkeit, sondern auf den mit der Behandlung verbundenen Wahrscheinlichkeitszuwachs verwiesen werden. Sonst müsste man lauter leichter Erkrankte begünstigen, die mit der Beatmung ganz sicher überleben, aber schon ohne Beatmung eine gute Prognose haben.
Für Unsicherheiten und Uneinigkeit innerhalb der medizinischen Profession zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit sollte man Verständnis haben. Das Thema, wie gesagt, ist heikel und in der Fachliteratur ist vieles umstritten. Zu den Fächern, die zum Thema publizieren, gehören außer der medizinischen Profession auch die Normwissenschaften, also die Ethik und die Jurisprudenz, aber auch die Gesundheitsökonomik, soweit sie sich normativ äußert, was sie gerne tut. Das alles ist nicht leicht zu überblicken. Die Medizinergruppe, die die SIAARTI-Empfehlungen verantwortet, hat aber keine Unsicherheit zum Ausdruck gebracht. Sie hat sich auf „die Katastrophenmedizin“ berufen, für die „die ethische Reflexion“ konkrete Weisungen erarbeitet habe.
Davon, dass die zitierte Formulierung einem etablierten Konsens zum Umgang mit existentiellen Knappheiten folgt, kann aber keine Rede sein. Das gilt für die Fragen der Allokation lebensrettender Ressourcen im Allgemeinen, zu der etwa auch das Thema der Allokation von Spenderorganen gehört. Es gilt aber auch für die interdisziplinäre Literatur zur katastrophenmedizinischen Triage, die sich in bestimmter Hinsicht von der allgemeineren Allokationsdebatte unterscheidet. Nicht jede Knappheit, auch nicht jede existentielle, wird nämlich als Katastrophe eingestuft. Nur für den Katastrophenfall – den Fall eines plötzlichen, die regulär in Bereitschaft gehaltenen Ressourcen weit überfordernden Massenanfalls von Bedürftigen – hat sich das unter dem Namen „Triage“ bekannte Prozedere etabliert. Auch den Massenandrang von Verwundeten in Kriegszeiten zählt man dazu. Die traditionelle Regel lautet hier, die Ressourcen seien so einzusetzen, dass möglichst viele Menschen überleben. Bei der Organallokation zum Beispiel ist das nicht das maßgebliche Kriterium. Das sieht man schon daran, dass auch Personen mit doppeltem Transplantatbedarf versorgt werden, wenn sie nach den sonstigen Regeln an der Reihe sind.
Warum haben die italienischen Mediziner das Kriterium der Maximierung der Anzahl der Überlebenden durch das Kriterium der Maximierung der Jahre geretteten Lebens ersetzt? Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie die Formulierung selbst gewählt, vielleicht haben sie sich auf mir nicht bekannte Empfehlungen einer italienischen oder ausländischen Fachgesellschaft gestützt. Vielleicht wurden aber auch beiläufig rezipierte Beiträge aus nichtmedizinischen Fächern als maßgeblich eingeschätzt, die in Wirklichkeit hochumstritten sind. In jedem Fall ist der Wechsel des Kriteriums beunruhigend. Nicht nur ergäbe sich, wenn die neue Regel konsequent umgesetzt würde, ein triage-untypisches Verteilungsgeschehen (2). Vor allem zeigt der Wechsel an, dass die komplexe Begründungslogik der Triage missverstanden worden ist (3).
2.
Lautet die Regel, die knappen Ressourcen seien so einzusetzen, dass möglichst viele Betroffene die Katastrophe überleben, ergibt sich das traditionelle Triage-Prozedere. Es sieht eine Einteilung in vier Gruppen vor: Vorrangig behandelt werden schwer betroffene Patienten, die ohne die infragestehende Behandlung sicher oder sehr wahrscheinlich nicht überleben, bei Behandlung jedoch eine gute Prognose haben. In zweiter Reihe werden Patienten behandelt, deren Chance, die Erkrankung zu überleben, auch ohne Behandlung nicht unerheblich ist, aber bei Behandlung noch deutlich steigen würde. Nicht behandelt werden leicht betroffene Patienten, die auch ohne Behandlung eine gute Prognose haben. Bis zur Entspannung der Lage ebenfalls nicht (bzw. lediglich palliativ) behandelt werden diejenigen schwer betroffenen Patienten, die auch bei Behandlung eine schlechte Prognose haben.
Lautet die Regel, dass möglichst viele gerettete Lebensjahre erzielt werden sollen, sieht das anders aus. Zunächst wäre innerhalb der genannten Gruppen nach Lebensalter zu differenzieren. Das ist nicht Teil des traditionellen Prozedere. Bei großen Altersdifferenzen wären zudem ältere Personen in der ersten Gruppe zugunsten jüngerer Personen in der zweiten Gruppe zurückzustellen. Konkret, und mit gänzlich fingierter Eindeutigkeit der Wahrscheinlichkeitsangaben: Bei einem Sechzigjährigen mit einer statistischen Restlebenserwartung von 20 Jahren, der ohne Behandlung sicher stirbt (0% Überlebenswahrscheinlichkeit) und mit Behandlung zu 70% überlebt, erbringt der Ressourceneinsatz rechnerisch 14 Jahre (70% von 20). Dieser Patient müsste einem Zwanzigjährigen mit einer statistischen Restlebenserwartung von 60 Jahren weichen, der bereits ohne Behandlung mit erheblicher Wahrscheinlichkeit (70%) und bei Behandlung mit Sicherheit (100%) überlebt. Denn bei diesem Patienten erbringt der Ressourceneinsatz rechnerisch 18 Jahre (60 minus 42, d. i. 70% von 60).
Ich hoffe, das Beispiel ist deutlich genug. Es zeigt, dass das Kriterium der Maximierung der geretteten Lebensjahre von den Praktikern eine krasse Abstandnahme vom eingeübten Blick auf die medizinische Bedürftigkeit fordern würde. Den zurückgestellten Patienten und ihren Angehörigen würde zugemutet, erhebliche eigene Überlebenschancen aufzugeben zugunsten einer Augmentierung der Überlebenschancen von Personen, die auch ohne diese Solidaritätsleistung (oder wie soll man das nennen?) bereits erhebliche Überlebenschancen haben. Wieso sollten sie das tun? Und wie kommt es dazu, dass so etwas als Ergebnis „der ethischen Reflexion“ präsentiert werden kann?
3.
Damit sind wir bei der Frage nach der Begründungslogik. Zunächst zum traditionellen Prozedere: Auch hier, das darf man nicht übersehen, wird Patienten, bei denen die fragliche Behandlung indiziert ist und denen sie eine (wenngleich geringe) Überlebenschance bietet (Gruppe 4), zugemutet, zugunsten anderer Patienten auf ihre Chance zu verzichten. Die zuerst begünstigten Patienten (Gruppe 1) sind freilich, anders als der Zwanzigjährige in unserem Beispiel, nicht deutlich weniger bedürftig. Zum traditionellen Verfahren gehört aber auch die Zurückstellung von Patienten der Gruppe 4 gegenüber den Patienten der Gruppe 2. Diese Zumutung kann über den Gedanken der Solidarität mit deutlich schwerer Betroffenen nicht begründet werden. Sie kann (und sie sollte, wenn man an der Triage-Praxis festhalten will) mit dem Gedanken begründet werden, dass vor dem Eintritt einer Katastrophe, d. h. solange keiner weiß, in welcher Gruppe er landet, uns allen ein Interesse an der Maximierung der Anzahl der Überlebenden unterstellt werden kann. An diesem vermuteten Konsens zur Regel werden wir dann festgehalten, auch wenn die Katastrophe uns in Gruppe 4 verschlägt.
Das ist keine utilitaristische Begründung. Eine utilitaristische Begründung derselben Regel würde lauten, dass ein gerettetes Menschenleben etwas „Wertvolles“ und daher zwei (andere) gerettete Menschenleben ceteris paribus doppelt so wertvoll sind. Von dieser Begründung aus, und nur von dieser, gelangt man unschwer zu der Abwandlung des Maximandums, die die SIAARTI-Empfehlungen sich erlaubt haben: Wenn (und solange) das Leben wertvoll ist, ist ein längeres Leben wertvoller als ein kürzeres. Sind die Ressourcen dann nicht am wertproduktivsten („effizientesten“) eingesetzt, wenn man anstelle der Anzahl der Überlebenden die Anzahl der Lebensjahre maximiert? Diese Redeweise passt für Wirtschaftsunternehmen, die Eigner haben, denen die produzierten Werte gehören. Für das Gesundheitswesen passt sie nicht. Menschen haben keine Eigner. Für die öffentliche Hand sind zwei Menschenleben nicht „wertvoller“ als ein einzelnes anderes und natürlich auch Zwanzigjährige nicht wertvoller als Sechzigjährige.
An diesem Grundsatz sollte und kann auch in der Corona-Krise festgehalten werden. Das kann klappen, wenn man begleitend zu einer eventuell erforderlich werdenden Triage öffentlich auf ihrer nichtutilitaristischen Begründung besteht. Am besten gelingt das, wenn man das gesundheitspolitische Verteilungsgeschehen, wie es die Rechtswissenschaften seit jeher tun, nicht in terms von Nutzen oder Werten, sondern in terms von Rechten beschreibt. Wie jeder Jurist weiß, müssen Rechte des Einzelnen nicht automatisch weichen, nur weil ihnen Rechte mehrerer Einzelner gegenüberstehen. Rechte funktionieren „nonaggregativ“. In Knappheitslagen werden sie nicht maximiert, sondern auf gerechte Weise spezifiziert. Auch das ist bedrückend und schwierig. Aber man kann es machen, ohne in Reflexionen über den (Rest-)Wert von Menschenleben hineinzugeraten.
Weyma Lübbe ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Regensburg.