Covid-19 und die vulnerablen Alten
Von Nina Streeck (Zollikerberg)
Wer in den vergangenen Monaten die Zeitung aufschlug, um sich über das Coronavirus zu informieren, dem fiel wiederholt eine Wendung ins Auge: Von «vulnerablen Personengruppen» war (und ist) die Rede, meist verstanden als Gruppen von Menschen, die ein erhöhtes Risiko tragen, dass eine Covid-19-Erkrankung bei ihnen schwerwiegend verläuft. Es scheint auf der Hand zu liegen, um wen es hier geht, schließlich deuten bisherige Erkenntnisse darauf hin: ältere und vorerkrankte Menschen. Ihnen gebühre infolgedessen besonderer Schutz, lautet meist die unmittelbare Schlussfolgerung.
Die vulnerablen Alten also?!
Die Gleichsetzung von Alter und Vulnerabilität lässt sich freilich hinterfragen. Ebenso die Bestimmung derjenigen als vulnerabel, die außergewöhnlichen Risiken ausgesetzt sind. Und erklärungsbedürftig bleibt auch, weshalb Schutzpflichten gegenüber den als vulnerabel Etikettierten bestehen sollen.
In der Medizinethik stößt der Begriff der Vulnerabilität seit gut 20 Jahren auf gesteigertes Interesse. Zunächst tauchte er Ende der 1970er Jahre im Rahmen der Forschungsethik auf, mit Blick auf die Auswahl von Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern. Es bedarf der Einwilligung des Probanden, an einer Studie teilzunehmen – doch wie sieht es aus, wenn Zweifel aufkommen, ob die Person imstande ist, in aller Freiheit ihre Zustimmung zu erteilen? Wie autonom entscheidet beispielsweise, wer – schwer erkrankt – auf Heilung hofft und sich abhängig von seiner Ärztin fühlt? Oder wen das Entgelt für die Teilnahme lockt, weil er jeden Cent zwei Mal umdrehen muss? Was ist mit Kindern oder mit Menschen mit Demenz?
Fragen wie diese prägten zunächst den Vulnerabilitätsdiskurs; als vulnerabel galt, wessen Fähigkeit zur Autonomie einschränkt ist. Wenngleich sich der enge Fokus seither weitete, haftet dem Begriff diese frühe Prägung bis heute an; die Etikettierung als vulnerabel deutet darauf hin, dass es einer Person an Kontrolle über ihr Leben ermangelt. Je mehr sich der Begriff aus dem Forschungskontext löste und in die Bio- sowie die Public-Health-Ethik Eingang fand, desto stärker verschwamm seine Bedeutung, so dass sich ihm heute eine notorische Unschärfe attestieren lässt. Weder besteht Einigkeit über seine Definition, noch über seine Reichweite, über die Ursachen von Vulnerabilität oder über etwaige normative Implikationen.
Im Zusammenhang mit Covid-19 zeigt sich ein Begriffsverständnis, wie es im Feld der Public Health üblich ist: Als vulnerabel gelten Gruppen, die ein erhöhten Risiko tragen, gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erleiden – zu denen ausdrücklich auch ältere Menschen gezählt werden.[1] Die Zuschreibung widerspiegelt die Rede von den „Risikogruppen“, die sich in den vergangenen Monaten immer wieder vernehmen ließ.
Was genau die Gefährdung verursacht, gehört dabei zu den vieldiskutierten Fragen. Sowohl Eigenschaften der betreffenden Personen wie ihr Alter, Krankheiten oder schwindende kognitive Fähigkeiten als auch situative Faktoren, etwa Obdachlosigkeit oder ein Gefängnisaufenthalt, kommen als Quellen von Vulnerabilität infrage. Daran anschließend lässt sich nach den Konsequenzen fragen, lediglich bestimmte Gruppen als vulnerabel zu identifizieren: Warum schreibt man Vulnerabilität genau diesen Personen zu – und ignoriert andere? Warum ausschließlich den Alten und Vorerkrankten – und nicht etwa Kindern, die coronabedingt nicht zu Schule gehen können, Flüchtlingen auf der griechischen Insel Lesbos oder Menschen, die infolge der Coronakrise ihre Stelle verlieren? Personen also, die sich ebenfalls, wenngleich nicht primär in gesundheitlicher Hinsicht, als verletzlich erweisen und der Unterstützung bedürfen?
Auf der anderen Seite lehnt manch eine Person die Zuschreibung von Vulnerabilität womöglich ab: Sie hat zwar das 70. Lebensjahr überschritten, es plagen sie aber keinerlei Gebrechen und sie treibt regelmäßig Sport – weshalb sollte man sie besonders schützen? Die Attribuierung konstituiert ein Gefälle: Hier die starke Helferin, dort die alte, schwache Empfängerin. Wer als vulnerabel etikettiert wird, erhält nicht einfach vermehrte Zuwendung, sondern er trägt ein Stigma, erfährt unter Umständen Diskriminierung und erlebt Bevormundung, alles unter dem Vorzeichen vermeintlichen Schutzes. Entsprechend ließen sich in den vergangenen Monaten auch Stimmen vernehmen, die eine neu aufflammende Altersdiskriminierung beklagten – während vor der Pandemie zunehmend die Potenziale und Ressourcen des Alters betont wurden.
Nicht Gruppen kommt Vulnerabilität zu, lautet in Anbetracht dieser Einwände ein Gegenvorschlag, sondern uns allen. Es gehört zur conditio humana, Verletzungen erleiden zu können, schlicht weil wir einen Körper haben, in Beziehungen leben und auf andere Menschen angewiesen sind. Darin gründet schließlich auch unsere Solidarität mit unseren Mitmenschen: Wir teilen die Erfahrung der Verletzlichkeit und sichern demjenigen, der in Not gerät oder zu geraten droht, unsere Unterstützung zu, weil uns ebensolches widerfahren könnte. Auf diese Weise lassen sich diskriminierende Tendenzen vermeiden, jedoch um den Preis, nicht mehr begründen zu können, weshalb man manchen Personen besondere Zuwendung schenken sollte. Der Begriff wird leer – und als moralischer Kompass nutzlos, denn der Verweis auf die Vulnerabilität eines Menschen vermag nicht mehr zum Handeln zu motivieren: Warum soll man ausgerechnet für einen älteren Menschen auf die Party verzichten oder einen lästigen Mundschutz tragen, wenn wir doch alle vulnerabel sind?
Beide Auffassungen können eine gewisse Plausibilität beanspruchen: Vulnerabilität gehört zum Menschsein – doch manch einer läuft eher Gefahr, eine Verletzung zu erleiden. Freilich stehen sich die beiden Positionen nicht unversöhnlich entgegen, vielmehr kursieren vielfältige Versuche, sie zu vereinen. Der Begriff lässt sich beispielsweise, um nur einen Ansatz aufzugreifen, in verschiedene Dimensionen aufschlüsseln: Niemand ist, erstens, davor gefeit, schwer an Covid-19 zu erkranken oder sogar zu sterben, sondern grundsätzlich sind wir alle empfänglich für eine Infektion. Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Alters- und Pflegeheims können, zweitens, der Gefahr einer Erkrankung allerdings in besonderer Weise ausgesetzt sein, wenn sie auf engem Raum leben und das Schutzmaterial für das Pflegepersonal nicht ausreicht. Gleichaltrige hingegen, die im eigenen Heim wohnen und deren Kinder die Einkäufe erledigen, entgehen diesen Risiken. Drittens mangelt es einigen älteren Menschen womöglich an Abwehrkräften gegen das Virus, etwa weil ihnen die körperliche Robustheit fehlt, oder aber sie bauen, so sie in einem Alters- und Pflegeheim wohnen, infolge der Isolation sogar physisch und geistig ab, wie vielfach berichtet wurde. An der Fähigkeit, sich selbst zu schützen, mangelt es ihnen also nicht bloß aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit, sondern ebenso, weil sie in prekären Verhältnissen leben, an denen sie nichts zu ändern vermögen.
Der Medizinethiker Henk ten Have nennt entsprechend als die drei Komponenten von Vulnerabilität die (allen Menschen gemeine) Anfälligkeit für Schaden (sensitivity), das Ausgesetztsein gegenüber Gefahren (exposure) und die Anpassungsfähigkeit (adaptive capacity).[2] Auf diese Weise lassen sich allgemeine, gruppenbezogene sowie individuelle Dimensionen von Vulnerabilität in die Analyse einbeziehen, zudem finden sowohl die inneren Eigenschaften von Personen als auch externe Faktoren Berücksichtigung. Der Ansatz bewahrt zudem davor, Personen bloß wegen ihres Alters als vulnerabel einzustufen, und erlaubt zudem eine differenzierte Betrachtung verschiedener Vulnerabilitäten: Wer ist in seiner Situation besonders gefährdet, Schaden zu erleiden, und in welcher Hinsicht? Wem mangelt es an der Fähigkeit, sich diesbezüglich zu schützen? Verengt sich der Blick nicht allein auf die Gefahr einer Infektion mit dem Virus, sondern öffnet sich auch etwa für die menschliche Verletzlichkeit in sozialer oder wirtschaftlicher Perspektive, so zeigt sich, inwiefern sich die Pandemie auch auf andere Personen als die älteren negativ auswirkt. Grundschülerinnen und -schüler mögen zwar vor einem schweren Krankheitsverlauf in aller Regel gefeit sein, doch tragen sie die Folgen eingeschränkter Möglichkeiten des Schulbesuchs, umso mehr, wenn sie in sozial schwächeren Familien aufwachsen.
Auf dieser Grundlage lässt sich auch nach den moralischen Pflichten fragen, die der Tatsache menschlicher Verletzlichkeit in ihren verschiedenen Ausprägungen erwachsen. Nicht alle Umstände lassen sich beeinflussen, körperliche Voraussetzung etwa allenfalls begrenzt. Doch wo sich Schaden abwenden lässt, indem man die Lebenssituation von Personen verändert, sind Schutzpflichten begründbar – stets mit Blick auf die uns allen gemeine Vulnerabilität, aus der sich solidarisches Verhalten nähren kann. Auf diese Weise vermag das Konzept der moralischen Orientierung dienen, ohne aber lediglich auf das Alter von Menschen zu fokussieren. Die vulnerablen Alten? – also allenfalls einige von ihnen, in spezifischen Aspekten und schon gar nicht sie als Einzige.
Dr. Nina Streeck ist Fachverantwortliche Ethik & Lebensfragen am Institut Neumünster, Zollikerberg. Sie befasst sich mit ethischen Fragen rund ums Alter(n), Demenz, Sterben und Tod. Jüngst ist ihr Buch «Jedem seinen eigenen Tod. Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende» erschienen.
[1] Rogers, Wendy: Vulnerability and Bioethics, in: Mackenzie, Catriona, Rogers, Wendy, Dodds, Susan, Vulnerability. New Essays in Ethics and Feminist Philosophy, Oxford: Oxford University Press 2015, 60-87; The Lancet: Redifining vulnerability in the era of COVID-19. Editorial, in: The Lancet 395, 1089.
[2] Ten Have, Henk: Vulnerability. Challenging Bioethics, London and New York: Routledge 2016.