Versuch über Hegels philosophische Anstrengung, die Welt zusammenzuhalten
von David Hellbrück (Freiburg/Wien)
„Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.“
Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus
„Man muß ‚die Philosophie beiseite liegenlassen‘ […], man muß aus ihr herausspringen und sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben, wozu auch literarisch ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt;“
Karl Marx, Deutsche Ideologie
Hier soll sich nicht abermals darauf konzentriert werden, wie sich die Dialektik bei Hegel gestaltet und durch welches Material hindurch sie sich ihren Weg bahnt, sondern warum die Dialektik von Hegel überhaupt innerhalb seiner Geistphilosophie beansprucht werden musste. Nur so erst ließe sich sinnvoll diskutieren, wie die Dialektik bei Hegel auftritt. (1)
Die Dialektik Hegels stellt bekanntermaßen den Anstrengungsversuch dar, Einheit zu denken. Der Begriff des Geistes rückt hier ins Zentrum und setzt sich nach Hegel nicht aus dem Ich heraus absolut mit sich selbst (Ich = Ich), sondern muss sich letztlich immer durch ein Anderes, durch die Geschichte wie auch die Natur, selbst begreifen. Nur so ist die Einheit von Identität und Unterschied begriffslogisch – und damit für Hegel: philosophisch – gefasst. Aus sich selbst erfolgt ebenso wenig Wahrheit über sich selbst wie durch das bloße Sammeln von Faktizität: „Weder aus sich selbst allein,“ wie es in dem <Fragment philosophischer Briefe> Hölderlins heißt, „noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß mehr als Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt, aber wohl in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung, in der er stehet mit dem was ihn umgibt.“
Die Eigentümlichkeit Hegels, mit dem Anspruch verbunden – wie es in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften steht – die letzte Philosophie sein zu wollen, liegt nun darin, schlichtweg die ganze bisherige Philosophie, die Geschichte sowie Natur restlos zu logifizieren, womit er unterstellen kann, dass Versöhnung der Idee gemäß tatsächlich schon ist. In der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts beispielsweise heißt es diesbezüglich: „Die Vernunft ist die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen“.
Doch es ist keinesfalls zufällig, dass man dann auf den Geist zurückgreift, der nach Hegel letztlich das identische Subjekt-Objekt sein soll, der logische Fluchtpunkt also, in dem Form und Inhalt, Substanz und Subjekt, Logik und Geschichte usw. usf. notwendig zusammenfallen – und womit alle Trennung überwunden sein soll –, sobald der Geist als solcher in der Geschichte selbst nicht mehr unmittelbar evident vorliegt. Das historische Datum, das eine solche philosophische Kraftanstrengung erforderlich macht, ist das Scheitern der Revolution in Frankreich nach 1789ff. Die innerphilosophischen Abstoßungsmomente mögen dabei insbesondere Kant und Fichte fraglos bilden, doch die nur philosophische Begründung ist hier unzulänglich, droht sie den Erfahrungshorizont letztlich auszuklammern. Denn auch der Vernunftphilosophie Kants ging es ja, wie später Hegel oder dann auch Marx, letztlich immer auch um die eine Frage: Wodurch erhält sich die Einheit der Gesellschaft angesichts ihrer widerstreitenden Momente?
Nur vor dem Hintergrund des Scheiterns der Revolution in Frankreich, lässt sich Hegels System verständlich machen. Denn wenn diese Synthesis nicht mehr aus der gesellschaftlichen Praxis selbst begriffen werden kann, kann man sie – aber dafür muss man eben große Anstrengung aufbringen –, im Geist zu finden versuchen. Der Geist ist damit letztlich immer Substitut, der zumindest noch den Mangel allgemeinmenschlicher-gesellschaftlicher Praxis erkennen lässt. Sich des Problems derart bewusst zu machen, stellt selbstredend nur einen Lösungsversuch dar. Hegel entwickelt im Nachgang der Französischen Revolution mit der Phänomenologie des Geistes (1807) sein (erstes) philosophisches Programm, das er später – auch um gerade seine Mängel zu beseitigen – eigens in ein System integrieren und dort zum subjektiven Geist erklären wird. Die Revolution in Frankreich begreift er früh bereits in ihrer eigenen Ambivalenz, in ihrer eigenen Dialektik, um genau zu sein: in der Dialektik der Aufklärung: Die Aufklärung, die sich vom Aberglauben (eines katholischen Christentums) befreit und zur reinen Einsicht gelangt und sich zur Eitelkeit des Wissens aufschwingt, sich durch Wissenschaft unter dem Prinzip der Nützlichkeit also der Welt zuneigte und damit aneignete, schlug dennoch wieder nur in einen neuen Aberglauben um, so auch in den Kult des höchsten Wesens, der so illustre Vorstellungen wie den Bau eines Pariser Tempels der Vernunft zur Folge hatte und es, so Hegel, nicht vermochte, bleibende Positivität zu stiften, sondern rein „negative[s] Tun“ war. In Hegels Worten, die sich in der Phänomenologie, im Abschnitt über die absolute Freiheit und den Schrecken finden, handelt es sich um die Figur der „Furie des Verschwindens“; in den Grundlinien geht er noch weiter und nennt die Aufklärung die „Furie des Zerstörens“. Hegel fragt – und diese Frage durchzieht das ganze Werk wie einen roten Faden gewissermaßen –: Wie kann sich eine Gesellschaft begründen, die sich nicht mehr durch den Glauben eint? Oder anders ausgedrückt: Wie kann Gesellschaft gedacht werden, wenn sie nicht nur als absolute Vereinheitlichung aller besonderen Willen im Sinne der volonté générale gedacht werden soll?
In der Phänomenologie findet er darauf schließlich am Ende seiner Schrift eine erste Antwort: Es ist der philosophische Begriff, das absolute Wissen, das sich selbst in seinem Andersgewordensein schon immer denkt, sodass die Versöhnung des in sich so Widersprüchlichem im Jetzt bereits gelingt.
Etwa zehn Jahre später ist das Problem der gesellschaftlichen Synthesis für Hegel noch keineswegs gelöst. Vielmehr wirkt es so, als blicke Hegel selbst auf seine erste Beantwortung noch einmal zurück und sieht sich daher dazu veranlasst, die Frage erneut aufzuwerfen. Er muss also die Frage der Sittlichkeit – und damit ist der Problemaufriss gewissermaßen nur anders benannt – noch einmal ins Visier nehmen. Während die Stellung der Sittlichkeit in der Phänomenologie ausschließlich für die antike Polis gilt, kommt er jetzt in den Grundlinien dazu, das Problem der Sittlichkeit neu zu verhandeln. Denn die Philosophie, die im Begriff ihre Erfüllung findet, war offenkundig nicht imstande, die gesellschaftliche Einheit positiv zu stiften. Und auch nicht Hegels Wissenschaft der Logik, die auf die Phänomenologie chronologisch folgt, indem das Denken dort selbst gedacht werden, ihre Allgemeingültigkeit über alle Zeit hinweg beanspruchen soll. (2)
Wie kann sich die Einheit der Gesellschaft also erhalten? Diesmal, in den Grundlinien, findet Hegel eine andere Antwort, die vorläufig befriedigend zu sein scheint und in der Vorrede der Grundlinien zu finden ist: „Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, daß der Stein der Weisen irgendwo aber in der Natur selbst verborgen liege, daß sie in sich vernünftig sei und das Wissen diese in ihr gegenwärtige, wirkliche Vernunft, … ihre ewige Harmonie, aber als ihr immanentes Gesetz und Wesen und erforschen und begreifend zu fassen habe. Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Elemente des Selbstbewußtseins [als Freiheit; D.H.] verwirklicht, soll nicht des Glücks genießen, daß es die Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zur Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und inwohne.“ Doch bei diesem von Hegel ‚vorgestellten‘ Staat, aller lähmenden Diskussion zum Trotz, handelt es sich keinesfalls etwa bloß um den preußischen Staat, sondern um die Idee des Staates überhaupt. Die Abhandlung Hegels hat deshalb zum Anspruch, „den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen.“ – Im modernen Staat, in der die Freiheit sich als notwendig erweist, kann nach Hegel, weil er dort auch die Freiheit des Einzelnen verwirklicht sieht, die Sittlichkeit sich selbst bewusst erhalten und muss beispielsweise nicht mehr durch den Kultus oder die Anbetung an Götter äußerlich – wie noch in der Polis – gestiftet werden. Die Sittlichkeit des modernen Staates gestaltet sich daher grundlegend anders – wie sie das genau tut, darüber gibt das Vorlesungskompendium selbst ausreichend Auskunft. Und der Ausgang der Grundlinien, die in die Weltgeschichte entschwindet, deutet vielleicht auch schon an, wie sehr Hegel seiner eigenen Konzeption vertraute und ob er nicht doch genau dort auch selbst Platz für Zweifel einstreute.
Die Funktionsweise des modernen Staats besteht letztlich für Hegel darin, die Widersprüche, die durch die bürgerliche Gesellschaft beständig (re-)produziert werden, zu versöhnen. Diese prozessierenden Widersprüche werden in der Idee des Staates letztlich immer wieder begriffen. Genau gegen diese Begriffsanstrengung wird Marx, der Schüler Hegels (Dieter Henrich), seine Kritik später auch richten, wenn er in seiner posthum erst veröffentlichten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie notiert: „Die wahre Kritik dagegen zeigt die innere Genesis der heiligen Dreieinigkeit im menschlichen Gehirn. Sie beschreibt ihren Geburtsakt. So weist die wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit. Sie faßt sie in ihrer eigentümlichen Bedeutung. Dies Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen.“ – Eine eigentümliche Logik ist eine, die nicht sein darf, weil sie nicht sein soll.
Für Hegel ist es in den Grundlinien aber nicht mehr die Philosophie, die – wie noch im subjektiven Geist der Phänomenologie – die Versöhnung wahr macht, sondern der Staat, wie er seiner Idee nach entspricht und von Hegel als objektiver Geist verstanden wird. Dass diese Idee des Staates letztlich nach dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs der Wirklichkeit nicht mehr standhielt, drückt sich durch die Entwicklung der Philosophie (Feuerbach, Marx usw. usf.) selbst schon aus, erkannten aber auch nur konsequent abtrünnige Hegelianer des 20. Jahrhunderts, wie auch Franz Rosenzweig; so heißt es im Vorwort zu seiner Schrift Hegel und der Staat von 1920: „Ich weiß nicht, wo man heute noch den Mut hernehmen soll, deutsche Geschichte zu schreiben. Damals als das Buch entstand, war Hoffnung, daß die innere wie äußere atemversetzende Engigkeit des Bismarckschen Staats sich ausweiten werde zu einem freie Weltlust atmenden Reich. […] Es ist anders gekommen. Ein Trümmerfeld bezeichnet den Ort, wo vormals das Reich stand.“
Doch nicht erst durch den Schützengrabenkrieg des Ersten Weltkriegs blamierte sich Hegels Idee etwa, sondern bereits die ganze vom Geist beseelte Vermittlungsanstrengung stellt ein Substitutionsunternehmen dar und will dort die Möglichkeit gesellschaftlicher Synthesis glaubhaft unter Beweis stellen, wo sie in der gesellschaftlichen Praxis selbst nicht mehr unmittelbar evident ist.
Die frühe Romantik war ebenso wie Hegel von der Aufklärung ergriffen, doch eben gerade auch gleichermaßen enttäuscht von der Revolution in Frankreich und sah sich ebenso dazu veranlasst, sich eine Antwort auf das Scheitern der Revolution in Frankreich zu geben. Aus der Poesie selbst sollte die Revolution vorangetrieben werden. Und das stellt gewissermaßen den anderen Lösungsversuch dar, um auf die Frage des Ausbleibens der Revolution zu antworten. Ein Lösungsversuch, der nicht vertuschen will, dass die Welt, so wie sie eingerichtet ist, defizitär ist. Für Schlegel beispielsweise ist daher der Roman diejenige poetische Form, die die Darstellung des Undarstellbaren ermöglicht, die Utopie also zu formulieren vermag. Und zwar dadurch, dass die Form durch die Form gesprengt werden kann. Die Kunst als der höchste Ausdruck des Ausdruckslosen. Diese Schule versammelt sich in Zeitschriften wie der Athenaeum, die gerade einmal nach sechs Ausgaben eingestampft werden musste, und drückt immer wieder aufs Neue den Riss, der durch die Welt, aber auch durch die Einzelnen geht, aus. Den Riss, der erst durch die Möglichmachung allgemeiner menschlicher Revolution, in die Welt getreten ist: die Revolution in Frankreich.
Gegen jegliches Gefühl, das die klaffende Wunde darstellt und Ausdruck dessen ist, dass die Welt im Argen liegt, was die frühen, gerade aber die späten Romantiker freilich durchaus eigentümlich (und dann auch reaktionär, d.i. antisemitisch) gegen die Welt in Stellung bringen und oftmals konsequenterweise nur noch im Fragmentarischen, im Aphoristischen zustande bringen, setzt Hegel die geballte Kraft der Logifizierung und das philosophische System.
Der wahre Lösungsversuch bis heute wäre aber demnach der, dass die menschliche Synthesis eben erst noch zu leisten wäre. Wie das auszusehen hätte, darüber ein Bild sich zu machen, daran muss jeder ernsthaft scheitern, wovon Hölderlins Dichtungen Zeuge sind, der die „Beredtheit eines Sprachlosen“ sprachlich auszudrücken vermochte – wie es Adorno in seinem Parataxis-Aufsatz einmal auf den Punkt brachte.
David Hellbrück studiert u.a. Philosophie in Wien und arbeitet dort am philosophischen Institut; er ist Redakteur der Zeitschriften sans phrase und Pólemos, Verleger bei ça ira, beschäftigt sich u.a. mit kritischer Theorie, Literatur, Architektur und Ästhetik. Als studentischer Mitarbeiter ist er an der Herausgabe der Gesammelten Schriften Friedrich Pollocks, dem Mitbegründer des Instituts für Sozialforschung, beteiligt. Gemeinsam mit anderen gibt er seit 2020 die Gesammelten Schriften Manfred Dahlmanns im Auftrag des Instituts für Sozialkritik Freiburg heraus und bereitet derzeit mit Markus Bitterolf und Aljoscha Bijlsma für den Herbst 2020 die Wiederauflage der umfangreichen Studie Die Entstehungsgeschichte des Marxschen ›Kapital‹ von Roman Rosdolsky vor. Zuletzt erschien ein Essai zu Franz Kafkas Kritik antisemitischer Gesellschaft in seinem Process-Romanfragment.
Anmerkungen
(1) Der Autor dankt Thorsten Fuchshuber für kritische Einwürfe und Kommentare.
(2) Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich hat in seiner im Sommersemester 1970 gehaltenen Vorlesung, die unter dem Titel tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik publiziert wurde, darauf aufmerksam gemacht, dass auch die vermeintlich allergemeingültigsten Kategorien der Philosophie, die, gleichgültig was passieren mag, immer Bestand haben sollen, Formen sind, die wie Inhalte gelesen werden müssen und damit die logisch-gültigen Formen nicht von der sedimentierten Erfahrung abzuschneiden sind. Heinrich demonstriert das unter anderem an dem Anspruch auf Identität, selbst ein demonstrativer Begriff (identitas: ‚id‘ und ‚de‘ für ‚das da‘), ein Zeigewort demnach ist. Somit kann die Unterstellung von Identität (eines dauerhaften Sichgleichbleibens, obgleich sich Veränderung, d.i. Geschichte, immer vollzieht) als der Versuch gelesen werden, auf eine krisis des lógos zu antworten, auf eine Frage nach allgemeingültiger Geltung, die die Sittlichkeit also auch immer abverlangt: „Das, was ist, hat seine Struktur, soweit es auf mich und meine Bedürfnisse bezogen ist, einerseits; und andererseits: Das, was ich denkend ausspreche, ist ein Instrument nicht so sehr, um mich durchzusetzen, […] sondern der Witz ist der, daß die kollektive Verbindlichkeit […] des Denk- und Sprachgebrauches, also […] des kategorialen Gebrauchs, daß diese kollektive Verbindlichkeit in Frage steht in diesen scheinbar nur von Person zu Person geführten Redegefechten.“