„Was mache ich hier überhaupt?“ Experimentelle Philosophie zwischen Lehnstuhl und Labor
Von Alexander Max Bauer (Oldenburg)
„Was mache ich hier überhaupt?“ ist eine Frage, die ich mir in den letzten Jahren häufiger gestellt habe. Im Grundstudium hatte ich neben Philosophie auch Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftsdidaktik studiert. Im Master – hatte ich beschlossen – sollte es nur noch Philosophie sein. Es war dann mehr ein Zufall, dass es mich als Hilfskraft in eine Forschergruppe gezogen hat, in der sich neben Philosoph*innen auch Psycholog*innen, Soziolog*innen, Politikwissenschaftler*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen mit Fragen der Bedarfsgerechtigkeit auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung findet natürlich auf theoretischer Ebene statt, ebenso aber auch auf experimenteller, und ihr erklärtes Ziel ist eine Synthese aus beidem. So kam es, dass ich – irgendwann nicht mehr als Hilfskraft, sondern als Doktorand – wieder an die Methoden, die ich mit dem Grundstudium hinter mir zu lassen geglaubt hatte, anknüpfte. Ehe ich mich versah, fand ich mich selbst als Experimentator in sozialwissenschaftlichen Laboren wieder. Zu Anfang hatte ich nicht so recht einen Namen für das, was ich hier tat. Ich konnte es nicht in die philosophischen Schubladen einordnen, die ich bis dahin kannte. Erst später erfuhr ich, dass es dafür auch eine Bezeichnung gibt. Man nennt es „Experimentelle Philosophie“.
Experimentelle Philosophen nutzen empirische Forschungsmethoden, um neues Licht auf die Fragen zu werfen, mit denen sie sich befassen. Dabei begnügen sie sich nicht damit, auf die Forschungsergebnisse der Einzelwissenschaften zurückzugreifen, sondern sie werden selbst empirisch Forschende. Die Möglichkeiten solcher Forschung zu philosophischen Fragen sind ungezählt. Ein häufiger – aber nicht der einzige – Ansatz ist dabei die Abfrage von Intuitionen zu gewissen hypothetischen Szenarien, die Laien präsentiert werden. Joshua Knobe (2003) zum Beispiel legte seinen Probanden in einem mittlerweile als klassisch geltenden Experiment unter anderem diese Vignette vor:
„Der Vizepräsident eines Unternehmens geht zum Vorstandsvorsitzenden und sagt zu ihm: ‚Wir denken darüber nach, ein neues Programm zu starten. Es wird uns helfen, die Gewinne zu steigern, aber es wird auch der Umwelt schaden.‘ Der Vorstandsvorsitzende antwortet darauf: ‚Es ist mir völlig egal, ob wir der Umwelt schaden. Ich will nur so viel Gewinn wie möglich machen. Lassen Sie uns dieses neue Programm starten.‘ Das neue Programm läuft an. Und tatsächlich wird der Umwelt dadurch geschadet.“ (ebd., S. 191, eigene Übersetzung)
Anschließend bat Knobe seine Teilnehmer*innen, anzugeben, wie sehr sie der Aussage zustimmen würden, dass der Vorstandsvorsitzende der Umwelt vorsätzlich geschadet hat. In einer Variation, die anderen Teilnehmer*innen vorgelegt wurde, hat das neue Programm der Umwelt nicht geschadet, sondern ihr geholfen. Wieder war das dem Vorstandsvorsitzenden gleich: „Es ist mir völlig egal, ob wir der Umwelt helfen. Ich will nur so viel Gewinn wie möglich machen.“ Hier wurden die Teilnehmer*innen gebeten, anzugeben, wie sehr sie der Aussage zustimmen würden, dass der Vorstandsvorsitzende der Umwelt vorsätzlich geholfen hat. Interessanterweise ist die Mehrheit im ersten Fall überzeugt, dass der Schaden vorsätzlich verursacht wurde, bei der Hilfe im zweiten – eigentlich strukturgleichen – Fall sieht das aber ganz anders aus. Und ehe wir uns versehen, befinden wir uns hier inmitten philosophischer Fragen zu Moral und Intentionalität.
„Gibt es überhaupt aktuelle Fragen der Philosophie?“ hat Anja Leser vor einigen Jahren an anderer Stelle gefragt. Ist es nicht vielmehr so, dass sich Philosoph*innen Jahrhundert für Jahrhundert wieder und wieder um die gleichen Fragen drehen, ohne dabei – wie böse Zungen behaupten – eigentlich vom Fleck zu kommen? Die Frage nach den Inhalten der Philosophie ist dabei die eine, die nach ihren Methoden aber eine andere. Und bei dieser zweiten Frage scheint deutlich zu werden: Ja, es gibt sie, die „aktuellen“ Methoden der Philosophie. Modallogik lässt die Syllogistik verstaubt aussehen, Sokrates stünde verwundert vor Rudolf Carnap, wenn dieser ihm von der Begriffsexplikation berichten würde, und auf einmal sind da Dinge wie „Conceptual Engineering“ oder eben „Experimentelle Philosophie“. Verwundert schauen einige Philosoph*innen hier drein: „Ist das noch Philosophie?“ (Sorell 2018, siehe auch Systma und Livengood 2019)
Diese Frage verwundert ein bisschen. Man könnte doch vermuten, dass empirische Untersuchungen in der Philosophie schon früher en vogue waren (und das nicht nur als ein ihr externer epistemologischer Bezugspunkt), dass sie aber mit der Herausbildung je eigener Einzelwissenschaften – so zumindest ein gängiges Narrativ – sozusagen schon unmittelbar nach ihrem Aufkommen wieder abgewandert sind. Dadurch, dass die Philosophie als von diesen Einzelwissenschaften getrennt wahrgenommen wurde (und wird), – so könnte man weiter denken – musste ihr Gegenstandsbereich wie ihr Repertoire an Methoden immer schmaler werden, bis ihr schließlich nur noch übrig blieb, grübelnd im Lehnstuhl zu sitzen.
Dabei scheint das Primat des Seins vor dem Seienden (und damit vielleicht auch das des Apriori vor dem Aposteriori und das des Lehnstuhls vor dem Labor) natürlich nicht erst mit der Entstehung moderner Wissenschaften, sondern eigentlich schon mit Platon (1958, S. 201) angelegt, wenn es bei ihm zum Beispiel heißt: „Dieses, denke ich, soll uns feststehen von den philosophischen Naturen, daß sie Kenntnisse immer lieben, welche ihnen etwas offenbaren von jenem Sein, welches immer ist und nicht durch Entstehen und Vergehen unstet gemacht wird.“ Oder bei Aristoteles (2000, S. 82), der schreibt: „Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende, insofern es seiend ist, betrachtet und das, was ihm an sich zukommt. Diese ist aber mit keiner der sogenannten Einzelwissenschaften identisch; denn keine der anderen Wissenschaften betrachtet allgemein das Seiende, insofern es seiend ist, sondern, indem sie sich einen Teil vom Seienden herausschneiden, betrachten sie diesen hinsichtlich seines Akzidenz, wie das etwa die mathematischen Wissenschaften tun.“
Trotz solcher frühen Engführungen finden sich durch die Geschichte hindurch auch sehr breit angelegte Konzeptionen von Philosophie, etwa bei Descartes (1992, S. XLII), der die gesamt Philosophie mit einem Baum vergleicht, „dessen Wurzeln die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften“ seien. Hier mag einem ebenso Diderot (1961, S. 394) in den Sinn kommen, wenn er in einem Artikel für die Encyclopédie resümiert: „Der Name Philosophie blieb immer unbestimmt und umfasst in seinem weitesten Bereich nicht nur die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, sondern auch die Kenntnis der Gesetze, der Medizin und sogar der verschiedenen Zweige der Gelehrsamkeit, wie Grammatik, Rhetorik und Kritik, ohne davon die Geschichte und die Dichtung auszunehmen.“ Und selbst für Kant (1838, S. 349) war doch die Wissenschaft zumindest ein „Organ der Weisheit“, also der Philosophie. Dieses Organ ist der Weisheit sogar „unentbehrlich, so daß man wohl sagen darf: Weisheit ohne Wissenschaft sei ein Schattenriß von einer Vollkommenheit, zu der wir nie gelangen werden.“
Und tatsächlich: Bevor die modernen Naturwissenschaften Physik oder Chemie gerufen wurden, waren sie doch Naturphilosophie. Was uns heute zum Beispiel als Experimentalphysik entgegentritt, firmierte konsequenterweise unter experimenteller Naturphilosophie. Die aufkommenden wissenschaftlichen Instrumente des 17. Jahrhunderts, am Rande bemerkt, wurden noch „philosophische Instrumente“ genannt (Zuidervaart 2013, S. 4). Experimentelle Philosophie in diesem historischen Sinne markiert hier die „Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung“ (Böhme, van den Daele und Krohn 1977).
Vor diesem Hintergrund erscheint das Widerstreben, das einige gegenwärtige Philosoph*innen empfinden, wenn es um moderne Experimentelle Philosophie und ihre Anlehnung an Methoden aus den Einzelwissenschaften geht, ein wenig wundersam. Dabei ist doch nicht zu befürchten, dass sie den übrigen Philosoph*innen die Butter vom Brot nehmen könnte (oder das auch nur wollte). Es gibt schlicht und ergreifend Fragen, die dem Instrumentarium der empirischen Forschung nicht zugänglich sind. Darüber hinaus braucht jede empirische Methode selbst eine Begründung, jedes Ergebnis eine Interpretation, jedes Konzept Kritik. Das Denken hat mit einem Experiment nicht ausgedient, ganz im Gegenteil, es wird noch umfänglicher nötig.
Neben diesen notwendigen theoretischen Fragen gibt es aber auch solche (und ich würde behaupten auch diese können solche der Philosophie sein), die sich empirisch ergründen lassen. Und es gibt Argumente sowie Theorien (ganz zweifellos genuin philosophische), die (auch) auf Prämissen bauen, die sich empirisch prüfen lassen. So hat Franz von Kutschera (1988, S. 670) sehr treffend geäußert: „Läßt sich etwa das Menschenbild nicht aufrecht erhalten, das unsere ethischen Maximen voraussetzen, so sind auch diese zu revidieren.“ (Für ethische Fragen, übrigens, hat Pascale Willemsen in diesem Blog bereits sehr schön die Relevanz von Experimenteller Philosophie dargelegt.)
Überdies lässt sich vermuten, dass solche Argumente und Theorien ganz generell nicht voraussetzungsfrei entstehen, sondern bedingt sind durch die Funktionsweise unseres Verstandes ebenso wie durch die jeweils individuelle psychische Konstituierung ihrer Denker. Damit gälte es einerseits, „die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen Namen“ (Nietzsche 2017, S. 259) zu erforschen, andererseits aber auch – und das ist eine der Ambitionen Experimenteller Philosophie – die Muster, die sich durch unsere Intuitionen offenbaren, zu ergründen, um dadurch besser verstehen zu können, wie unser Verstand funktioniert und was die Bedingungen unserer Theoriebildung sind (Knobe und Nichols 2008, S. 12). Nadelhoffer und Nahmias (2007) nennen das Experimentellen Deskriptivismus.
Generell gehen in eine solche Theoriebildung häufig bloß die Intuitionen der Theoretiker*innen ein, vielleicht noch die der jeweiligen Korrespondenzpartner*innen. Mit den Ergebnissen der Experimentellen Philosophie aber kann „durch empirische Daten quasi die Grundgesamtheit der Introspektionen erweitert werden, über die reflektiert wird. Da solche Intuitionen nach wie vor als bedeutende Begründungsinstanzen herangezogen werden, erscheint eine solche Reflexion besonders wichtig“ (Bauer und Meyerhuber 2019, S. 21). Hier kann Experimentelle Philosophie – diesmal als Experimentelle Analyse – aktiv am Philosophischen Projekt mitwirken. Demgegenüber kann sie aber auch – im Rahmen eines Experimentellen Restriktionismus – als grundlegender Kritiker an diesem Projekt auftreten, indem sie ihre Erkenntnisse über Intuitionen nutzt, um deren Rolle im philosophischen Erkenntnisprozess zu problematisieren.
Mit all dem schickt sich die Experimentelle Philosophie nicht an, die Reflexion im Lehnstuhl abzulösen (wie könnte sie auch, sie bedarf derer ja selbst). Sie öffnet vielmehr für uns Philosoph*innen bloß einmal wieder das Fenster neben dem Lehnstuhl, und versucht, die schwere, staubige Gardine zur Seite zu ziehen, mit der es verhangen war, um den Blick zu öffnen auf eine Welt, vor der und mit der reflektiert werden kann. (Und um ein wenig frische Luft hereinzulassen.)
Karl Popper (1966, S. XVI) hat einmal geäußert, es gäbe „keine Methode, die für die Philosophie charakteristisch oder wesentlich“ sei. Man könnte aber vermuten, dass sich zumindest die epistemischen Prämissen einer jeweiligen Epoche der Philosophie ablesen lassen an den Methoden, mit denen ihre Vertreter arbeiten. Das ist es, was die Experimentelle Philosophie für mich – neben ihren Inhalten – so spannend macht: Sie markiert einen aktuellen Diskurs der Philosophie über sich selbst. Hier geht es um nichts weniger als um unsere Selbstvergewisserung als Philosoph*innen, um die Frage, die sich vielleicht jeder von uns von Zeit zu Zeit einmal stellen sollte: „Was mache ich hier überhaupt?“
Dank
Für hilfreiche Kommentare zu diesem Beitrag danke ich Stephan Kornmesser, Sandro Räss und Mark Siebel.
Literatur
Aristoteles (2000): Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Hrsg. von Franz Schwarz. Stuttgart: Reclam.
Bauer, Alexander Max und Malte Ingo Meyerhuber (2019): „Zwei Welten am Rande der Kollision. Zum Verhältnis von empirischer Forschung und normativer Theorie, insbesondere vor dem Hintergrund der Ethik“. In: dies. (Hrsg.): Philosophie zwischen Sein und Sollen. Normative Theorie und empirische Forschung im Spannungsfeld. Berlin und Boston: Walter de Gruyter. S. 13–37.
Böhme, Gernot, Wolfgang van den Daele und Wolfgang Krohn (1977): Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Descartes, René (1992): Die Prinzipien der Philosophie. Hamburg: Felix Meiner.
Diderot, Denis (1961): „Philosophie“. In: ders.: Philosophische Schriften. Bd. 1. Hrsg. von Theodor Lücke. Berlin: Aufbau-Verlag. S. 385–389.
Kant, Immanuel (1838): „Immanuel Kant’s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen“. In: ders.: Immanuel Kant’s Werke. Sorgfältig revidierte Gesamtausgabe in Zehn Bänden. Bd. 1. Hrsg. von Gustav Hartenstein. Leipzig: Modes und Baumann. S. 321–487.
Knobe, Joshua (2003): „Intentional Action and Side Effects in Ordinary Language“. Analysis 63 (3), S. 190–194.
Knobe, Joshua und Shaun Nichols (2008): Experimental Philosophy. New York: Oxford University Press.
Nadelhoffer, Thomas und Eddy Nahmias (2007): „The Past and Future of Experimental Philosophy“. Philosophical Explorations 10 (2), S. 123–149.
Nietzsche, Friedrich (2017): „Ecce homo“. In: ders.: Kritische Studienausgabe. Bd. 6. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München, Berlin und New York: dtv und Walter de Gruyter. S. 255–374.
Platon (1958): „Politeia“. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Walter Otto, Ernesto Grassi und Gert Plambäck. Hamburg: Rowohlt. S. 67–310.
Popper, Karl (1966): Logik der Forschung. Tübingen: Mohr Siebeck.
Sorell, Tom (2018): „Experimental Philosophy and the History of Philosophy“. British Journal for the History of Philosophy 26 (5), S. 829–849.
Sytsma, Justin und Jonathan Livengood (2019): „On Experimental Philosophy and the History of Philosophy. A Reply to Sorell“. British Journal for the History of Philosophy 27 (3), S. 635–647.
von Kutschera, Franz (1988): „Empirische Grundlagen der Ethik“. In: Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann (Hrsg.): Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1987. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 659–670.
Zuidervaart, Huib (2013): „Cabinets for Experimental Philosophy in the Netherlands“. In: Jim Bennett und Sofia Talas (Hrsg.): Cabinets of Experimental Philosophy in Eighteenth-Century Europe. Leiden und Boston: Brill. S. 1–26.
Über den Autor
Alexander Max Bauer ist Lehrbeauftragter und Doktorand am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Außerdem ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschergruppe „Bedarfsgerechtigkeit und Verteilungsprozeduren“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wo er im Spannungsfeld von normativer Theorie und empirischer Forschung zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit arbeitet.
Dieser Text wurde zuerst am 8. Juni 2020 auf philosophie.ch veröffentlicht.