Demokratie und Zukunft

von Manfred Brocker (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)

I. Die Herausforderungen der Zukunft: Existenzrisiken für die Menschheit

Die Gefahren für das Überleben der Menschheit sind zahlreicher geworden in den letzten Jahrzehnten. Die Fortexistenz der Gattung steht auf dem Spiel. Die gegenwärtige Zivilisation des Anthropozäns (Crutzen 2011) bedroht (a) massiv die Natur und damit ihre eigenen Lebensgrundlagen; aber auch (b) die Natur, so wissen wir heute, bedroht den Fortbestand unserer Spezies.

(a) Zu den anthropogen induzierten Risiken für die Fortexistenz der Menschheit zählt vor allem der Klimawandel (vgl. IPCC 2018). Er hat, so zeigt die zeitgenössische Klimaforschung, mittelfristig Hitzewellen, Stürme und Überflutungen zur Folge: ganze Küstenregionen werden durch den Anstieg des Meeresspiegels unbewohnbar werden. Andere Regionen der Erde werden versteppen. Die menschlichen Grundbedürfnisse werden zunehmend schwerer zu befriedigen sein. Das starke Bevölkerungswachstum beschleunigt diese Entwicklung.

Am Ende des 21. Jahrhunderts, darin stimmen die wichtigsten wissenschaftlichen Prognosen überein, werden über zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben. Der Kohleverbrauch wird, global betrachtet, weiter zunehmen und damit die Erderwärmung verschärfen. Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre wird sich mehr als verdoppeln, trotz aller gegenwärtig diskutierten und teilweise umgesetzten Maßnahmen. Einerseits wird sich der Bedarf an Nahrungsmitteln bis 2050 stark vergrößern; andererseits werden die zu ihrer Produktion erforderlichen Phosphatvorräte schon in wenigen Jahrzehnten zur Neige gehen. Trinkwasser wird immer knapper werden. Durch die anthropogen induzierten Belastungen werden nach und nach Ökosystemfunktionen ausfallen, was am Ende das Überleben der Spezies Mensch als Ganze gefährden wird (Emmott 2013).

(b) Aber nicht nur der Klimawandel und andere ökologische wie demografische Entwicklungen bedrohen die Menschheit. Auch die Natur bleibt eine eigene Quelle der Gefahr. Nicht nur der Mensch bedroht die Natur, auch die Natur bedroht die Menschheit.

So fallen erdgeschichtlich betrachtet ausgedehnte Phasen des Supervulkanismus regelmäßig mit Zeiten massiven Artensterbens zusammen. Fünf solcher Phasen des massiven Artensterbens hat es in der Vergangenheit – aus verschiedenen Gründen – bereits gegeben (Hanslmeier 2011; Oeser 2011). Nichts deutet darauf hin, dass eine sechste nicht folgen könnte.

Mögen auch viele astronomische Gefahren wie das Verlöschen der Sonne, wandernde schwarze Löcher, Gammablitze, Pulsare und Magnetare für die nächsten 100 Millionen Jahre (oder mehr) kein Thema sein, so ist der Einschlag von Asteroiden oder Kometen deutlich wahrscheinlicher. Sie haben, abhängig von ihrer Größe, das Potenzial, eine Vielzahl an Lebensformen auszulöschen oder die Erde ganz zu zerstören (vgl. Steel 2001, 62ff.; Rees 2003, 100ff.; Oeser 2011, 60-92). Von den bis heute durch das Center for Near Earth Object Studies (CNEOS) der NASA katalogisierten ca. 28.000 erdnahen Asteroiden werden über 2.000 als gefährlich eingestuft. Ihr Einschlag könnte – abhängig von Aufprallgeschwindigkeit, Zusammensetzung, Aufprallort und anderen Faktoren – „viele Hundert Millionen, wenn nicht sogar Milliarden Tote“ zur Folge haben, so die Astrophysiker Andrea Carusi und Brian Marsden (2001, 6). Statistisch gesehen bedeutet das: Die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen eines kosmischen Einschlages zu sterben, ist für jeden Einzelnen von uns größer, als mit einem Flugzeug abzustürzen, erklärt der britische Astronom Duncan Steel (2001, 122).

Inzwischen werden im Rahmen von Himmelsüberwachungsprogrammen wie „Near-Earth Asteroid Tracking“ [NEAT] oder Spacewatch Karten angefertigt, die potenzielle Gefahren durch Erdbahnkreuzer erkennbar werden lassen sollen. Die staatliche Finanzierung solcher Programme und die Erforschung von Abwehrmöglichkeiten sind allerdings völlig unzureichend, angesichts der Gefahren, die hier bestehen. Nach jetzigem Stand sind größere Flugkörper selbst bei frühzeitiger Entdeckung mit den heutigen Kenntnissen und technischen Fähigkeiten nicht zu beseitigen.

Vielfach hat der britische Astrophysiker Stephen Hawking vor den bestehenden (kosmischen) Gefahren gewarnt: „Although the chance of a disaster to planet Earth in a given year may be quite low, it adds up over time, and becomes a near certainty in the next thousand or 10 thousand years“ (Hawking 2016). Gerade aber weil der Untergang möglich und nur eine Frage der Zeit sei, so Hawking, müsste heute schon massiv in entsprechende wissenschaftliche und technologische Expertise investiert, ja Vorkehrungen für die Evakuierung der Menschheit getroffen werden. „I don’t think we will survive another 1.000 years without escaping beyond our fragile planet“. „We must continue to go into space for the future of humanity“ (Hawking 2015).

Auch bei der NASA wird die Lage entsprechend eingeschätzt. Schon im September 2005 erklärte einer ihrer führenden Mitarbeiter, Michael D. Griffin, in der Washington Post, dass die Weltraumkolonisierung das endgültige Ziel aktueller Weltraumprogramme sei und sein müsse: „[T]he goal isn’t just scientific exploration […] it’s also about extending the range of human habitat out from Earth into the solar system as we go forward in time […]. In the long run a single-planet species will not survive. We have ample evidence of that […] [species have] been wiped out in mass extinctions on an average of every 30 million years (Griffin 2005).

Wollen wir sichergehen, dass die Menschheit überlebt, müssten wir schon heute mit den Vorbereitungen beginnen, so die Kernbotschaft der zitierten Wissenschaftler. Weil die Erde durch einen kosmischen Flugkörper (oder durch andere Ursachen) vollständig zerstört werden könne, müssten die Voraussetzungen für eine Abwehr der Gefahren bis hin zur Möglichkeit einer interstellaren Evakuierung geschaffen werden. Denn nur so könne verhindert werden, dass unsere Spezies untergeht. Angesichts dieser mahnenden Stimmen, die die Gefahr einer Vernichtung der Menschheit als eine „reale statistische Grösse“ betrachten, hat der Staatsrechtler Johannes Caspar von einer konkreten „Pflicht zur Förderung wissenschaftlicher Programme zur Sicherung essentieller Lebensinteressen künftiger Generationen“ gesprochen:

Nicht anders als bei der Anwendung von Risikotechnologien macht die Abwägung zwischen der statistischen Gefahr einer Kollision und den damit verbundenen globalen katastrophalen Folgen eine vorsorgende Entscheidung erforderlich, wobei der Grundsatz zu gelten hat: Je bedeutsamer das Schutzgut, umso geringer sind die Anforderungen an die Schadenswahrscheinlichkeit für ein präventives Handeln (Caspar 2001, 86).

Man muss nicht in jeder Hinsicht die apokalyptischen Visionen der genannten Wissenschaftler teilen. Aber dass Gefahren bestehen, der nur Wissenschaft und Technik werden begegnen können: Diese Auffassung kann nicht bestritten werden.

Die Gefahren sind also bekannt, die vom Menschen selbst, aber auch von der Natur für die Fortexistenz der Menschheit ausgehen. Warum geschieht gleichwohl so wenig, um diese Gefahren abzuwenden und unsere Zukunft als möglicherweise einzige intelligente Spezies im Kosmos zu sichern? Warum wird in den westlichen Demokratien so wenig in die (natur-)wissenschaftliche und medizinische Forschung, die technologische Entwicklung investiert, obwohl klar sein muss, dass nur vom Fortschritt in diesen Feldern jene Erkenntnisse und Mittel zu erwarten sind, die das Überleben sichern können?

II. Die Gegenwartsfixiertheit der Demokratie

Dass Gefahren bestehen, kann nicht drastisch genug beschrieben werden. Dass nur Großanstrengungen im Bereich von Forschung und Entwicklung helfen können, diese Gefahren zu bestehen, ebenfalls: etwa durch die Entwicklung CO2-neutraler Kraftstoffe, eine effektivere und innovative Lebensmittelproduktion, die kostengünstigere Entsalzung von Meerwasser, den Ausbau des Katastrophenschutzes, das Space Mining, den Biosphärenbau auf erdnahen Planeten etc. Neben privaten Investitionen sind es vor allem staatliche Mittel, die hier in sehr viel größerem Maße eingesetzt werden müssten (im Bereich der universitären wie außeruniversitären Forschung) als dies bislang geschieht. Warum passiert nicht mehr?

Wir haben es offenbar mit einem Extrembeispiel für den schon oft konstatierten „Democratic Presentism“, das heißt die Gegenwartsfixiertheit der Demokratie, zu tun (vgl. Smith 2021, Caney 2019, Rose 2018, Rose 2016, Kielmansegg 2003).

Demokratien agieren generell äußerst gegenwartsbezogen und sind zu einer sehr langfristig orientierten Politik kaum in der Lage. In einem utilitaristischen Kalkül, das Bürger in Demokratien gerne ihren Entscheidungen zugrunde legen (Downs 1957), ist gegenwärtiger Verzicht für zukünftige Ziele nur sehr begrenzt zu erwarten. Politiker und Wähler kalkulieren ihre Nutzenwerte meist vor dem Hintergrund einer Wahlperiode von durchschnittlich vier Jahren. Langfristige Interessen werden dabei kaum oder gar nicht berücksichtigt. Hier spielt Unsicherheit eine große Rolle: je weiter in die Zukunft gedacht (und gehandelt) wird, umso größer ist das Maß an Unsicherheit über die Resultate – und umso unwahrscheinlicher, dass entsprechende politische Maßnahmen Unterstützung finden.

Je grösser demnach die finanziellen Belastungen in der Gegenwart sind und je niedriger die Wahrscheinlichkeit, von einem Programm in der Zukunft selbst zu profitieren, umso geringer ist die Bereitschaft, der Finanzierung zuzustimmen. Schon heute werden Teleskope und Satellitenbeobachtungssysteme, die der Erforschung von Asteroiden oder der Suche nach Exoplaneten dienen sollen, nicht gebaut, weil die Kosten den politisch Verantwortlichen zu hoch erscheinen. Parlamentarier*innen nehmen an, dass ihre Wähler*innen nicht zu entsprechenden Kürzungen in anderen Bereichen (oder zu Steuererhöhungen) bereit sind. Raumfahrtforschung kostet generell sehr viel Geld, das dann für „irdische“ Zwecke nicht mehr zur Verfügung steht. Budgetkürzungen bei der NASA über die letzten Jahre und Jahrzehnte zeigen sehr deutlich, wie in Demokratien im Zweifelsfall entschieden wird.

Es sind vor allem die kurzen Wahlperioden von in der Regel 2-6 Jahren, die einen engen Zeittakt für Entscheidungen vorgeben. Regierung und Opposition werden dadurch förmlich gezwungen, nach kurzfristig erreichbaren Erfolgen zu streben, die im nächsten Wahlkampf vorgezeigt werden können – ob die Entscheidungen auf lange Sicht sachangemessen sind, ist dabei unerheblich. Das gilt sogar für den Katastrophenschutz, der auf Sparflamme gekocht wird: Eine amerikanische Studie zeigt, dass jeder Dollar, der in die Vorbeugung und Vorbereitung auf das Eintreten von Naturkatastrophen investiert würde, einen fünfzehnfach höheren Schaden lindern oder verhindern könnte. Gleichwohl wird daran gespart. Dagegen steigert eine staatliche Hilfe nach dem Eintreten einer Katastrophe die Wiederwahlchancen von Politikern, die sich als „Helfer“ in Szene setzen (Healy/Malhotra 2009).

Das Ziel von Politiker*innen in einer Demokratie ist in der Regel nicht die Zukunftssicherung der Gesellschaft, sondern der Erhalt der eigenen (Gestaltungs-)Macht. Probleme werden tendenziell danach ausgewählt, dass sie sich kurzfristig spektakulär lösen lassen. Der Zeithorizont der politischen Eliten ist aber nicht nur aufgrund der Wahltermine eng begrenzt; auch die Erwartung, nicht lange in Führungsämtern zu sein, bremst ihren langen Atem: So dauern Politikerkarrieren in Demokratien selten länger als 2-3 Perioden (Kielmansegg 2003, S. 585f.).

Wie oben schon festgestellt wurde, neigen auch Wähler dazu, die Zukunft zu diskontieren. Sie sind aufgrund eines eigenen Nutzenkalküls eher an heutigen Goodies als an soliden Lösungen für morgen interessiert. Dass die Belange zukünftiger Generationen dabei nicht oder kaum berücksichtigt werden, überrascht so nicht: Ihre Interessen haben in politischen Entscheidungen kein Gewicht, weil sie keine Stimme (und kein Stimmrecht) haben und keine Foren, in denen sie sich Gehör verschaffen könnten. Dass es sie aufgrund heutiger politischer Entscheidungen morgen vielleicht nicht einmal geben wird, erzeugt denn auch keinen Widerspruch. Selbst die Jüngsten der Gesellschaft können Entscheidungen zu ihren Lasten nicht verhindern, haben sie doch bis zum 18. Lebensjahr kein Wahlrecht. Gleichzeitig nimmt auf der anderen Seite das Stimmgewicht der Alten aufgrund des demographischen Wandels (steigende Lebenserwartung und sinkende Geburtenrate) immer weiter zu: So wird die Rentenpolitik ein zentrales Thema in der (deutschen) Demokratie. Zukunftsfragen spielen bei diesen Wählerkohorten aus nachvollziehbaren Gründen keine oder nur eine deutlich geringere Rolle als bei den Jungen.

Die konsumtiven Ausgaben des Staates also wachsen, Investitionen in die Zukunft gehen zurück oder bleiben auf einem konstant niedrigen Niveau. In parlamentarischen Beratungen und Beschlussfassungen spielen sozialpolitische Themen eine entscheidende Rolle (wie die schon genannte Altersversorgung, aber auch die Besoldung der Beamten und Abgeordneten selbst sowie die Wohlfahrt der jeweils eigenen Wählerklientel). Darüber hinaus setzen große organisationsfähige Verbände mit Interesse am Bestehenden vor Wahlen regelmäßig ihre Themen auf die Agenda – und verhindern damit Änderungen und Akzentverschiebungen zugunsten der Zukunft. All das führt zu einer gegenwartsbezogenen Politik, die die Zukunft nicht nur ignoriert, sondern durch schuldenfinanzierte konsumtive Ausgabenprogramme zusätzlich belastet.

Eine „Selbstheilung“ der konstatierten Mängel der bestehenden repräsentativen Demokratie ist, so zeigt die wissenschaftliche Diskussion, offenbar nicht zu erwarten. Selbst Parteien, die programmatisch die Zukunft zu berücksichtigen vorgeben (wie Bündnis 90/Die GRÜNEN) sehen ja monokular: Sie nehmen nur die Gefahren wahr, die vom Menschen für die Natur ausgehen, aber nicht umgekehrt die Gefahren, die die Natur für das Überleben der Menschheit bereithält. Maßnahmen zur Vorbeugung und Abwendung dieser Gefahren in die Programmatik einzubeziehen würde großen Mut erfordern, weil sie ein sehr viel größeres Maß an Investitionen in Wissenschaft und Technik erfordern würden als gegenwärtig vorstellbar ist. Dieser Mut fehlt Parteien regelmäßig in repräsentativen Demokratien. Das Problem ist klar: Die (sehr erheblichen) Kosten entstünden jetzt (und zwängen die Heutigen zum Verzicht), der Ertrag (hier: vielleicht nichts weniger als das Überleben der Gattung, in jedem Fall das Vermeiden von Verlusten in unschätzbarer Höhe) fällt erst (sehr viel) später an, vorrangig bei Personen, die gegenwärtig vielleicht noch nicht einmal geboren sind (oder in anderen Teilen der Welt leben). Der traditionelle politische Prozess erscheint unfähig, diesem Dilemma gerecht zu werden.

Eine Lösung, wenn es sie denn gibt, kann politisch nur in einer Verfassungsreform liegen, die einen „constitutional moment“ (Bruce Ackerman) nutzt, um Veränderungen für die Zukunft herbeizuführen.

III. Reformen

Obwohl es der Demokratie schwerfällt, die Gesellschaft zukunftsfest zu machen, wäre der durchgreifende „regime change“ ein Irrweg. Aus normativen wie aus praktisch-politischen Gründen ist die Autokratie (nach dem oft genannten Beispiel Chinas), eine platonische Elitenherrschaft der „Wissenden“ (Brennan 2017) oder eine „Ökodiktatur“ (Bahro 1987) abzulehnen. Nicht nur verletzen alle genannten Alternativen die Grundrechte und Menschenwürde der Bürger (das Überleben einer Spezies von mehrheitlich würdelosen Menschen wäre kein Überleben im wertvollen Sinne). Auch sind Korruption und Klientelismus endemisch in Autokratien; sie interessieren sich mehr für den Erhalt ihrer selbst als für das Gemeinwohl (Kielmansegg 2003, S. 593). Freiheitliche und marktwirtschaftlich verfasste Demokratien sind im Vergleich zu Autokratien – trotz aller aufgezeigten Defizite – noch immer deutlich zukunftsfester: Sie investieren mehr in Forschung und Entwicklung (Schmidt 2005, 75f.; Schmidt 2020, 28); und nur sie sind in der Lage, das große Kreativitäts- und Innovationspotenzial in der Gesellschaft zu bergen, das für die Zukunftssicherung erforderlich ist, und kostengünstige (das heißt ressourcenschonende) Lösungen für individuelle wie gesellschaftliche Probleme zu finden. Nur in Marktwirtschaften funktioniert der Marktpreis als Knappheitsindikator. Und nur hier ist der Aufbau eines ausreichend großen Kapitalstocks möglich, der es erlaubt, neben staatlichen auch im großen Umfang private Investitionen in die Zukunft zu generieren, etwa in Form einer leistungsstarken Weltraumtechnologie.

Wenn also gefragt wird, was getan werden kann, um die Gesellschaft zukunftsfähiger zu machen, so wäre eine erste Antwort: Den Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft so zu gestalten, dass die genannten Vorzüge stärker zum Tragen kommen. Und darüber hinaus? Politisch? Was ändern am Rahmenwerk der marktwirtschaftlich-liberalen und rechtsstaatlich-verfassten repräsentativen Demokratie?

Vieles ist schon vorgeschlagen worden, wie die Zukunft besser in politischen Entscheidungen Berücksichtigung finden könnte (eine Ombudsperson oder ein „Commissioner“ für zukünftige Generationen, ein „proxy-vote“ für die Noch-Nicht-Geborenen, ein „ökologischer Rat“ als „dritte Kammer“, eine „Vierte Gewalt“ und vieles mehr; vgl. Smith 2021, MacKenzie 2021, Rose 2018, Rose 2016, Karnein 2016, Tremmel 2014, Stein 1998). Nichts davon ist wirklich überzeugend und manche Implementationsversuche (wie die Einsetzung eines „Commissioner“ oder einer Ombudsperson) wurden auch schon wieder aufgegeben oder eingeschränkt (so in Israel und Ungarn). Zwei Vorschläge erscheinen mir alternativ sinnvoller zu sein, weil sie umsetzbarer und in ihrer Wirkung effektiver sein werden: (a) Ein „Zukunftsrat“ und (b) eine Verankerung fester Wachstumsraten für die finanzielle Förderung von Wissenschaft, Forschung und Technologie im Grundgesetz (sowie den Verfassungen der Bundesländer).

(a) Der Vorteil eines „Zukunftsrates“[1] wäre, dass ein solches Gremium die Struktur des Verfassungsstaates nicht tiefgreifend verändern würde. Es wäre vor allem ein Beratungsorgan, das Fragen der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft öffentlich debattieren würde und das in die parlamentarischen Beratungen von entsprechenden Gesetzesvorlagen einbezogen werden müsste. Neben Empfehlungen, Vorlagen und initiierten Anhörungen sollte der Rat ein suspensives Vetorecht haben (das anschließend nur mit einer qualifizierten parlamentarischen Mehrheit außer Kraft gesetzt werden könnte), damit er kein „zahnloser Tiger“ wird. Direkt in den Gesetzgebungsprozess einbezogen werden sollte er freilich nicht, weil dies Legitimationsfragen bei der Gestaltung der entsprechenden Politikfelder aufwerfen würde. Entsprechend sollte der „Zukunftsrat“ kein Gesetzesinitiativrecht haben und keine echte „dritte Kammer“ sein. Der „Zukunftsrat“ sollte zur Hälfte aus gelosten Laien bestehen (unter Berücksichtigung aller Bürger*innen ab einem Alter von 16 Jahren) und zur anderen Hälfte aus – vom Bundespräsidenten zu ernennenden – Wissenschaftler*innen (von Universitäten, Forschungseinrichtungen und Akademien). Das Mandat der Wissenschaftler*innen sollte zwei Legislaturperioden umfassen (ohne Möglichkeit der Wiederernennung), die gelosten Laien sollten nur zwei Jahre Mitglieder des Gremiums sein. Die Sitzungen wären öffentlich. Hierdurch würde man die Bildung der Wähler*innen im Sinne einer langfristig orientierten Zukunftsverantwortung fördern und sie ermutigen, über den Tellerrand der eigenen Interessen und zeitlichen Perspektiven hinaus zu denken. Die öffentlichen Debatten des Gremiums würden in den Medien Resonanz finden und für Zukunftsfragen sensibilisieren. Die Universitäten könnten als Diskurs-Beschleuniger fungieren, indem sie sich an den Debatten beteiligen, neue Perspektiven einbringen und eigene Vorschläge machen. Im föderalen deutschen System wäre entsprechend ergänzend an Zukunftsräte auf Länderebene zu denken. Die Räte würden die wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen begleiten und neben der Mehrung der öffentlichen Kenntnisse und Kompetenzen die Aufgabe wahrnehmen, kritische Diskussionen in der Öffentlichkeit anzuregen und die Akzeptanz für den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt zu erhöhen, der für Zukunftssicherung, Risikovorsorge und Gefahrenabwehr essentiell ist.

(b) Eine andere Möglichkeit, die Gesellschaft zukunftsfest zu machen – alternativ oder in Verbindung mit (a) –, wäre die Verankerung fester Wachstumsraten für die öffentliche Finanzierung von Wissenschaft und Technik im Grundgesetz (bzw. den Verfassungen der Länder). Da nur von ihnen jene Erkenntnisse und Mittel zu erwarten sind, die den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden können, muss ihre öffentliche Finanzierung deutlich erhöht werden. Aufgrund des demokratischen „Presentism“ sind die jährlichen Budgetverhandlungen von Finanzminister, Regierung und Parlament (auf Bundes- wie Länderebene) jedoch ungeeignet, die notwendige umfassende und stetige finanzielle Ausstattung herbeizuführen. Eine entsprechende verfassungsrechtliche Regelung, die dem einfachen Gesetzgeber entzogen wäre, könnte hier Abhilfe schaffen. Zur Legitimation reichte es aus, den Bürger*innen die gegenwärtig bestehenden Existenzrisiken schonungslos vor Augen zu führen: die Klimakrise, die Umweltzerstörung, die bevorstehende Erschöpfung wichtiger Ressourcen, das Ausbrechen neuer Pandemien, das Eintreten von Naturkatastrophen, der mögliche Impakt erdnaher kosmischer Flugkörper etc. Denn nur eine Gesellschaft, die die Herausforderungen kennt und die uns bedrohenden Risiken realistisch einzuschätzen weiß, kann auch das Erfordernis massiver Budgeterhöhungen für unsere wissenschaftlichen Einrichtungen verstehen und ihnen zustimmen. Die Zielgröße der Ausgaben für Forschung und Entwicklung sollte zunächst 6 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sein und damit deutlich über dem von der Europäischen Union (EU, „Strategie Europa 2020“) festgelegten Anteil von mindestens 3 % am jeweiligen BIP eines Mitgliedsstaates liegen. In Deutschland wird diese (angesichts der zahlreich vor uns liegenden Herausforderungen und Existenzrisiken allerdings viel zu niedrige!) Marke der EU schon seit 2019 erreicht (vgl. GWK 2021, 19)[2]. Eine weitere Erhöhung wäre perspektivisch ins Auge zu fassen. Das Ziel muss die zukunftsfeste Gestaltung unserer Lebensverhältnisse sein. Wissenschaft, Forschung und Technologie ebnen den Weg dorthin.

Literaturverzeichnis

Bahro, Rudolf: Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik. Stuttgart/Wien 1987.

Brennan, Jason: Gegen Demokratie. Berlin 2017.

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Hawking, Stephen: Yahoo News: Stephen Hawking Warns of Planetary Doom (Again), 19.1.2016, http://news.yahoo.com/stephen-hawking-warns-planetary-doom-again-195036593.html (abgerufen am 4.4.2023).

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Manfred Brocker, Univ.-Prof. Dr. phil., Dr. rer. pol., ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft (M.A.) sowie der Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft (Dipl. Volksw.) in Aachen, Oxford und Köln.

Homepage: https://www.ku.de/ggf/politikwissenschaft/politische-theorie-und-philosophie/mitarbeitende


[1] Der Vorschlag ist nicht neu, schon andere Autor*innen haben einen „Zukunftsrat“ vorgeschlagen; vgl. etwa Leggewie/Nanz 2013, Tremmel 2018 und Caney 2019. Ihre Vorschläge fokussieren aber meist ausschließlich auf Fragen der „Generationengerechtigkeit“ und der politischen Partizipation – unter Hintanstellung anderer wichtiger Dimensionen des Themas (Zukunftsverantwortung und Zukunftsfähigkeit).

[2] Am 8. Dezember 2022 haben Bundeskanzler Scholz und die Ministerpräsident*innen der Länder erklärt, dass sie sich gemeinsam mit der Wirtschaft für das Erreichen eines 3,5 %-Ziels für Forschung und Entwicklung bis 2025 einsetzen werden; https://www.gwk-bonn.de/themen/weitere-arbeitsgebiete/das-3-ziel-fuer-forschung-und-entwicklung (abgerufen am 19.4.2023).