Hegel, totalitär, veraltet oder banal? Wait a minute!
von Charlotte Baumann (TU Berlin)
Als Metaphysiker, Theoretiker des Absoluten und Geschichtsphilosoph hat Hegel nicht nur den Verdacht auf Autoritarismus, sondern auch Hasswörter vieler analytischer Philosophen auf sich vereint. Die Hegel-Renaissance der letzten 50 Jahre ging daher mit dem Re- bzw. Weginterpretieren dieser Termini einher. Nun aber macht es Sinn, näher am Original, Hegels Philosophie als einen Denkanstoß und ungewöhnlichen Diskussionsbeitrag ernst zu nehmen.
Hegel stellt normative Ressourcen bereit, die viele in relativistischen und post-metaphysischen Ansätzen vermissen. Zudem schärft die Beschäftigung mit Hegel den Blick dafür, dass es nicht nur gleiche Individuen gibt sondern ein soziales Gefüge, das Macht über Akteure hat und ungleiche Machtpositionen an sie verteilt.
Das ist es, was Denker von Marx bis Adorno an Hegel schätzten: Sein Bewusstsein, dass alle menschlichen Interaktionen sozial vorstrukturiert sind und dass soziale Strukturen ein gewisses Eigenleben entwickeln können, wenn man sie nicht bewusst kontrolliert. Hegel ist keineswegs der Apologet des Ganzen oder Absoluten, sondern dessen Analyst, der davon ausgeht, dass man besondere Menschen und Interaktionen nie ohne Referenz auf das soziale Ganze verstehen kann. Im Gegensatz zu dem, was im analytischen Raum als Hegel akzeptiert wurde, bezieht sich der Begriff des sozialen Ganzen nicht primär auf eine Totalität der Normen und Regeln. Es geht auch um die physische und infrastrukturelle Seite des Sozialen und Phänomene wie den Markt, dessen Marktgesetze nicht mit Marktnormen wie ‚fairen Tausch’ und ‚Einhaltung des Vertrags’ übereinstimmen.
Hegel fragt in seiner Sozialphilosophie: Welche Formen der Freiheit sind möglich? Und fügt bald den Konditional hinzu: wenn alle Interaktionen sozial strukturiert sind. Hegels Rechtsphilosophie analysiert zunächst Typen von Freiheit, die wichtig aber defizitär sind, weil sie die soziale Bedingtheit nicht genug berücksichtigen, nämlich atomistische und willkürliche Konsumentscheidungen und individuelle Handlungsfreiheit. Und er kommt zu dem Schluss, dass der höchste Grad an Freiheit nur durch eine kollektive Reflektion auf und Intervention in sozialen Strukturen möglich ist. Er formuliert diese Einsicht insbesondere in Bezug auf den Marktes, der ‚wie ein wildes Tier gebändigt’ werden muss von einer Ständeversammlung, in der Berufsgruppen ihre Interessen miteinander koordinieren.
Diese Schlussfolgerung entgeht ehemaligen nicht-metaphysischen Hegelianern wie Pippin und Pinkard. Sie machen Hegels zentralen Schritt von einer Handlungstheorie zu einer sozialen Strukturanalyse nicht mit, sondern suchen nur nach sozialen Bedingungen der Handelnden. Dabei ist Hegels Schlussfolgerung nur konsequent für einen Denker, der in seinem gesamten System, von Logik und Naturphilosophie bis zur Ästhetik, das Absolute oder Ganze in den Vordergrund seines Denkens stellt.
Für Hegel, sind einzelne (Menschen, Ereignisse, Tiere, Bestimmungen) zentral durch ihre Position in der strukturierten Gruppe oder dem System, dem sie angehören, bestimmt. Es kann Fälle geben, in denen diese soziale Bestimmung, mit der vom Individuum gewünschten Rolle und Identität in eins fällt. Hegel nimmt dies optimistisch für die Familie an. Aber es ist klar, dass auch eine Spannung zwischen sozialer Rolle oder Position und individuellem Selbst entstehen kann. In solchen Fällen, stimmt die Selbstreflektion und Identität, die Menschen in diesen und anderen Kreisen entwickelt haben, nicht mit ihrer sozialen Rolle und Machtposition überein.
Die einzige Lösung für dieses Problem ist, dass Menschen gemeinsam auf die Strukturen ihrer Interaktion reflektieren und solche Regeln und Rollen aushandeln, die allen so gerecht werden wie möglich.
Spätestens hier trennt sich Marx von Hegel und auch Nicht-Marxisten werden ihre berechtigten Zweifel hegen, dass eine für alle sozialen Gruppen optimales soziale Struktur zu finden oder so eine Aushandlung und Intervention praktikabel ist.
Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Hegels Philosophie irrelevant ist. 250 Jahre nach seiner Geburt erinnert uns der metaphysische Hegel daran, dass nicht alles aus Normen und Bedeutungen besteht, die sich ändern sobald wir unsere Meinung ändern und an die wir nur gebunden sind, wenn sie uns überzeugen. Soziale Strukturen haben reale Macht und eine gewisse Resistenz gegenüber unseren kollektiven Ansichten, die über simple Gewohnheit hinausgeht. Und er betont, dass soziale Muster und Strukturen nicht so unübersichtlich sind wie man glauben könnte. Es sind klare Mechanismen erkennbar, die man analysieren, kritisieren und moralisch beurteilen kann und sollte. Hegels Metaphysik analysiert in abstracto Typen von Strukturen und ihre problematischen, manchmal sogar ,gewälttätigen’ Funktionsweisen. Dies hilft ihm soziale Strukturen besser zu analysieren, und damit auch zu beurteilen.
Für den metaphysischen Hegel ist das Postulat der Freiheit und Gleichheit aller Menschen durchaus wichtig als Rechtsprinzip und Grundlage des Privat- und öffentlichen Rechts. Aber es kann das Problem menschlicher Freiheit keineswegs alleine lösen. Um das Freiheitsproblem richtig verstehen zu können, muss man zugeben, dass es soziale Strukturen gibt und daher strukturelle Ungleichheiten, ungleiche Grade an Freiheit, Mitbestimmung und materiellen Vorteilen, die weder von Individuen gewählt noch ihnen von Natur aus zukommen. Neben den Rechtsprinzipien ist es diese Struktur, die eine Gesellschaft gerechter oder ungerechter macht, je nachdem ob sie die Freiheit und soziale Mitbestimmung vieler oder weniger maximiert.
Ein zentrales Beurteilungskriterium für eine Gesellschaft ist daher, nach Hegel, die Breite und Tiefe der sozialen Mitbestimmung, in dem Sinne, dass so viele soziale Gruppen wie möglich so konkret wie möglich ihre realen Interessen verteidigen und damit verbunden an den materiellen und anderen Vorzügen ihrer Gesellschaft teilhaben können. Eine vergleichende Studie zu Rawls wäre hier interessant, insbesondere bezüglich seines Begriffes der Vorverteilung oder ‚predistribution,’ also einer Einrichtung der Gesellschaft, die soziale Ungleichheit ex ante statt ex post bekämpft.
Abschließend, kann man also sagen, dass Hegel weder ein autoritärer und veralteter Metaphysikers, noch ein banaler Historist, dessen umfangreiches Oeuvre auf den Satz reduziert werden kann: Die Gesellschaft ist von Menschen gemacht. Die interessanteste und text-naheste Art Hegel zu lesen, besteht darin, seine Metaphysik ernst zu nehmen und zu verstehen, dass sie die Grundlage seiner Strukturanalysen bildet und daher nicht nur mit analytischen, sondern auch mit gesellschaftskritischen Implikationen daherkommt.
Charlotte Baumann hat in Zeitschriften wie dem European Journal of Philosophy, Journal of the History of Philosophy oder dem British Journal for the History of Philosophy publiziert. Sie ist Postdoktorandin an der Technischen Universität Berlin/Innovationszentrum Wissensforschung. Ihre Webseite ist drcharlotte.baumann.com. Eine Diskussion der verschiedenen Hegel-Lesarten erscheint bald unter dem Titel „Hegel’s Metaphysics and Social Philosophy. Two Readings,“ in Hegel and The Frankfurt School, ed. Paul Giladi, London: Routledge [2020]; Hegels angeblichen Autoritarismus diskutiert sie bald im Archiv für Geschichte der Philosophie.