Hegels Nützlichkeit

Von Jonas Heller (Frankfurt am Main)


In seiner Phänomenologie des Geistes hat Hegel eine Dialektik der Aufklärung formuliert, die für die kritische Theorie der ersten Generation schulbildend wurde. Die dialektische Diagnose lautet: Im Prozess ihrer Verwirklichung zerstört sich die Aufklärung selbst.[1] Die Verwirklichung der Aufklärung erfolgt als Prozess der Befreiung. Durch die Verbreitung von Einsicht soll die „allgemeine Masse“ von einer ihren „Eigennutz“ suchenden Priesterschaft und von einer auf „Beherrschung“ zielenden Obrigkeit befreit werden. Doch statt Freiheit zu realisieren, schlägt Aufklärung in absolute Herrschaft um: Die Verwirklichung der Aufklärung vollzieht sich als eine Dialektik der Freiheit. Sie mündet in deren Gegensatz, schließlich in Mord. Hegel hat hier den „Schrecken“, den terreur der Französischen Revolution vor Augen: „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, […] der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung, als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers“.[2]

Die dialektische Diagnose, dass Aufklärung zwar Freiheit zum Ziel, aber Herrschaft und Mord zum Resultat hat, teilen Horkheimer und Adorno mit Hegel.[3] Vor Augen steht ihnen bei der Abfassung der Dialektik der Aufklärung in den 1940er Jahren die Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden. Dass die „Tendenz zur Selbstvernichtung“ der Aufklärung keine bloß ideelle bleibt, sondern praktisch wird, tritt hier „nackt“ hervor.[4] Nicht nur mit Blick auf das Resultat, sondern auch auf den dialektischen Vollzug der Aufklärung stehen Horkheimer und Adorno in der Abhängigkeit Hegels: Aufklärung scheitert an der Weise, in der sie Freiheit verwirklicht und verfehlt; sie hat ein Befreiungsproblem.

Der Kern dieses Problems liegt, bei Horkheimer und Adorno wie bei Hegel, im Zusammenhang von Freiheit und Nützlichkeit. Weil aufklärerische Freiheit an das Prinzip der Nützlichkeit gebunden ist, führt Befreiung in Herrschaft. Horkheimers und Adornos Aneignung von Hegels Konzept der Nützlichkeit ist allerdings – wie ich in diesem Beitrag skizzieren möchte – vereinseitigend. Ein anderer Rückgang auf dieses Konzept könnte demgegenüber eine Perspektive auf „einen positiven Begriff“[5] von Aufklärung öffnen, den vorzubereiten Horkheimer und Adorno zum Ziel ihrer Kritik erklären.

In der Dialektik der Aufklärung beschreiben sie Nützlichkeit als Kriterium, mit dem die Aufklärung an alle Dinge herantritt: „Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig.“[6] Dabei lässt die Aufklärung auch das Unnütze nicht ungenutzt, sondern transformiert es – durch Arbeit – zum Mittel, das sich ihren Zwecken fügt. Aufklärung ist Nutzbarmachung des Unnützen. In dieser Nutzbarmachung, zunächst der äußeren Natur, besteht ihre Befreiung. Befreien heißt – darauf richtet sich die Kritik an Aufklärung – nicht Freisetzen, sondern Gefügig-Machen: Der Mensch der Aufklärung kennt die Dinge, „insofern er sie manipulieren kann“.[7] Indem der Mensch die Dinge verarbeitet, verlieren sie ihren Widerstand gegenüber den an sie gelegten Zwecken und werden heteronom: „Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft.“[8]

An diese Form der Herrschaft ist der Freiheitsbegriff der Aufklärung nach Horkheimer und Adorno gekoppelt: Frei ist der Mensch der Aufklärung durch die (Aus-)Nutzung von anderem – nicht bloß Ausnutzung von Dingen, sondern auch „Ausnutzung der Arbeit anderer“.[9] Die Herrschaft über die verarbeiteten Dinge ist an die Herrschaft über die arbeitenden Menschen geknüpft, und so wurden im Zeitalter der Industrie „schließlich die Befreiten selbst zu jenem ‚Trupp‘, den Hegel als das Resultat der Aufklärung bezeichnet hat“.[10] Horkheimer und Adorno greifen auf das Vokabular zurück, mit dem Hegel Nützlichkeit beschreibt, ändern aber zugleich die Logik, nach der Nützlichkeit bei Hegel funktioniert.

Anders als es Horkheimer und Adorno schreiben, ist Nützlichkeit bei Hegel keine Verwandlung von „an sich“ – also der Eigenständigkeit des Gegenstandes – in ein „für anderes“, sondern ein Zusammenwirken dieser beiden Aspekte. Die „Wahrheit der Aufklärung“ beschreibt Hegel so: „alles ist also so sehr an sich, als es für ein anderes ist; oder alles ist nützlich. – Alles gibt sich andern preis, läßt sich itzt von andern gebrauchen, und ist für sie; und itzt stellt es sich, es so zu sagen, wieder auf die Hinterbeine, tut spröde gegen anderes, ist für sich und gebraucht das andere seinerseits.“[11] Nützlichkeit basiert nicht auf der Überwindung von Widerstand, sondern ist ein Prozess, der neben Hingabe auch Widerständigkeit – „Sprödigkeit“ – hervorbringt. Auf bloßes Gefügigmachen lässt sich Nützlichkeit hier nicht reduzieren. Es handelt sich also nicht um eine Beziehung der Beherrschung: Nützlichkeit bezeichnet, anders als bei Horkheimer und Adorno, nicht Nutzbarmachung und Ausnutzung des Anderen, sondern gegenseitiges Sich-Nützlichwerden.

Eben dies legt auch Hegels aufklärerischer „Trupp“ nahe, auf den sich Horkheimer und Adorno beziehen: „Wie dem Menschen alles nützlich ist, so ist er es ebenfalls, und seine Bestimmung ebensosehr, sich zum gemeinnützlichen und allgemein brauchbaren Mitgliede des Trupps zu machen. So viel er für sich sorgt, gerade so viel muß er sich auch hergeben für die Andern, und so viel er sich hergibt, so viel sorgt er für sich selbst, eine Hand wäscht die andere. Wo er aber sich befindet, ist er recht daran, er nützt andern und wird genützt.“[12] Der Trupp ist kein militärischer. Er folgt keiner autoritär-unterwerfenden Logik: Teil des Trupps zu sein heißt nicht, unter einem fremden Kommando gegen andere ins Feld zu ziehen, sondern sich selbst für andere herzugeben: sich ihnen nützlich zu machen. Damit folgt der Trupp aber auch keiner liberal-eigennützigen Logik: Teil des Trupps zu sein heißt nicht, durch die ausschließliche Verfolgung des Eigennutzes indirekt den allgemeinen Nutzen zu befördern. Von beiden dieser Logiken ist der „gemeinnützliche Trupp“ dadurch verschieden, dass in ihm Nutzen und Sorge keine gegenläufigen Konzepte (use vs. care), sondern positiv aufeinander bezogen sind.

Sorge ist hier zunächst die Sorge um sich. Sie ist aber kein Selbstbezug, sondern steht in direkter Abhängigkeit vom Nutzen für Andere: Um für sich zu sorgen, müssen die Mitglieder des „gemeinnützlichen Trupps“ sich „hergeben“, d.h. sich anderen nützlich erweisen. Für mich ist gesorgt, wenn sich andere mir nützlich erweisen, und dazu ist erforderlich, dass auch ich mich nach meinen Kräften dem Nutzen anderer zur Verfügung stelle. Um für mich zu sorgen, brauche ich andere, und damit auch für diese gesorgt ist, muss ich mich selbst zum „allgemein brauchbaren Mitgliede“ machen. Hegels Nützlichkeitstheorem ist damit weder unmittelbar ein Szenario der „Exploitation“ anderer[13] (denn ich nütze nicht aus, sondern mache mich nützlich) noch ein Szenario der Selbstaufgabe (denn das Sich-Hergeben tritt nicht anstelle der Sorge um sich, sondern ist mit ihr verknüpft).

Indem das Prinzip der Nützlichkeit bei Hegel weder Ausbeutung noch Askese impliziert, steht auch der „Trupp“ nicht in jenem unmittelbaren Verhältnis zur Herrschaft, in dem ihn Horkheimer und Adorno verorten. So bemerkt etwa Pirmin Stekeler in seinem Phänomenologie-Kommentar über Hegels Beschreibung des Trupps, es wäre immerhin „eine nette Form der Harmonie des Nutzendenkens der Aufklärung“[14] und weist zugleich auf den ironischen Ton von Hegels Beschreibung des Nützlichkeitsgeflechts hin. Tatsächlich liegt auf der Hand, dass Hegel sich dem gemeinnützlichen Trupp selbst nicht anschließen mag. Problematisch erscheint ihm die aufklärerische Nützlichkeit zunächst deshalb, weil sie das Produkt einer absoluten normativen Indifferenz ist. Weil die Aufklärung keine religiösen Inhalte mehr kennt, sondern nur ein inhaltsloses höchstes Wesen (être suprême), entfällt jede Orientierung für die Bewertung der diesseitigen Welt: Die Wirklichkeit kann daher genommen werden, „wie man es gerade braucht“, an sich oder für ein anderes Sein.[15] Hier macht sich eine Tendenz zur Nutzbarmachung geltend, die – auch bei Hegel – das Verhältnis des Menschen zur Natur bestimmt. Inwiefern sich diese Beherrschung von Natur mit der Herrschaft über Menschen verbindet, behandelt Hegel zwar nicht. Doch auch bei ihm wird das Prinzip der Nützlichkeit in seinen Folgen problematisch: Das Bewusstsein, dessen Erfahrung die Phänomenologie des Geistes beschreibt, erkennt in der Struktur der Nützlichkeit die Struktur seines eigenen Selbsts. Dadurch geht dem Selbst der Bezug zu den umgebenden Dingen und Menschen verloren. Nützlichkeit ist kein Weltverhältnis mehr, sondern wird zum isolationistischen Selbstverhältnis. Das Selbst ist mit nichts ihm Anderem mehr „in Wechselwirkung“[16]. Somit löst sich der gemeinnützige Trupp dahin auf, dass „jeder immer ungeteilt Alles tut, und was als Tun des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewußte Tun eines Jeden ist“. Dies ist die Gestalt der „absoluten Freiheit“, die „sich auf den Thron der Welt [erhebt], ohne daß irgend eine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte“.[17] Dialektisch ist die aufklärerische Nützlichkeit bei Hegel darin, dass die für sie konstitutive Sprödigkeit, d.h. Widerständigkeit der gegenständlichen Welt ins Subjektive zurückgenommen wird. Freiheit ohne Widerständigkeit und Wechselwirkung, wird „absolut“ und kommt – dadurch – zu einem Ende: Sie geht „aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land“ über.[18] Die Selbstzerstörung der Aufklärung erfolgt nicht so sehr durch Objektivierung der Welt, sondern durch die Rücknahme einer wechselwirkenden Struktur ins Subjekt, letztlich durch den Verlust eines für die ‚Sorge um sich‘ konstitutiven ‚Für-Anderes‘.

Die Selbstzerstörung der Aufklärung vollzieht sich dadurch, dass die Aufklärung im Kampf gegen ein nur vermeintlich Anderes – bei Horkheimer und Adorno ist dies der „Mythos“, bei Hegel der „Glauben“ – sich selbst bekämpft. Weil sich die Aufklärung selbst missversteht, greift sie sich selbst an. Durch diese Selbstbekämpfung wird die Dialektik der Nützlichkeit und die Zerstörung der Freiheit in Gang gesetzt. Zugleich bietet Hegels Konzept der Nützlichkeit ein Modell, um eine gemeinnützliche Freiheit zu denken: eine Freiheit, die sich im ‚Trupp‘ realisiert, statt auf bloßen Eigennutz zu zielen, und die sich in umsichtiger Sorge manifestiert, statt in blinde Herrschaft umzuschlagen.

Nach dem Grimmschen Wörterbuch ist die Grundbedeutung von „Trupp“ keine militärische, sondern bezeichnet eine Schar, einen Verband im Sinne eines Rudels oder einer Herde.[19] In einem solchen Trupp herrscht nicht die Einförmigkeit soldatischen Gleichschritts, sondern es besteht die Sprödigkeit des Zusammengewürfelten. Zugleich zeichnet sich ein solcher Verband durch eine wechselseitige Verbundenheit aus, in der es nicht schlicht um Ermöglichung je eigener Freiheiten, sondern um Bewältigung von Nöten und Sorgen geht, die alle betreffen können. So verstanden, besteht der Trupp aus Beziehungen der Nützlichkeit, die sich nicht als Ausnutzung, sondern in Wechselseitigkeit vollziehen. Es lässt sich einwenden, dass Trupp als solche community of care eine allzu „nette Form der Harmonie des Nutzendenkens“ imaginiert: Der dialektischen Prozessualität entrissen, in der sie bei Hegel steht, ist Nützlichkeit zu versöhnlich, zu wenig spröde gedacht. Und in der Tat erinnert Hegel daran, dass jeder Trupp umschlagen kann. Dieser dialektische Umschlag, auch dies zeigt Hegels Kritik der Aufklärung, ist allerdings nicht bloß ein Umschlag ins Gegenteil, sondern vor allem die Tilgung von Gegen-teilen: die Ausräumung des Spröden. Nur ein Nutzendenken, das an Sprödigkeit festhält, kann dagegen ein im guten Sinne sorgendes sein. Dass Nützlichkeit Sorge nicht ausschließt, sondern realisiert, wäre nicht die schlechteste Lehre, die sich aus einem Hegel ziehen ließe, der sich nicht vom Kopf auf die Füße, wohl aber – widerspenstig gegen den dialektischen Umschlag – auf die Hinterbeine stellt.


Jonas Heller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Praktische Philosophie und im Forschungsverbund „Normative Orders“ an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. 2017 wurde er mit einer Arbeit zum Thema „Mensch und Maßnahme. Zur Dialektik von Ausnahmezustand und Menschenrechten“ promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Philosophie, der Rechts- und Sozialphilosophie sowie in der kritischen Theorie.


[1] Vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Gesammelte Werke Bd. 9), Hamburg: Felix Meiner 1980, S. 323 (im Folgenden angegeben mit der Sigle PhdG) und Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main: Fischer 2008, S. 3 (im Folgenden angegeben mit der Sigle DdA). 

[2] PhdG, S. 320.

[3] Zur Bedeutung Hegels für Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung vgl. Guido Kreis, „Die Dialektik in der Dialektik der Aufklärung. Die Spur Hegels“, in: Gunnar Hindrichs (Hg.), Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (Klassiker auslegen Bd. 63), Berlin: de Gruyter, S. 131-149.

[4] DdA, S. 7.

[5] DdA, S. 6.

[6] DdA, S. 12.

[7] DdA, S. 15

[8] DdA, S. 15.

[9] DdA, S. 10.

[10] DdA, S. 19.

[11] PhdG, S. 304.

[12] PhdG, S. 305.

[13] So legt es allerdings Georg Lukács nahe, der in Hegels Theorem der Nützlichkeit eine Erneuerung der „Exploitationstheorie der Aufklärung“ sieht, vgl. Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie (Georg Lukács Werke Bd. 8), Neuwied und Berlin: Luchterhand 1967, S. 612.

[14] Pirmin Stekeler, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Bd. 2: Geist und Religion, Hamburg: Felix Meiner 2014, S. 455.

[15] PhdG, 304.

[16] PhdG, 322.

[17] PhdG., 317.

[18] PhdG, 323.

[19] Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bd.e in 32 Teilbd.en, Leipzig: S. Hirzel 1854-1961, Bd. 22 (1952), Sp. 1413.