16 Okt

„Warum ist das philosophisch relevant? Und warum überlässt du diese Arbeit nicht lieber den Psychologen?“

von Pascale Willemsen (Bochum)

 

In diesem Beitrag möchte ich dafür appellieren, dass die moderne Moralphilosophie experimentelle Philosophie braucht. Dringend. Entsprechend werde ich aufzeigen, warum experimentelle Philosophie philosophisch relevant ist und warum wir diese Arbeit nicht den Psychologen überlassen können und dürfen.

Wie viele meiner Kollegen in der experimentellen Moralphilosophie beschäftige ich mich mit der Frage, welche Faktoren unser moralisches Denken, Urteilen und Handeln beeinflussen. Hierzu führe ich Experimente durch, in denen ich Testpersonen mit einer moralischen Problemsituation konfrontiere und sie dann bitte, verschiedene Urteile abzugeben. Auf Konferenzen sind Interesse und Aufmerksamkeit typischer Weise groß. Zugegeben sind die moralischen Dilemmas, die in der experimentellen Moralphilosophie zur Anwendung kommen, auch durchaus spannend. Wer würde nicht gerne mehr darüber wissen, wann es akzeptabel ist, den großen Mann mit dem Rucksack vor den Zug zu schubsen? Experimentelle Moralphilosophie ist spannend, denn sie liefert überraschende Ergebnisse und zeigt uns oft auf, wie vermeintlich inkonsistent unsere Antworten manchmal sind. Doch gegen Ende einer jeden Fragerunde gibt es diesen einen Konferenzteilnehmer, der zwar fasziniert zugehört hat, aber doch sichtlich skeptisch ist: „Ok, und warum genau ist das relevant?“. Huh – spannende Frage!

„Warum genau ist das relevant?“ –Zunächst einmal wird vermutlich kaum jemand bestreiten, dass Kenntnis über unsere moralische Psychologie relevant ist. Die Frage sollte also so verstanden werden, dass sie die Relevanz der moralischen Psychologie des Menschen für Moralphilosophie in den Blick nimmt. Doch was genau ist Moralphilosophie eigentlich und womit beschäftigt sie sich? Im Wesentlichen beantworten Moralphilosophen drei Arten von Fragen: Zum einen gibt es normative Fragen darüber, was moralisch gut und schlecht, zulässig und unzulässig ist, und darüber, wie wir handeln sollten. Zum anderen gibt es theoretische und begriffliche Fragen, beispielsweise was das Wort „gut“ im vorherigen Satz überhaupt bedeutet oder ob moralische Urteile wie „Katzen anzünden ist falsch“ Wahrheitswerte haben können. Drittens gibt es psychologische und empirische Fragen darüber, wie die Welt und die menschliche Psychologie in dieser Welt beschaffen sind.

Lasst uns mit der dritten Art von Fragen beginnen, nämlich den psychologischen oder empirischen. Solche Fragen beschäftigen sich beispielsweise damit, was genau in uns moralische Urteile hervorbringt. Sind es unsere negativen Gefühle, wenn wir jemanden dabei beobachten, wie er eine Katze anzündet? Oder ist es viel mehr ein Verstandesurteil, dass uns sagt, dass es falsch ist, Katzen anzuzünden? Andere Fragen beschäftigen sich damit, wie sich Moralität eigentlich evolutionär entwickelt hat? Und wieder andere empirische Fragen beschäftigen sich damit, wie Kinder moralisches Wissen erwerben. Für alle diese Fragen spielen insbesondere Pathologien wie Autismus, Psychopathologie sowie verschiedene Arten von Hirnverletzungen eine zentrale Rolle. Es scheint offensichtlich, dass diese Fragen nicht durch angestrengtes Nachdenken oder philosophische Begriffsanalyse zu lösen sind. Hier benötigen wir empirische Evidenz, um Fragen zu beantworten oder die Plausibilität von Thesen zu überprüfen.

„Jaja, ok. Wenn man solche Fragen stellt, dann braucht man natürlich eine empirische Antwort, das ist doch klar!“, könnte unser Konferenzteilnehmer entgegnen und darauf verweisen, dass es ihm doch vielmehr auf die erste Art von Fragen ankommt, nämlich die normativen. Doch häufig treten psychologische Fragen der Moralphilosophie nicht isoliert auf, sondern sie werden implizit in der Beantwortung normativer Fragen abgehandelt. Hier sind zwei Beispiele:

Die Kantische Moraltheorie besagt, dass eine Handlung dann besonderen moralischen Wert hat, wenn sie aus Pflicht, also ohne jegliche Neigung getan wird. Einem Fremden in Not zu helfen ist eine gute Sache, keine Frage. Aber für Kant macht es einen großen Unterschied, ob wir helfen, um uns selbst gut zu fühlen, oder aus purer Einsicht, dass diese Handlung geboten ist. Kant scheint hier eine normative Frage zu beantworten. Doch indem er das tut, gibt er implizit eine Reihe psychologischer Antworten, die wir bereits kurz angerissen haben. Erstens beruht seine normative Theorie auf der Annahme, dass Moral ein wesentlich rationales Geschäft ist. Unser Verstand ist Chef und unsere Gefühle sind lediglich lästiges Beiwerk. Zweitens geht Kant davon aus, dass es möglich ist, eine Handlung zu vollziehen, zu der wir in keiner Weise motiviert sind und von der wir lediglich einsehen, dass sie gesollt ist. Doch sind das psychologisch plausible Annahmen? Die experimentelle Moralphilosophie liefert Evidenz, die beide Prämissen in Zweifel ziehen.

Die Tugendethik soll unser zweites Beispiel liefern. Anders als die Deontologie geht die Tugendethik davon aus, dass moralisch gute Handlungen das Ergebnis eines guten Charakters sind. Hierzu werden dann bestimmte Tugenden definiert, die ein Charakter haben muss, um gut zu sein. Was hier klangheimlich in die Theorie eingeschummelt wird, ist jedoch eine Annahme über die Psychologie des Menschen. Die Grundidee hinter der Idee eines moralischen Charakters ist, dass wir wiederkehrende und robuste Verhaltenstendenzen haben. Wir sind mutig, wenn wir dazu neigen, in gefährlichen Situationen mit Mut zu reagieren; wir sind großzügig, wenn wir geben, wenn jemand unserer Hilfe bedarf. Empirische Forschung legt jedoch nahe, dass diese Annahme verfehlt ist. In der Realität scheint unser Verhalten weitaus mehr von kleinen, scheinbar vernachlässigbaren Faktoren beeinflusst zu werden, als es für eine Theorie über den menschlichen Charakter akzeptabel sein kann. So beeinflusst beispielweise die Intensität unseres Hungergefühls, wie harsch wir andere moralisch verurteilen. Ob wir in Eile sind und wann uns das letzte Mal etwas Positives wiederfahren ist, bestimmt zu großen Teilen, ob wir einer anderen Person helfen. Und wie das Milgram-Experiment deutlich gemacht hat, können uns ein weißer Kittel und soziale Autoritätsbeziehungen dazu bringen, anderen massives Leid zuzufügen. Es scheint also, dass die notwendigen Voraussetzungen für einen robusten moralischen Charakter nicht gegeben sind und die Tugendethik damit in erhebliche Erklärungsnot gerät.

Warum ist experimentelle Moralphilosophie also relevant für ethische Fragen? Experimentelle Moralphilosophie ist in der Lage, die Prämissen normativer Ethikkonzeptionen zu hinterfragen und aufzuklären, ob diese Prämissen der Wirklichkeit standhalten. Eine Theorie, sei sie normativ oder deskriptiv, kann nicht aufrechterhalten werden, wenn ihre Prämissen ungenügend sind. Experimentelle Moralphilosophie erlaubt es uns, auf diesem Gebiet massive Erkenntnisfortschritte zu erzielen, indem wir endlich beginnen, unsere normative Ethik auf psychologisch plausible Fundamente zu stellen.

„Ok, verstehe. Aber gehen Sie dann hier nicht einen naturalistischen Fehlschluss? Ist es nicht so, dass experimentelle Moralphilosophen das Ist erforschen, um daraus ein Soll abzuleiten?“, hakt unser Konferenzteilnehmer nach. Wie überall gibt es auch in der experimentellen Moralphilosophie einige wenige schwarze Schafe, die solche Fehlschlüsse begehen. Doch die meisten experimentellen Philosophen erheben nicht den Anspruch, auf Basis ihrer Ergebnisse eine normative Ethikkonzeption zu entwickeln. Experimentelle Moralphilosophen setzen stattdessen an einem wichtigen moralischen Prinzip an, demgemäß Sollen stets ein Können voraussetzt. Stellen Sie sich vor, meine Universität erlaubte es mir, nur solche Studierende ihre Prüfung bestehen zu lassen, die in der Lage sind, mit Laserstrahlen, die aus ihren Augen schießen, Metall schmelzen zu lassen. Eine solche Anforderung – wenn auch herrlich vorzustellen – scheint absolut absurd und unangemessen, da niemand körperlich in der Lage wäre, sie zu erfüllen. Ebenso scheint es unangemessen anspruchsvoll, nur solche Studierende durchkommen zu lassen, die in der Lage sind, aus dem Gedächtnis fehlerfrei die Kritik der reinen Vernunft wiederzugeben. Hierzu ist vermutlich kaum jemand kognitiv in der Lage. Sinnvolle Anforderungen bemessen sich stets daran, was Studierende körperlich und geistig leisten kann. Sollen erfordert Können. Dieses Prinzip ist tief verankert im Selbstverständnis der Moralphilosophie und erlegt ihr Grenzen auf, welche Handlungen gefordert werden können.

Doch die Frage danach, welche Fähigkeiten wir denn überhaupt haben, ist selbstverständlich eine empirische. Hierzu müssen wir in die Welt schauen. Und tun wir dies systematisch und unter kontrollierten Bedingungen, führen wir Experimente durch. Experimentelle Moralphilosophie kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie uns die Grenzen unserer moralischen Fähigkeiten aufzeigt. Sie überprüft beispielsweise, ob wir der Forderung des Utilitarismus, alle Interessen gleich zu gewichten jemals nachkommen können. Ist es menschenmöglich, die Interessen des Partners oder Kindes genauso stark zu gewichten wie die eines Wildfremden? Die Antwort auf diese empirische Frage wird in Teilen bestimmen, ob der Utilitarismus eine gute Moraltheorie ist oder uns aufgrund unangemessen hoher Anforderungen stets zum Scheitern verdammt. Gleiches gilt für die Deontologie: Kann ich niemals handeln, ohne dass ein Teil von mir diese Handlung auch will, so handle ich nach Kant niemals aus Pflicht, sondern stets nur pflichtgemäß. Ich kann dann vermeiden, moralisch schlecht zu handeln, aber ich werde es niemals zu moralischer Exzellenz bringen. Eine gute Moraltheorie wird fordern, was Menschen unter Ausschöpfung all ihrer Möglichkeiten, unter wohlwollenden Bedingungen mindestens annähernd erreichen können; und sie wird verwerfen, was außerhalb unserer Fähigkeiten liegt. Experimentelle Moralphilosophie bietet somit Kenntnis über die Grenzen unserer moralischen Fähigkeiten und folglich über das Reich des moralisch Gebotenen.

Aber Sollen-impliziert-Können hin oder her: Ob Philosophen es eingestehen wollen oder nicht, wir alle wollen Forschung betreiben, die lebenspraktische Relevanz hat. Wir wollen mit unserer Forschung in der Lage sein, etwas da draußen zu verändern. Experimentelle Moralphilosophie bringt uns in diesem Bestreben bereits einen großen Schritt weiter. Doch selbst wenn wir unsere normativen Moralvorstellungen bereits so angepasst haben, dass sie dem Wesen des Menschen gerecht werden, so sind und bleiben doch manche Menschen egoistischer, xenophober, sexistischer, launischer und moralisch schlicht suboptimaler als andere. Doch wie bringen wir solche Menschen wieder zurück auf Spur? Wie können wir sie moralisch besser machen? Experimentelle Moralphilosophie hilft uns besser zu verstehen, welche situativen Faktoren unser moralisches Denken, Urteilen und Handeln beeinflussen. Dabei liefert sie uns vor allem Erkenntnisse darüber, welche moralisch irrelevant geglaubten Faktoren uns beeinflussen, wo der Ist- also wieder vom Sollzustand abweicht. Dieses Wissen ist essenziell, um gezielt Veränderungen herbeizuführen und moralisch besser zu denken, urteilen und handeln. Sie erlaubt uns, soziale Strukturen zu schaffen, die ungewünschte Einflussfaktoren minimieren oder ausschalten. Dank empirischer Forschung wissen wir nun, dass Frauen, Menschen fremder Herkunft oder mit Behinderungen Diskriminierung erfahren, die wir aus normativ-moralischer Perspektive nicht rechtfertigen können. Dieses Wissen, kombiniert mit der Überzeugung, dass Geschlecht, Herkunft oder Behinderungen nicht über die Chancen in einer Gesellschaft entscheiden dürfen, erlauben es uns, Maßnahmen zu ergreifen, die diesen Effekten entgegenwirken oder sie sogar aushebeln.

In der Regel ist unser Konferenzteilnehmer nun zufriedengestellt. Und doch quält sie diese eine letzte Frage: „Sollten Sie das nicht lieber den Psychologen überlassen? Können die das nicht alles viel besser als Philosophen? Reicht es nicht, wenn wir Philosophen zwischendurch mal experimentelle Aufsätze lesen?“. Meine kurze Antwort: Nein, nein und nein. Hier nun die etwas längere und philosophisch angemessenere:

Die Frage des Konferenzteilnehmers lässt zwei Interpretationen zu, die mich gleichermaßen beunruhigen. Option 1: Philosophen haben es nicht nötig, neue Methoden zu erlernen und sich bei Experimenten die Hände schmutzig zu machen. Philosophen analysieren Begriffe, entwickeln Theorien und die praktische Fußarbeit dürfen dann empirische Wissenschaftler übernehmen. Hach, das klingt herrlich! Damit diese Vorstellung aber in der Praxis Früchte trägt, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen müssen Psychologen die Erkenntnisinteressen der Philosophen teilen oder bereit sein, auf Anweisung Experimente zu philosophisch spannenden Themen durchzuführen. Wollen wir darauf wirklich warten? Zum anderen setzt eine solche Haltung voraus, dass Psychologen ihre Experimente an den philosophischen Begriffen und Theorien ausrichten. Doch wollen wir darauf wirklich vertrauen? Und welche Rechtfertigung haben wir, solche Anforderungen an Wissenschaftler anderer Disziplinen zu stellen? Eine deutlich effizientere Vorgehensweise scheint es doch zu sein, dass Philosophen das, was sie zu Erforschung ihrer Interessengebiete benötigen, einfach selbst erledigen.

Option 2: Alles, was wir Philosophen leisten können, können die Psychologen auch – und mehr! An dieser Stelle möchte ich an die Philosophengemeinschaft appellieren und zu mehr Selbstbewusstsein aufrufen. Ich habe nicht Philosophie studiert, um ein Psychologe zweiter Klasse zu sein. Unsere philosophische Ausbildung und Forschung machen uns zu Experten in den Theorien, die wir hinterher experimentell testen wollen. Diese Theorien sind für Psychologen oftmals nicht interessant – oder zumindest werden sie häufig ignoriert. Doch wir brauchen ein tiefes Verständnis der philosophischen Theorien, um Experimente zu entwerfen, die die Theorie auf richtige Weise mit den richtigen Begriffen und mit den relevanten experimentellen Stimuli testen. Darüber hinaus verfügen Philosophen über eine Reihe wissenschaftlicher Methoden, die in der Psychologie weniger Beachtung finden.

Egal, wie wir die Frage danach, warum wir die Arbeit nicht den Psychologen überlassen, interpretieren, sie wirft kein angemessenes Licht auf die Philosophie und ihre Rolle im wissenschaftlichen Diskurs. Mit zunehmendem Erstarken der Kognitionswissenschaften als interdisziplinäres Forschungsprojekt wird diese Rolle immer deutlicher. Philosophen leisten einen zentralen Beitrag zur empirischen Forschung. Und in gleicher Weise leistet empirische Forschung einen Beitrag zur Philosophie. Experimentelle Philosophie ist nur eine von vielen Formen, wie dieser Austausch gelingen kann. Doch sie ist eine wertvolle, eigenständige, extrem produktive und kollaborative Form des Austauschs.

 

Pascale Willemsen ist Assistenzprofessorin am Institut für Philosophie II der Ruhr-Universität Bochum. Sie hat Philosophie und Sprach- und Kommunikationswissenschaften an der RWTH Aachen, sowie Philosophy of Science an der London School of Economics and Political Science studiert. In ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit der Frage, wie moralische und kausale Verantwortungszuschreibung zusammenhängen. Hierbei kombinierte sie Methoden der analytischen Philosophie mit experimenteller Philosophie. In ihrer aktuellen Forschung untersucht Pascale den Zusammenhang zwischen moralischer Verantwortung, freiem Willen und Handlungsfähigkeit und deren metaethische Implikationen. Sie arbeitet außerdem zum Alltagsbegriff der Lüge.

Hier einige jüngere Publikationen:

  • Willemsen, Pascale; Kirfel, Lara. “Recent empirical work on the relationship between causal judgments and norms”, Philosophy Compass (im Erscheinen).
  • Sytsma, Justin; Bluhm, Roland; Willemsen, Pascale; Reuter, Kevin (2018). “Causal Attribution and Corpus Analysis”, in press with Methodological Advances in Experimental Philosophy, Bloomsbury Publishing. Preprint: http://philsci-archive.pitt.edu/14848/.
  • Willemsen, Pascale; Kaspar, Kai; Newen, Albert (2018). “A new look at the attribution of moral responsibility: The underestimated relevance of social roles”, in Philosophical Psychology. doi: 10.1080/09515089.2018.1429592
  • Willemsen, Pascale. “Omissions without Expectations – A New Approach to the Things We Failed to Do”, in Synthese. doi: 10.1007/s11229-016-1284-9.