‚Der Weltgeist als Autonomes Automobil‘

von Martin Gessmann (Offenbach)


Wie auch immer die Durchhalteparolen lauten, die sich die Gemeinde der Hegelianer vorsagen: seit dem Mauerfall ist die Luft raus aus den Hegeldebatten. Die Hegelvereinigungen tun sich schwer, das Level der Aufmerksamkeit hoch zu halten. Der Marxismus als Reibefläche und Konkurrent ist verschwunden, und damit scheint auch Hegel von der Weltbühne der wichtigen Auseinandersetzungen endlich abgetreten. Im Grunde ging es darum zu zeigen, dass es auch noch eine ordentliche bürgerliche Alternative gibt zum Theorieanspruch des Kommunismus auf ideologische Weltherrschaft. Mit dem Hegelschen Politik-Original sei langfristig mehr erreicht als mit der Marxschen Klassenkampf-Kopie. Nun sah man sich bestätigt, aber auch mit Oskar Wilde der traurigen Einsicht konfrontiert: Es gibt nichts Schlimmeres als seine hehrsten Ziele irgendwann einmal zu erreichen. Die einstmals aufregenden Hegelstudien sind inzwischen zu einer philosophischen Mottenkiste geworden, man befleißigt sich kundigen Aktenstudiums, und das auch schon nicht mehr auf der Höhe eines Kant oder Heideggers, geschweige denn Platos oder Aristoteles. Hegel wird zum historischen Hinterbänkler.

Und wie es so geht, wenn man den Blick zu lange in die eine Richtung lenkt – und schließlich nur noch nostalgisch dem verschiedenen Konkurrenten und Klassenkameraden nachwinkt: man bemerkt nicht, dass aus der entgegengesetzten Richtung der Weltgeschichte neue und wunderbare Aufgaben auf einen zukommen, zumindest auf alle immer noch gewieften Hegelianer. Wo die Geschichte endet, wird inzwischen nicht mehr durch soziale Revolutionen entschieden, die ihre Triebkräfte aus den Versäumnissen gesellschaftlicher Vergangenheit gewinnen; sondern umgekehrt durch wissenschaftlich-technologische Entwicklungen, deren unglaubliche Szenarien aus der Zukunft auf uns zukommen. Es genügt, das Stichwort ‚Singularität‘ (wenn Maschinen so klug werden wie wir Menschen) auch nur leise vor sich hinzusagen, um sich klarzumachen, dass inzwischen alle Zukunftsvisionen – abgrund-schreckliche wie auch romantisch-verheißungsvolle – mit den Fortschritten in Sachen Künstlicher Intelligenz zu tun haben. Wenn überhaupt, werden wir von der Geißel der Lohnabhängigkeit jedenfalls nicht mehr durch Verstaatlichung und Kommunismus befreit, sondern weit eher dadurch, dass smarte Maschinen lästige Fronarbeit für uns übernehmen. Wir alle dürfen künftig anarchisch quere Künstler sein, wie es der Situationismus vehement forderte und zugleich ‚freischwebende Intellektuelle‘ nach dem Vorbild Karl Mannheims und noch vieles andere Utopische mehr, einfach deshalb, weil nach dem ‚Ende der Arbeit‘ uns vielleicht nichts anderes mehr übrigbleibt. Das alles setzt aber voraus, nüchterner betrachtet, dass wir nicht mehr in das marxistisch vergoldete Revolutionshorn blasen und gedanklich auf die Barrikaden steigen, sondern mit Hegel zurück ans Reisbrett der Philosophie und ihrer graumelierten Geistesgeschichte gehen. Dort gilt es, geduldig dem neuen Ingenieursgeist der Welttendenz zu folgen und diesen möglichst hegelisch-kongenial nachzuvollziehen.

Die philosophische Eigenart unserer neuen Zeit ist bald durchschaut, wenn man sich mit Hegel auf die Kernkompetenz der Philosophie zurückbesinnt. Entscheidend waren für Hegel nämlich nicht die Ergebnisse, die eine bestimmte historische Tendenz hervorgebracht hat, sondern die Logik, der zu Folge sie zustande gekommen sind. Francis Fukuyamas ‚The End of History and the Last Man‘ ist so gesehen gut für eine akademische Abschlussfeier, aber nicht für die jetzt anstehende Arbeit im Ideen-Labor. Und Logik, das muss man sich vorab klarmachen, war für Hegel immer schon so etwas wie eine ingeniöse Konstruktionsmethode, den Zeitgeist am Laufen zu halten oder extra auf Touren zu bringen. Als Hegel einstmals in Jena Napoleon einreiten sah und in ihm den „Weltgeist zu Pferde“ erkannte, war er doch nur ein treibendes Rädchen im großen Weltgetriebe, das sich von anderen wieder antreiben ließ. Hegel ähnelt damit anderen Schwaben oder besser noch Stuttgarter Tüftlern, die sich bevorzugt an die Aufgabe selbst befeuernder Systeme und Maschinen machen. Sein Weltgeist ist demnach eine Art Automobil, aus heutiger Sicht sogar ein ‚Autonom Agierendes‘ – zumindest dessen gedanklicher Prototyp aus dem frühen 19. Jahrhundert, mit etwas gutem Willen.

Hält man die Analogie nicht von vornherein für Unsinn, hat man durchaus Chancen, daraus auch gleich Gewinn zu ziehen. Leitthese wäre demnach, dass mit dem Siegeszug der Digitalisierung heute etwas Vergleichbares verbunden ist. Es muss nicht Steve Jobs sogleich mit dem Kaiser der Franzosen verglichen werden, aber die Tendenz einer durchgängigen, beinahe gewaltsam vorrückenden Vernetzung aller möglichen Dinge und Posten im Namen neuer Smartness sticht doch als Vergleichspunkt ins Auge.

Logik also gleich Vernetzung? Vieles spricht dafür, dass Hegels Konzept prinzipiell übertragbar ist. Dialektik muss dann als eine Operation verstanden werden, wie wir sie grundsätzlich an der (künstlichen) Vernunftbegabung unserer Gerätschaften – und davon abgeleitet auch an uns selbst – nachvollziehen können. Das Narrativ geht ungefähr so: Vor der Digitalisierung stand jedes Gerät für sich, es hatte keinerlei Verbindung zur Außenwelt, es konnte nur stur sein eigenes, immer gleiches Programm abspulen. Vom Toaster bis zur Mondrakete gilt dies für so ziemlich alles und jedes. Nach der Digitalisierung ist alles anders: zuerst einmal gibt es die Möglichkeit gegenseitiger Information. Geräte tauschen Daten aus, sie kommunizieren untereinander, und für eine solche Art von Kommunikation braucht es einen gemeinsamen Code. Wenn wir uns zurückerinnern an den Anfang der Hegelschen Logik, dann war das dort der Kniff: mit einem bestimmten Code schien schon alles Mögliche gemeint zu sein – das „Sein“ für Hegel: alles Mögliche rein deshalb, weil eine andere, konkurrierende Kodierung nicht denkbar erscheint. Alles Fremdkodierte lag zwangsläufig außerhalb der der Welt dieses besonderen Seins. Noch einmal alltagstechnisch gesprochen: In der Welt des Kühlschranks gibt es keine Toaster und keine Staubsauger. Kommt es irgendwann doch zur Konfrontation mit diesem unnahbaren Außen – für Hegel das gedankliche „Nichts“ – setzt sogleich ein Prozess möglicher Abstimmung ein, für Hegel das „Werden“. Unterschiedliche Kodierungen werden kompatibel, indem eine gemeinsame Informationsplattform geschaffen wird. Jetzt erhält der Kühlschrank vom Toaster Daten und auch vom Staubsauger, und es ist untereinander zumindest soviel klar: das eine ist nicht das andere, Kühlschrank nicht Toaster und nicht Staubsauger. Das Eine läuft nicht mit dem Programm des anderen und umgekehrt. Das ist also ihre Seinslogik.

Als nächstes kommt die Möglichkeit einer Kooperation ins Spiel: die smarten Gegenstände stimmen sich aufeinander ab: der Kühlschrank meldet etwa einem autonom agierenden Fahrzeug, was alles für die Party fehlt, das Fahrzeug schickt die Liste an die Ausgabe-Abteilung eines Supermarkts – ein Rädchen greift somit ins andere und bildet eine zielgerichtete Handlungskette. Im Kosmos der Hegelschen Logik sind wir damit schon im Stadium der Wesenslogik. Nicht nur werden Wesens-Unterschiede als solche klar, es wird auch deutlich, wie genau sich diese voneinander abgrenzen und dennoch aufeinander bezogen sind und sich instrumentalisieren lassen – Letzteres schon im Hinblick auf eine übergeordnete Bestimmung – was man damit grundsätzlich erreichen will; im Beispiel noch einmal: versorgt werden.

Zuletzt ergeben sich auch Möglichkeiten auf höherer Gedankenebene. Mit zunehmender Vernetzung bildet sich nach Luciano Floridi eine globale „Infosphäre“ aus, in die natürliche wie künstlich intelligente Akteure gleichermaßen eingebunden sind. Eine solche Infosphäre muss man sich vernetzungstechnisch in Parallele zur Ökosphäre denken, und es ist an dieser Stelle kein Gedankensprung mehr nötig, um in einer solchen Parallelschaltung die Hegelsche Systemarchitektur von Naturphilosophie und Geistphilosophie wiederzuerkennen. Große und weltpolitische Fragen tun sich schon hier auf: die Zukunft von Klima und Umwelt, die Zukunft von Arbeit (bzw. die Nicht-Zukunft von Arbeit), die Zukunft der Demokratie und ein prekär erscheinender Gang der Weltgeschichte.

Die philosophisch bedeutenden Fragen sind – bei aller Nervosität der KI-Debatten und der sie beherrschenden Alarmstimmung – damit aber noch kaum angerissen. Yuval Harari macht eine löbliche Ausnahme, wenn er mutmaßt, dass ‚homo deus‘ das Fernziel einer künstlich-intelligenten Neubegabung der Schöpfung sein könnte. Ästhetische Fragen werden bestenfalls am Rande thematisiert, wenn etwa von Geo-engineering die Rede ist (also von klimarettenden Maßnahmen durch Einsatz von Großtechnik: Schwefelpartikel in der Atmosphäre, Düngung der Meere etc., oder der deutsche Denkmalschutz sich darum sorgt, wie sich Solarzellen auf Schindeldächern vom Weltraum aus gesehen machen).

Entscheidend in unserem Hegelschen Zusammenhang: noch niemand kümmert sich um die Anlage des Großen und Ganzen, um die Kernfrage einer möglichen Begriffslogik: wie sich der ganze Prozess überhaupt denken lässt, d.h.: wie sich die gängigen Tendenzen und Kategorien in einen Zusammenhang bringen lassen, wie sie überschaubar werden, sich dabei widersprechen mögen, ergänzen und am Ende vielleicht gar nicht so divergent sind, wie man es im Augenblick unversöhnlichen Ideenstreits vermuten mag.

Was wir brauchen ist demnach eine Logik im Sinne Hegels, die wenigstens den Versuch macht, die ganzen feinen Ausdifferenzierungen und Verästelungen der Debatte an ein gedankliches Zentrum zu binden. Aus den philosophischen Fransen muss wieder ein durchgängiges Gewebe werden. Es wäre jedenfalls die Chance, damit die Spekulationen um KI und Singularität auf dem akademischen Teppich bleiben, oder noch einmal mit Hegel gedacht: damit unsere Reise im Autonom Agierenden Fahrzeug – alias Weltgeist – nicht zur Geisterfahrt wird.


Martin Gessmann ist Professor für Kultur- und Techniktheorie sowie Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main. Er publiziert zu klassischen Themen wie der philosophischen Hermeneutik und Moralistik, scheut aber auch vor populären Einlassungen nicht zurück. So findet man in renommierten Tageszeitungen und im Radio auch Interviews zum Thema Fußball und Design. Schwerpunkt seiner Forschung der vergangenen Jahre ist die natürliche und die künstliche Intelligenz. In Zusammenarbeit mit der Neurobiologin Hannah Monyer veröffentlichte er zuletzt ein Sachbuch zum Thema Gedächtnis. Eine umfangreiche Kritik der KI-Maschinenethik findet sich in einem Review-Essay von Heft 2 und 3 der Philosophischen Rundschau des Jahrgangs 2019.