Die Corona-Krise als Chance?

Von Stefan Kunzmann (Worms)

Ein Virus erschüttert die Menschenwelt (mein Hund scheint davon nichts zu bemerken) und man könnte meinen, dass ein neues Denken die Welt jetzt wachrütteln müsse, dass nach der Krise nichts mehr so sein werde wie davor. Der ‚Shutdown‘, das ‚social‘ bzw. ‚physical distancing‘ – verändern unsere Formen des Umgangs in bisher kaum vorherzusehender Weise. Aber birgt das Virus wirklich das Potenzial, unser Leben nachhaltig zu verwandeln?

Man kann erstmal nur feststellen: das Coronavirus bedroht das Leben vieler Menschen, wenn auch bei weitem nicht der ganzen Menschheit, und die wachsende Zahl der betroffenen Staaten und deren Regierungen unternimmt mehr oder weniger viel, um das Überleben ihrer gefährdeten Bürger zu sichern. Der Mensch beschränkt seine Freiheit zur Sicherung des eigenen Überlebens, ein durchaus gattungszentriertes Handeln aus speziesgeleitetem Überlebenswunsch. Die unserer Verantwortung aufgetragene „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ (so der Titel der Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats vom 27.3.2020) bezieht sich auf unsere Mitmenschen, auf die gefährdeten Mitglieder unserer eigenen Familien, unseres eigenen Landes und im weitesten Sinne unserer Artgenossen weltweit. Sobald diese konkrete Bedrohung vorüber ist, könnte nach und nach wieder alles so werden wie vorher, außer der Mensch würde das, was vorher war, radikal in Frage stellen.

Nun böte schon das Virus selbst und dessen Entstehung einiges an Potenzial, unseren rücksichtslosen Umgang mit der Tierwelt und der gesamten Natur zu hinterfragen, sollten sich erste wissenschaftliche Hinweise erhärten über unseren Lebensstil als direkte oder indirekte Ursache für dessen Übertragung auf den Menschen. Und auch was die pandemische Ausbreitung des Virus betrifft, können wir Ansätze für eine radikale Infragestellung unseres bisherigen Lebensstils finden, insbesondere all derjenigen Lebensvollzüge, die wir unter dem Schlagwort der Globalisierung zusammenfassen. Ein besonderes Merkmal der ‚kleiner‘ gewordenen Welt ist der rege und schnelle Reiseverkehr, die Begegnung von Menschen über alle Erdteile hinweg, welche die Ausbreitung eines Virus stark begünstigen. Dennoch wird kein staatstragender Verantwortlicher nach dieser Krise auf die Idee kommen, das Reisen einzuschränken, den internationalen Austausch von Menschen und Waren zu begrenzen oder gar ganz aufzuheben als präventive Maßnahme gegen eine weitere Pandemie. Eine ‚Entglobalisierung‘ oder selbst nur eine Entschleunigung unserer weltumspannenden sozialen und ökonomischen Vernetzungen erscheint ohne eine grundlegende Veränderung unserer Grundeinstellungen schier unrealistisch. Das Virus verändert jetzt unser Leben, aber was bräuchte es, dass sich unser Leben auch danach auf lange Sicht verändern könnte?

Die Angst vor einem neuen Virus wird uns sicher noch lange im Nacken sitzen und auch unsere Gesundheitssysteme beschäftigen. Wir werden möglicherweise noch besser vorbereitet sein auf eine ähnliche Gefahrenlage. Aber unser Leben? Was daran werden wir ändern wollen? Gewisse hygienische Vorsichtregeln im Umgang miteinander könnten sich etablieren, die Digitalisierung unserer Kommunikation wird sicherlich beschleunigt werden – mit ungewissen Folgen für unsere – vor allem seelische – Gesundheit. Schon jetzt zeigt sich, dass es dem Menschen im Allgemeinen kaum gelingt, auf sich selbst zurückgeworfen, eine innere Ruhe und Zufriedenheit mit sich selbst zu entwickeln, die eine notwendige Grundlage wäre für einen tieferen Wandel. Der Mensch kommt trotz bester äußerer Voraussetzungen nicht zur Ruhe, geschweige denn, dass er sie aushalten könnte. Die sozialen Netzwerke boomen, der mediale Hype um die Krise verdeutlicht die Unfähigkeit einer ganzen Gesellschaft, einfach ‚nur‘ bei sich zu sein. Jede Ablenkung ist willkommen, jede Form des Aktionismus wird gepuscht, sogar die Kirchen halten nicht inne, wenn ihre Räume leer bleiben müssen. Jede(r) glaubt, man müsse etwas tun in dieser Zeit der physischen Isolation und sei es für andere. Viele brauchen sogar die Not der anderen, um im helfenden Modus ihr Leben als sinnvoll betrachten zu können und fliehen vor der eigenen Leere.

Die Einschränkungen betreffen die körperliche Nähe, aber der Umgang damit verdeutlicht die viel grundlegendere soziale Distanz, welche wir Menschen in den von Gewinn- und Machtstreben geprägten wirtschaftlichen und politischen Systemen längst verinnerlicht haben. Letztere beruht nämlich auf der Unfähigkeit, Menschen zu begegnen ohne zu bewerten, ohne Hintergedanken, ohne Absichten. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas spricht hier von verständigungsorientiertem Handeln im Unterschied zu strategischem (erfolgsorientiertem) Handeln. Der jüdische Denker Martin Buber – meines Erachtens noch tiefgreifender – von der Ich-Du-Beziehung (Begegnung) im Unterschied zum Ich-Es-Verhältnis. Soziale Distanz waltet auch in der größten physischen Nähe von Menschen, selbst im Liebesspiel, nämlich dann, wenn es einem nicht um das Gegenüber selbst geht, sondern letztlich um sich selbst. Menschen, die nicht in sich ruhen, suchen den Anderen zur Kompensation der eigenen Leere. Das Aus(gerichtet)-Sein auf Andere, selbst in Form der größten Hilfsbereitschaft, ist daher noch kein Indiz für die Fähigkeit zur Begegnung und der „sozialen Nähe“. Der auch unter dem Mantel der Hilfsbereitschaft gelebte Aktionismus in der Krise verrät oft die darunterliegende Unfähigkeit zu echter Begegnung und damit auch die fundamentale Unfähigkeit zur Begegnung mit sich selbst. Die Stille, die jetzt möglich wäre, könnte eine Gesellschaft grundlegend und nachhaltig verändern. Die Krise, die immer auch eine Chance bedeutet, könnte uns vertiefen und wieder mit uns selbst in Kontakt bringen, spüren lassen, was wirklich wichtig ist, was wir wirklich zum Leben brauchen und was nicht, und erfahren lassen, wer wir wirklich sind, auch wenn wir einmal nicht mehr sind. Die Reduktion unserer ausufernden Bedürfnisse, die mit der inneren Stille einhergeht, könnte dann auch das Gesicht dieser Welt nachhaltig verändern.

 

Zum Autor:

Stefan Kunzmann, geb. 26.12.1965 in Mannheim, lebt in Worms, Studium Philosophie/Latein/Theologie in Freiburg und Heidelberg, seit 1999 Lehrer für Ethik/Philosophie in Mannheim, umfangreiche Tätigkeit in der philosophischen Erwachsenenbildung und psychologischen Beratung (person-zentrierte Gesprächstherapie) (Der Autor ist kein Nutzer sozialer Netzwerke, ohne eigene Homepage)