Verschont das Denken mit Experimenten. Oder: Warum Gedankenexperimente in Philosophie und Moral nichts zu suchen haben
Von Falk Bornmüller (Halle-Wittenberg)
Es scheint ganz einfach zu sein: Gedankenexperimente sind Experimente in Gedanken – und da beide Komponenten dieses Wortes positiv besetzt sind, wird das charmant verkuppelte Kompositum in philosophischen Kontexten mittlerweile derart rege und affirmativ gebraucht, als verstünde es sich bereits von selbst, was Experimentieren in Gedanken zu bedeuten habe. Dabei evoziert das Wort „Gedankenexperiment“ eine latent szientistische Vorstellung, die gerade im Bereich der Praktischen Philosophie kritisch zu betrachten ist.
Die grundlegende Textur dieser von den empirischen Wissenschaften geprägten Vorstellung geht bekanntlich auf Ernst Mach zurück. In seinem inzwischen klassischen Werk „Erkenntnis und Irrtum“, das aus gutem Grund den Untertitel „Skizzen zur Psychologie der Forschung“ trägt, charakterisiert er die grundlegende Methode des Experiments als die willkürlich mit einem forschungsleitenden Interesse hervorgebrachte Variation von Erfahrungen: Im Experiment kann über eine möglichst kontinuierliche Variation von vorliegenden Umständen der Geltungsbereich der mit diesen Umständen verknüpften Vorstellungen und Erwartungen von Folgen erweitert werden. Ebenso lassen sich beim Experimentieren die jeweiligen Umstände modifizieren und spezialisieren, wodurch wiederum die entsprechenden Vorstellungen modifiziert, spezialisiert und bestimmter gestaltet werden. In dem für Mach als paradigmatisch geltenden physischen Experiment alternieren diese beiden Prozesse der Extension und Intension als Erkenntnismomente.
Gedankenexperimente, die laut Mach eine notwendige Vorbedingung physischer Experimente sind, erlauben nun im Zuge einer „Gedankenerfahrung“ eine Variation der Tatsachen in Gedanken, die ein hohes Maß an Idealisierung und Abstraktion ermöglicht. Diese Erfahrung initiiert einen „logisch-ökonomischen Läuterungsprozeß“ zur „Klärung des gedanklich geformten Inhalts der Erfahrungen“, wobei das „Zusammenstimmen der Gedanken mit den Tatsachen und der Gedanken untereinander“ untersucht wird. Entscheidend ist: Das Experimentieren in Gedanken geschieht stets „im möglichst genauen Anschluß an die physische Erfahrung“, weshalb der heuristische Kern dieser Methode der Erkenntnis in der Verbindung von erinnerten Erfahrungen und der „Fiktion neuer Kombinationen von Umständen“ besteht. Machs Begriff des Gedankenexperiments hat somit einen dezidiert an den empirischen Wissenschaften orientierten Sinn, zumal die ‚bloß‘ gedanklichen Experimente unter der Voraussetzung idealer und unbeschränkter Versuchsbedingungen auch realiter durchgeführt werden könnten.
Diese szientifische Konzeption des Gedankenexperiments ist nun bemerkenswerterweise nicht folgenlos für das Verständnis von spezifisch philosophischen Gedankenexperimenten geblieben. Zunächst ist es verwunderlich, weshalb in der Philosophie überhaupt von Gedankenexperimenten die Rede ist: Insofern einigermaßen Einigkeit über die grundsätzlich nicht-empirische und nicht-experimentelle Verfahrensweise der Philosophie bestehen sollte, ist diese vorrangig an der gedanklichen Klärung von Begriffen und begrifflich-argumentativen Zusammenhängen im Rahmen philosophischer Fragen interessiert und hat es somit von Vornherein nur mit Gedanken zu tun. Anders als in den empirischen Wissenschaften bedarf es in der Philosophie der Sache nach keines besonderen Modus des Experimentierens in Gedanken.
Um jedoch in einem vernünftigen Sinn von Erkenntnis sprechen zu können, muss den gedanklichen Vorstellungen stets etwas Erfahrbares entsprechen, da die Begriffe ohne Anschauungen leer und die Anschauungen ohne Begriffe blind sind, wie Immanuel Kant treffend bemerkt hat. Diesbezüglich lässt sich an Machs Formulierung vom „Zusammenstimmen der Gedanken mit den Tatsachen und der Gedanken untereinander“ anschließen: Eine wesentliche Aufgabe von Philosophie kann in diesem Zusammenhang darin bestehen, auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Verhältnisses von Vorstellungen und Tatsachen zu reflektieren sowie die Kohärenz und Konsistenz von Begriffen zu prüfen. In diesem erweiterten und sehr allgemeinen Verständnis von „Experiment“ wäre letztlich alles Philosophieren ein Experimentieren in Gedanken.
Da vermutlich kaum jemand das Philosophieren als ein beständiges Experimentieren bezeichnen möchte, werden Gedankenexperimente wohl auch weiterhin als besondere philosophische Methode hervorzuheben sein. Allerdings zeigt sich hierbei eine merkwürdige Diskrepanz: Eine typische Eigenschaft des philosophischen Gedankenexperiments ist seine Form als kontrafaktisches Szenario. Damit wendet man sich also bewusst von dem in den Wissenschaften zentralen epistemologischen Standard ab, wonach Erkenntnis darin besteht, Aussagen darüber zu treffen, was in der Welt als Tatsache der Fall ist. Zugleich wird aber angenommen, dass die im Gedankenexperiment erarbeiteten und ausdrücklich nicht auf Tatsachen beruhenden gedanklich-begrifflichen Zusammenhänge dennoch auf die ‚faktische Wirklichkeit‘ anwendbar und für diese geltend zu machen sind. Wie passt das zusammen?
In philosophischen Gedankenexperimenten werden Situationen und Szenarien vorgestellt, um ein bestimmtes begriffliches Verhältnis zuexemplifizieren. Derartige Verhältnisse lassen sich grundsätzlich auch anhand wirklicher Situationen darstellen, in gedankenexperimentellen Szenarien erfolgt dies jedoch mitunter in übersichtlicherer und prononcierterer Form. Der eigentliche ‚Clou‘ von Gedankenexperimenten liegt also nicht in einer bestimmten Narration wirklicher oder fiktiver Begebenheiten, sondern in der darin zum Vorschein kommenden Exemplifikation von begrifflichen Zusammenhängen. Für die begriffliche Erkenntnis an sich spielt es dabei keine Rolle, ob ein dargestelltes Szenario faktisch oder kontrafaktisch, fiktional oder nicht-fiktional ist, denn die Kohärenz und Konsistenz von Begriffen kann davon unabhängig dargelegt werden. Doch die Philosophie orientiert sich, als vornehmlich wissenschaftlich verfahrende Disziplin, wieder verstärkt an einem eindimensionalen Paradigma der Propositionalität, demgemäß mit Aussagen über Tatsachen in der Welt lediglich eine bestimmte Wirklichkeit als wirklich anerkannt und ein szientistisch fest umrissener Erkenntnisbegriff etabliert wird. In philosophischer Perspektive werden damit mutwillig die ungemein vielfältigen „Weisen der Welterzeugung“ (Nelson Goodman) zum Verschwinden gebracht, mit denen die ‚Welt der Wissenschaften‘ überhaupt erst angemessen kontextualisiert werden kann.
An diesem entscheidenden Punkt gerät die Philosophie in eine methodologische wie legitimatorische Krise: Im Anschluss an das wissenschaftliche Paradigma beschränkt sich philosophisches Erkenntnisinteresse nämlich auch und gerade in Gedankenexperimenten auf den vergleichsweise engen Fokus reflektierter wissenschaftlicher Theoriebildung. Denn die Unterscheidung faktisch vs. kontrafaktisch entspricht letztlich dem bei Mach vorgestellten Verhältnis von physischem und Gedankenexperiment. Damit stellt sich jedoch die Frage, worin eigentlich noch der eigentümliche Wert von Philosophie bestehen sollte, wenn deren Experimente in Gedanken bereits als genuiner Bestandteil wissenschaftlichen Denkens und Forschens in Erscheinung getreten sind?
Im Bereich der Praktischen Philosophie tritt diese Krise noch sehr viel deutlicher hervor, denn hier geht es um das normative Verständnis unserer an Variationen nicht eben armen Lebenspraxis – und um unsere moralischen Intuitionen. Diese sollen zwar auch einer erklärenden bzw. rechtfertigenden Erörterung zugänglich gemacht werden, lassen sich aber gerade deshalb nicht reduktionistisch auf ein einheitliches wissenschaftliches Theoriemodell beziehen. Der Ausdruck „Gedankenexperiment“ legt eine solche Auffassung allerdings mehr als nahe, weshalb es insbesondere der Moralphilosophie angelegen sein sollte, sich aus der Klammer dieses normierenden Nomens zu befreien.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung kann in der Emanzipation eines experimentellen Denkens bestehen, welches multiperspektivisch und konstellatorisch verfasst ist. Robert Musil hat diesbezüglich nicht nur dem Wirklichkeitssinn einen Möglichkeitssinn beiseite gestellt („Der Mann ohne Eigenschaften“), sondern in seinem Essay „Skizze der Erkenntnis des Dichters“ zudem auf die Unzulänglichkeit des Versuchs hingewiesen, Ethik und Moral unter eine „einheitliche rationale Formel“ zu bringen und ein Denken von einem einheitlichen archimedischen Punkt aus zu betreiben:
„[A]uf moralischem Gebiet wird heute nach dem Prinzip der Pilotierung vorgegangen und werden in das Unbestimmte die erstarrenden Caissons der Begriffe gesenkt, zwischen denen sich ein Raster von Gesetzen, Regeln und Formeln spannt. […] Die heute noch herrschende Ethik ist ihrer Methode nach eine statische, mit dem Festen als Grundbegriff. Aber da man auf dem Weg von der Natur zum Geiste gleichsam aus einem starren Mineralienkabinett in ein Treibhaus voll unausgesprochener Bewegung getreten ist, erfordert ihre Anwendung eine sehr komische Technik der Einschränkung und des Widerrufs, deren Kompliziertheit allein schon unsre Moral zum Untergang reif erscheinen läßt.“
Musil charakterisiert deshalb zwei verschiedene Modi des Denkens, die gerade nicht an der diskriminierenden Trennlinie rational vs. irrational oder proportional vs. nicht-propositional operieren, sondern als ratioïde und nicht-ratioïde Denkungsart auf die beiden konstitutiven Momente begrifflich denkenden Verstehens verweisen, die erst in ihrer Gesamtheit den Menschen repräsentieren: Während die Naturwissenschaft als „Hauptbeispiel“ für das Denken im ratioïden Gebiet unter der Herrschaft der Regel mit Ausnahmen firmiert, ist die Moral ein solches im nicht-ratioïden Gebiet unter einer Herrschaft der Ausnahmen über die Regel.
Die nicht-ratioïde Denkungsart umfasst dabei „das Gebiet der Reaktivität des Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen“ und ist damit „das Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee“. Diese Verschiedenheit der jeweils nicht aufeinander reduzierbaren Verstehensweisen im ratioïden und im nicht-ratioïden Modus des Denkens ist nach Musil der Grund für die erforderliche „vollkommene Umkehrung der Einstellung des Erkennenden“, denn erst aus dem Verständnis dieser Umkehrung lässt sich eine komplementäre Vielfalt der Erkenntnis aus verschiedenen Perspektiven gewinnen. Die ratioïde und nicht-ratioïde Denkungsart bezeichnen zwar „ihrer Wesenheit nach verschiedene Gebiete“, aber gerade deshalb dürfen diese beiden Momente menschlicher (Selbst-)Verständigung nicht zu divergierenden Polen des menschlichen Daseins werden.
In diesem Sinne sollten wir Gedankenexperimente in der Philosophie stets kritisch betrachten und überlegen, ob diese nicht Ausdruck einer bloß einseitigen ratioïden Denkungsart sind, weil damit das umfassend zu reflektierende Verständnis der erfahrbaren Welt eingeschränkt und andere Weltverständnisse und -wirklichkeiten ausgeklammert werden – denn ein wirkliches Experimentieren in Gedanken nimmt die Pluralität von Weltwirklichkeiten ernst und weiß diese methodologisch zu integrieren.
Literatur:
- Georg W. Bertram (Hg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch. Stuttgart 2012.
- Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie [21976]. Frankfurt/Main 21998.
- Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung [1978]. Frankfurt/Main 1990.
- Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung [1905]. Darmstadt 1991, S. 183–200.
- Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hrsg. Von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 2014, S. 16ff.
- Robert Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters [1918]. Gesammelte Werke 8. Essays und Reden. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1025–1030.
Dr. Falk Bornmüller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.