Genormte Ursachen. Die Experimentelle Philosophie der kausalen Kognition
von Lara Kirfel (London)
Man kennt das vielleicht: Da probiert man zum ersten mal die neue Radstrecke zur Uni aus, und mitten auf der neuen Route hat das Fahrrad einen Platten. Nimmt mal eine andere Backform als sonst, und schon brennt der Auflauf an. Oder auch: Fährt bei Rot über die Ampel, und dann macht nach ein paar Metern die Autobatterie schlapp.
Wenn uns negative Ereignisse im Alltag widerfahren, schaltet sich in unseren Köpfen oft automatisch ein Wenn-Dann Denken ein: “Hätte ich mal lieber X nicht getan, dann wäre Y sicher nicht passiert”. Dabei glauben wir oft intuitiv zu wissen, wie die Dinge hätten anders laufen sollen: Hätte ich nicht die neue Radstrecke auspropiert. Die eine Backform benutzt. Wäre ich besser bei Grün gefahren. Dann wären all diese Dinge vielleicht nicht passiert. Dabei war der Reifen bereits hinüber, die Backzeit zu lange kalkuliert, die Batterie kurz vor ihrem Ende. Und dennoch, so scheint es, konzentrieren wir uns in solchen Fällen gesondert auf die Abnormitäten der Situation. Wären wir in diesen Situationen nicht von den Normen des Alltags abgewichen – vielleicht wäre alles ganz anders gekommen.
Wenn das Wörtchen “wenn” nicht wär…
Kontrafaktische Konditionale (“counterfactuals”), d.h. Aussagen der Form “Wenn X gewesen wäre, dann wäre auch Y eingetroffen ”, werden in der Philosophie zur Definition von Kausalität (Lewis, 1973) und in der Psychologie zur Erklärung von kausalem Denken (“causal reasoning”) verwendet (Halpern & Pearl, 2005; Gerstenberg et al., 2014). Ein noch junger Forschungsbereich der experimentell arbeitenden Philosophie (XPhi) zeigt, dass menschliche Kausalurteile von Faktoren beeinflusst werden, die über die eigentliche Kausalbeziehung hinausgehen. Studien zeigen, dass Normen und Normalität beeinflussen, wie stark wir eine kausale Verbindung zwischen Ursache und Wirkung wahrnehmen. Hat sich die potentielle Ursache X untypisch verhalten? Hat sie etwas Unübliches, etwas Unnormales getan? Hat X eine Regel, oder sogar eine moralische Norm verletzt? In diesem Fall, so die Forschung, gehen wir von einer stärkeren kausalen Wirkung der Ursache X auf Effekt Y aus, als wenn sich X ‘normal’ verhalten hätte. Die neue Auflaufform, das Fahren über Rot – all das, so nehmen wir an, hat mehr zu unserem Missgeschick beigetragen, als wenn wir bei gleichem Ausgang gewohnten Normen gefolgt wären. Und dass unabhängig davon, ob die Normverletzung tatsächlich einen kausalen Unterschied gemacht hat.
Zwei Stifte und ein Hallelujah
Den Anstoß für diesen Forschungszweig gab 2008 ein Paper von Joshua Knobe und Ben Fraser, dessen “pen vignette” zu den Klassikern der XPhi-Forschung zählt. Vignetten, d.h. kurze Textszenarien, sind ein beliebtes Mittel der experimentellen Philosophie, um den Gebrauch und das Verständnis von philosophischen Begriffen zu untersuchen. Der Inhalt der Vignette ist schnell erzählt: Im Sekretariat eines Philosophie-Department liegen Kugelschreiber aus. Dort ist jedoch offiziell festgelegt, dass sich nur die Verwaltungsangestellten, nicht jedoch die Lehrkräfte an den Stiften bedienen dürfen. Eines Tages betreten Professor Smith und Verwaltungsangestellter Jones das Sekretariat, beide nehmen sich einen Stift. Wenig später muss der Sekretär Notizen während eines wichtigen Anrufs machen – doch die Stiftebox ist leer. Die Teilnehmer der Studie bekamen den kurzen Text zu lesen, und erhielten eine 7-stufige Ratingskala zum Bewerten der Situation. Wie sehr hat der Assistent das Ereignis verursacht, wie sehr der Professor?[1] So gefragt, schrieben die Probanden dem Professor ein höheres Ausmaß der Verursachung zu als dem Assistenten. Die Autoren der Studie sahen dies als Beleg für den Einfluss von Normen auf unsere Kausalurteile. Obwohl Professor als auch Assistent exakt die gleiche Handlung ausführen, wird der Professor als ursächlicher gesehen – die Person, die die durch ihre Handlung eine Regel verletzt hat. Der Effekt wurde in weiteren Studien repliziert, und ähnliche Befunde für statistische Abnormalität nachgewiesen. Handlungen, die statistische Normen verletzen, z.B. selten oder atypisch sind, werden ebenfalls als vermehrt kausal beurteilt (Bear & Knobe, 2017).
Genormte Ursachen
Normen, so die Schlussfolgerung dieses Forschungsbereichs, bilden ein konstitutives Element unserer Kausalurteile über die Welt. Wie genau Normen dabei auf Kausalurteile wirken, wird jedoch unterschiedlich interpretiert. Einige argumentieren, dass Normen auf den Prozess des kontrafaktischen Nachdenkens einwirken (Hitchcock & Knobe, 2009). Normen halten uns jene Alternativsituationen vor Augen, in denen sich der normverletzende Kausalfaktor normgerecht verhält, und das negative Handlungsergebnis darauhfin ausgeblieben wäre. Eine andere Interpretation lautet, dass Normen als eine Art retrospektiver bias wirken (Alicke, 2000). Sobald ein erstes objektives Kausalurteil über die Situation gefällt wird, führen unsere moralischen Urteile dazu, dass wir unsere kausalen Zuschreibungen im Nachhinein verzerren. Andere gehen noch weiter, und behaupten, dass Normen bereits in unserem Kausalkonzept verankert sind (Halpern & Hitchcock, 2015) – unser Verständnis von Kausalität ist niemals neutral, sondern immer schon von Normen mitgeprägt, und unser Kausalitätsbegriff daher prinzipiell nicht von moralischen Begriffen zu unterscheiden (Sytsma et al., 2018).
Egal welcher Art der Interpretion man sich anschließt – sie alle haben interessante Implikationen für philosophische Theorien und Kausalitätsmodelle. Als experimentelle oder empirisch-informierte Philosophen müssen wir uns jedoch nicht nur fragen, wie wir solche Befunde theoretisch auswerten. Wir müssen uns gleichermaßem kritisch mit den Methoden dieser Experimenten auseinandersetzen. Was zeigen die Experimente? Und vor allem: Wie zeigen sie es?
Pragmatics, Pragmatics everywhere
Eine Forschergruppe aus Göttingen kommt zu einer unterschiedlichen Interpretation der Ergebnisse um den Einfluss von Normen auf Kausalurteile. Der Begriff “verursachen” – “to cause” – so argumentieren sie, ist mehrdeutig. Er kann einerseits auf einen kausalen Mechanismus verweisen, andererseits Zuschreibungen von Schuld, Verantwortlichkeit oder Rechenschaft ausdrücken (Samland & Waldmann, 2016). Fragen der Art “Wie sehr hat X das Ereignis verursacht?” lassen prinzipell beide Interpretationen zu.
- „Wie sehr hat X das Ereignis in einem physikalisch-kausalen Sinn hervorgebracht?“ oder
- „Wie sehr ist X moralisch für das Ereignis verantwortlich?“.
Im Kontext von Norm- und Regelverletzungen, so die Autoren, triggern solche Fragen vor allem die zweite Lesart: Anstatt eine Frage über die kausale Verbindung zu beantworten, nehmen die Studienteilnehmer die experimentelle Testfrage als eine Frage nach Schuld und Verantwortung wahr. Wenig überraschend also, dass hier norm-verletzende Akteure ein höheres Rating bekommen. Normen, so die Schlussfolgerung, beeinflussen keine Kausalurteile. Sie verschieben lediglich die pragmatische Interpretation davon, was der Begriff “verursachen” bedeutet.
Mind your Methods
Der Einfluss von Normen auf Kausalurteile – genuiner Befund, oder pragmatischer Artefakt? Die Antwort auf diese Frage lässt sich nicht argumentativ bestimmen, sie muss selbst experimentell getestet werden. Die Debatte um den Einfluss von Normen zeigt jedoch: Mind your methods! Experimente, die mit kurzen Textszenarien und -fragen arbeiten, werden von Probanden oft mit allerlei Zusatzannahmen belegt. Dies kann sich auf die experimentelle Validität auswirken, also darauf, wie gut das Experiment das zu untersuchende Konzept misst. Vignetten-Studien sind ein beliebtes Format in der Experimentellen Philosophie. Sie sind einfach zu erstellen, können verschiedene Themenbereiche abdecken und abstrakte philosophische Begriffe abfragen. Zudem stehen sie in der Tradition der philosophischen Gedankenexperimente. In einem früheren Blog-Artikel hat Thomas Pölzler bereits darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, Kontrollmechanismen für die Güte der Daten von Vignette-Studien zu verwenden, vor allem, wenn diese Daten online erhoben werden. Durch Aufmerkamkeits- oder Verständnischecks kann fehlerhaften Daten vorgebeugt, oder diese zumindest von der Analyse ausgeschlossen werden. Eine so komplexe Kognition wie das kausale Denken, so legt es die hier skizzierte Debatte nahe, kann jedoch überhaupt nur in begrenztem Umfang mit deskriptiven Szenarien und Rating-Fragen erhoben werden. Die Art und Weise, wie jemand auf eine verbale Kausalitätsfrage antworten, muss nicht zwingend damit übereinstimmen, wie er oder sie wirklich über die Kausalsituation denkt. Die eigentliche Methodenreflexion muss daher noch einen Schritt früher erfolgen. Was will will ich untersuchen? Was für ein Experiment passt zu meiner Frage? Welche Untersuchungsmethoden erfordert mein Interessensgegenstand? Als empirisch arbeitende Philosophen sind wir gefordert, ein vielseitiges und adäquates Methodenspektrum zu verwenden. Dabei muss niemand das Rad neu erfinden. Die experimentelle Psychologie zum Beispiel verwendet Lern- und Interventionsparadigmen, um das Kausalverständnis von Menschen zu erforschen. Können diese Methoden auch für unsere Frage nach dem Einfluss von Normen auf kausale Kognition genutzt werden? Und können wir erprobte empirische Methoden auch für andere philosophische Fragestellungen fruchtbar machen?
“Wer hat das verursacht?” – Forschung der experimentellen Philosophie hat gezeigt, dass Normen beeinflussen, wie wir solche Kausalfragen antworten. Doch ob damit kausale Urteile abgefragt werden, oder lediglich pragmatische Lesarten des Ursachenbegriffs gesteuert werden, ist eine offene Frage – und doch fundamental für die Schlussfolgerung, die wir aus diesen Befunden ziehen. Philosophen hatten schon immer den Anspruch, der Wahrheit besonders nahe zu kommen. Wenn wir empirische Studien rezipieren, oder diese sogar selber durchführen, sollten wir diesen Anspruch beibehalten.
Autorinfo:
Lara Kirfel ist PhD-Studentin der Kognitionswissenschaften am University College London
[1] Originaltext: Zustimmungsrating zur Aussage “Professor Smith/the adminisitrative assistant caused the problem.” -3 (‘not at all’) +3 (‘fully’); 0 (‘somewhat’).