Warum wir über die rassistischen und pro-kolonialistischen Elemente in Hegels Denken reden müssen: Replik auf Folko Zander, Teil 1
Von Daniel James (Düsseldorf) & Franz Knappik (Bergen)
In seiner Replik auf unseren Text „Das Untote in Hegel: Warum wir über seinen Rassismus reden müssen“ versucht Folko Zander, unseren Diskussionsbeitrag als einen bewussten Akt der Fehldeutung, der „üblen Nachrede“ und sogar des „[D]enunzieren[s]“ zu diskreditieren. Dass klassische Autoren wie Hegel in manchen Teilen der akademischen Philosophie nach wie vor als Identifikationsfiguren dienen, deren Kritik offene Empörung bis hin zu derartigen Angriffen auslöst, halten wir für einen Teil des Problems, nicht der Lösung. In der Hoffnung, dass wir damit zu der sachlichen Debatte beitragen, die die Thematik unseres Erachtens erfordert, haben wir uns dennoch dafür entschieden, auf Zanders Text zu antworten, um unsere Position gegen seine Einwände zu verteidigen, und nicht zuletzt auch, um mögliche Missverständnisse zu klären. Auf die von Zander aufgeworfene Frage, wie der Begriff des ‚Rassismus‘ in diesem Zusammenhang verstanden werden sollte, werden wir in einem eigenen Beitrag eingehen.
Ein erstes Missverständnis scheint uns vorzuliegen, wenn Zander unser Anliegen wiederholt so wiedergibt, als ginge es darum, Hegel als ‚Rassisten‘ und ‚Kolonialisten‘ abzustempeln. Wir halten es nicht für produktiv, die Debatte über Rassismus und Pro-Kolonialismus in der Philosophiegeschichte primär auf der Ebene von Vorwürfen gegen historische Personen zu führen (‚war N.N. Rassist?‘). Denker:innen können persönliche Meinungen haben und äußern, die wenig mit ihrer philosophischen Position zu tun haben (man denke nur an Gottlob Freges schrecklichen, aber vom philosophischen Werk anscheinend logisch unabhängigen Antisemitismus). Für die theoretische Auseinandersetzung mit der philosophischen Position sind solche Meinungen nicht notwendigerweise relevant. Die zentrale These unseres Textes ist dagegen, dass viel dafür spricht, dass die Dinge im Fall der rassistischen und pro-kolonialistischen Thesen und Argumente im Hegelschen Textkorpus ganz anders liegen. Rassistische und pro-kolonialistische Positionen scheinen, so haben wir in unserem Text argumentiert, in engen systematischen Zusammenhängen zu nach wie vor einflussreichen Teilen der Hegelschen Philosophie zu stehen. Es sind Theoriestücke wie die Herr/Knecht-Dialektik, die Theorie von Person und Eigentum sowie der Freiheitsbegriff, die in Texten der Berliner Zeit im Hintergrund der Annahme stehen, dass der Kolonialismus samt der Sklaverei auch gute Seiten habe; solche Theoriestücke können Hegel auch zur Annahme einer nicht bloß kontingenten, sondern auf einem „Begriffsunterschied“ (GW 25.1, 38, vgl. 234[i]) beruhenden (also für Hegel notwendigen und philosophisch begreifbaren) Hierarchie von ‚Rassen‘ mit unterschiedlichen geistigen Fähigkeiten bewogen haben. Bei den letzteren Thesen scheint es sich also nicht lediglich um ‚persönliche‘ Meinungen zu handeln, die Hegel am Frühstückstisch oder am Rande seiner Vorlesungen von sich gegeben hat, sondern um theoretische Positionen, die er aktiv und argumentativ in sein philosophisches System integriert hat. Dies ist der Grund dafür, dass wir in unserem Text vorwiegend von rassistischen und pro-kolonialistischen ‚Elementen‘ in Hegels Denken oder von rassistischem und pro-kolonialistischem ‚Denken‘ bei Hegel sprechen und nicht einfach von ‚Hegels Rassismus und Pro-Kolonialismus‘ (die Überschrift einmal ausgenommen, hier wäre eine differenziertere Formulierung schlicht zu lang geworden—aber dafür machen wir es dieses Mal ganz korrekt).
Ein weiterer Grund dafür, dass wir die genannten Formulierungen bevorzugen, ist, dass wir uns durchaus darüber im Klaren sind, dass es bei Hegel auch Gedanken gibt, auf die sich die Kritik an Kolonialismus und Rassismus stützen kann. Weniger interessant erscheinen uns dabei die Aussagen über die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen, die Zander (wie vor ihm schon Vieweg) anführt. Denn genau solche Aussagen kommen bei Hegel mitunter auch in direktem Zusammenhang mit der Behauptung vor, die verschiedenen ‚Rassen‘ seien durch unterschiedliche geistige Anlagen und Fähigkeit zur Freiheitsentwicklung gekennzeichnet (GW 25.1, 33-38; 234-236): Hegel sieht hier also offenbar keinen Widerspruch und erscheint uns wichtig zu fragen, warum dem so ist. Verständlich wird dies, wenn man Hegels Aussagen zur Gleichberechtigung (übrigens in Einklang mit seiner allgemeinen These, dass das ‚Recht‘ durch eine soziale Praxis verwirklicht sein muss, um „objektive Wirklichkeit“ (GPhR §210) zu haben) primär auf die Zustände im vernünftigen Staat der modernen Sittlichkeit bezieht, in dem es letztlich keine Sklaverei mehr geben darf. Hegel zufolge können aber Menschen aus dem subsaharischen Afrika diese Entwicklungsstufe der Sittlichkeit aufgrund des „Charakteristische[n] des Geistigen“ ihrer „Race[…]“ (GW 25.1, 35) nicht aus eigenen Kräften erreichen und müssen erst von anderen—durch Kolonisierung, Missionierung (ebd.) und die angeblich so befreiende „Zucht“ der Versklavung (GW 25.1, 115)—zum Leben in moderner Sittlichkeit befähigt werden. Beispielsweise vermag sich Hegel die haitianische Revolution, in der sich versklavte afrikanisch-stämmige Menschen befreit und einen eigenen Staat gegründet haben, nur als ein Resultat der christlichen Mission und der angeblichen Erziehungsfunktion des Kolonialregimes begreifbar zu machen: „Merkwürdig ist die Bildung eines Negerstaats in West-Indien. Die Möglichkeit menschlicher Freiheit ist also in den Negern auch vorhanden, aber es liegt nicht in ihnen, sich aus ihrer Natürlichkeit herauszumachen“ (GW 25.1, 36); und im Zusammenhang mit der Abolition heißt es: „Man muß die Freiheit durch Bändigung des Naturells der Neger ihnen anerziehen“ (PhGesch 70).
Nach dieser Lesart ist es nur eine (auch schon zu Hegels Zeit) besonders radikale rassistische Position, die Hegel durch seine Aussagen zur Gleichberechtigung aller Menschen zurückweist—nämlich die Position, nach der die Unterschiede zwischen verschiedenen ‚Rassen‘ zur Folge haben, dass in einem gerechten Staat Mitglieder der ‚niedrigeren‘ Rassen weniger Rechte haben sollten als andere Bürger. (Um 1800 wurde diese Position in Deutschland u. a. prominent von dem Göttinger Aufklärungsdenker Christoph Meiners vertreten, dessen Grundriss der Geschichte der Menschheit Hegel in seiner Bibliothek hatte.) Als „Feind des Rassismus“ erweisen die fraglichen Stellen Hegel aber nicht, solange sie aus seiner Sicht Raum dafür lassen, dass zahllose Menschen aufgrund ihrer ‚Rasse‘ geistig beschränkt sind und daher durch eine Phase der Phase der „Bildung“ gehen müssen, die eben auch koloniale Herrschaft und Versklavung umfasst, um wirklich frei werden zu können. (Im Übrigen wirft ein Blick in die Schriften von Hegel nachweislich bekannten Verfassern wie Raynal, Blumenbach, Diderot, Destutt de Tracy oder Alexander von Humboldt[ii] die Frage auf, worin genau Hegel hier, wie Zander behauptet, „seiner Zeit weit voraus“ ist. Bei allem Eurozentrismus und Kulturchauvinismus, von dem auch sie nicht frei sind, findet sich bei diesen Autoren eine Kritik von Sklaverei, Kolonialismus und der Annahme ‚Rasse‘-spezifischer geistiger Anlagen, von der Hegel einiges hätte lernen können. Und schon der von Zander genannte Montesquieu hat für die Argumente, die zu Gunsten der Sklaverei angeführt wurden, nur Spott übrig, statt sie, wie Hegel, als Wahrheitsmoment in einer Antinomie ernst zu nehmen[iii].)
Für interessanter als die von Zander und Vieweg zitierten Aussagen Hegels halten wir hingegen die Tatsache, dass viele klassische Autoren des eigentlichen philosophischen Anti-Rassismus, wie beispielsweise W.E.B. Du Bois, Frantz Fanon, C.L.R. James und Aimé Césaire, in Hegels Texten Inspiration für ihre eigenen kritischen Analysen des Rassismus und des Kolonialismus gefunden haben. Es ist vor allem diese Tatsache, die in unseren Augen dafür spricht, dass es bei Hegel auch ein wichtiges anti-rassistisches Potenzial gibt und die Beschäftigung mit ihm, wie wir es bereits in unserem Aufsatz betont haben, auch in diesen Kontexten gewinnbringend sein kann. Und auch deshalb halten wir eine Debatte über rassistische und pro-kolonialistische (ebenso wie über Rassismus- und Kolonialismus-kritische) ‚Elemente‘ bei Hegel für sinnvoller als eine pauschale Einstufung von Hegel als ‚Rassist‘ oder aber „Feind des Rassismus“. (Dasselbe gilt im Übrigen für unseren Begriff des ‚Untoten‘ bei Hegel. Wir haben nicht „Hegel als Zombie“ kategorisiert, wie Zander schreibt, sondern zwei Arten von offenkundig falschen Theoriestücken bei Hegel unterschieden: die ‚toten‘ Elemente, die wir getrost vergessen dürfen, und die ‚untoten‘ Elemente, mit denen wir uns befassen sollten, weil sie nicht nur marginal für Hegels Denken sind und in engem Zusammenhang mit den heute noch populären ‚lebenden‘ Elementen in Hegels Denken stehen.)
Auch andere Aussagen und Theoriestücke, die in diesem Zusammenhang zur Verteidigung Hegels zitiert werden, weisen nicht ohne Weiteres Hegel als entschiedenen Kritiker des Rassismus und Kolonialismus aus. Zander nennt beispielsweise Hegels Kritik der Phrenologie und verwandter Ansätze in der Phänomenologie des Geistes und der Enzyklopädie. Aber wie ist es zu erklären, dass Hegel in seinen Anthropologie-Vorlesungen ausführlich und ohne Einwände auf Blumenbachs und Campers Theorien über Schädelformen als Abgrenzungskriterien für „Rassen“ eingeht und in diesem Zusammenhang selbst, laut dem sehr ähnlich formulierten Zeugnis dreier verschiedener Mitschriften derselben Vorlesung, dem „Osteologischen“ „eine Beziehung auf das Geistige“ zuschreibt (GW 25.2, 610)? Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes die Phrenologie und Physiognomik ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt individueller körperlicher und geistiger Eigenschaften diskutiert. Ähnlich handelt auch der §411 der Enzyklopädie, in dessen Anmerkung Hegel Physiognomik und Kranioskopie verwirft, von der Leiblichkeit des Menschen „als einzelnes Subjekt“ (und den entsprechenden Teil seiner Vorlesungen leitet Hegel 1825 wie folgt ein: „Was das Aussehen des Menschen überhaupt anbetrifft, so hat jedes Individuum seine feste individuelle Bildung […]“, GW 25.1, 409f.). Hegels Ablehnung von gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen den Besonderheiten des einzelnen Leibes und Geistes (z. B. zwischen individuellen Gesichtszügen und Charaktereigenschaften) ist aber durchaus mit seiner Behauptung kompatibel, auf Ebene der ‚Rasse‘ sei ein „Zusammenhang“ zwischen der für eine ‚Rasse‘ charakteristischen Schädelform und dem für sie charakteristischen geistigen Entwicklungsstand „überhaupt nicht zu verkennen“ (GW 26.1, 609). (Nur am Rande sei dabei bemerkt, dass uns rein philologisch gesehen Passagen aus Vorlesungen, die durch mehrere studentische Mitschriften bezeugt sind, wesentlich zuverlässiger erscheinen als die von Herausgebern auf heute nicht mehr nachvollziehbare Weise kompilierten Zusätze wie z. B. der von Zander ohne weitere Bedenken zitierte Zusatz zu §393 der Enzyklopädie.)
Ein weiteres Beispiel für eine Textstelle, die der Kontextualisierung und Diskussion bedarf, ist die Anmerkung zu §57 in den Grundlinien der Philosophie des Rechts mit ihren Ausführungen zur Sklaverei. Zander vermisst die von uns behauptete Ambivalenz in der „Antinomie“, als die Hegel an dieser Stelle die zeitgenössische Diskussion über die koloniale Sklaverei glaubt konstruieren zu müssen. Wie wir aus Hegels Diskussion der Kantischen Antinomien in der Wissenschaft der Logik wissen, sind für Hegel in einer Antinomie sowohl Thesis als auch Antithesis einseitige Positionen. Beide haben jeweils ein Moment einer komplexen Wahrheit im Blick, stellen es aber isoliert dar und müssen deshalb in einer höheren Einheit integriert werden (z. B. TW 5, 225). Daraus folgt aber direkt, dass auch der Abolitionismus an Einseitigkeit krankt und im Anti-Abolitionismus etwas liegt, das in einer nicht-einseitigen Position integriert werden muss. Laut §57A wird nämlich im Abolitionismus übersehen und im Anti-Abolitionismus zu Recht betont, dass der Mensch zunächst als ein unfreies, der Bildung hin zum freien Leben in einem Staat bedürftiges „Naturwesen“ auftrete—eine Situation, in der sich nach Hegels Anthropologie und Geschichtsphilosophie afrikanische Menschen aufgrund der Defizite ihrer ‚Rasse‘ nach wie vor befinden (GW 27.1, 83: „In Africa ist Sinnlichkeit, sinlicher Genuß, Körperkraft, kindliche Gutmüthigkeit, wie ganz gedankenlose Grausamkeit“; GW 25.1, 36: die afrikanische „Race“ ist „das Befangensein in der Natur [,] die unmittelbare concrete Natur des Geistes“). Die Auflösung der Antinomie kann dementsprechend auch nicht in einer unqualifizierten Ablehnung der Sklaverei liegen—das wäre gerade die Antithesis in der Antinomie. Vielmehr muss die Ablehnung der Sklaverei für Hegel in einer Weise qualifiziert werden, die dem Auftreten des Menschen als „Naturwesen“ Rechnung trägt. Unter anderem aufgrund von Hegels Vorlesungstexten zur Herr-Knecht-Dialektik, auf die Hegel in §57A ja ausdrücklich verweist, verstehen wir diese Auflösung dahingehend, dass die koloniale Sklaverei ein notwendiges Durchgangsstadium mit angeblich befreiender Funktion (GW 25.1, 115: „Stufen der Zucht“) auf dem langen Weg hin zu einem Leben in modernen vernünftigen Staaten ist, in denen die Angehörigen verschiedener ‚Rassen‘ dann erst wirklich gleiche Rechte haben. Und aus Vorlesungstexten ist uns auch überliefert, was das für Hegel konkret in Bezug auf die zeitgenössische Debatte über die Abschaffung der Sklaverei in den europäischen Kolonien bedeutet: Diese Abschaffung darf nur allmählich geschehen, nämlich dann, wenn die Versklavten wirklich zur Freiheit erzogen sind (PhGesch 70; vgl. TW 12, 127)—Hegel befürwortet also eine „gradualistische“ Haltung in der Abolitionismus-Debatte und ist damit auch hier alles andere als „seiner Zeit weit voraus“. (Eine progressivere und nicht-ambivalente Position in der Debatte war zu dieser Zeit bereits seit Jahrzehnten von Befürwortern der sofortigen Abschaffung vertreten worden—ganz zu schweigen von den Versklavten selbst, deren von Hegel bezweifeltes Freiheitsbewusstsein durch Flucht, die Bildung von Maroons, Quilombos und Palenques, Rebellion, Revolution und kulturelle Resilienz vielfach belegt und auch zu Hegels Zeit in Europa bekannt war[iv]).
Schließlich haben wir auch Bedenken gegenüber der Einschätzung, Hegels Aussagen zum Kolonialismus in §§248 und 351 der Grundlinien der Philosophie des Rechts seien rein beschreibend, nicht positiv wertend. Es ist zwar richtig, dass der §248, in dem Hegel den Kolonialismus als Lösung für das Problem der Armut in der bürgerlichen Gesellschaft beschreibt, selbst keine normative Formulierung enthält. Zugleich ist aber bemerkenswert, dass Hegel kurz zuvor, in §245, andere Optionen, nämlich die Besteuerung der Wohlhabenden und weitere staatliche Wohlfahrtsmaßnahmen, aus ausdrücklich normativen Gründen ausschließt (sie verstoßen laut §245 „gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre“). Wenn Hegel also im Rahmen seiner Theorie einer vernünftigen Gesellschaft (wir bewegen uns hier ja immerhin im Kontext seiner Analyse der modernen Sittlichkeit) verschiedene Lösungen für den Pauperismus—und damit die zentrale Herausforderung der bürgerlichen Gesellschaft—anführt, gegen andere Lösungen normative Prinzipien anführt, in Bezug auf die Kolonialisierung aber keinerlei Bedenken anmeldet, dann spricht dies in unseren Augen klar dafür, dass Hegel an dieser Stelle den Kolonialismus nicht einfach nur konstatiert, sondern ihn als legitimen Ausweg aus dem Armutsproblem präsentiert.
Ein noch düstereres Bild bietet Hegels Stellungnahme zum Kolonialismus im Rahmen seiner Diskussion des „äußeren Staatsrechts“ in §351. Dort heißt es: „Aus derselben Bestimmung geschieht, daß zivilisierte Nationen andere, welche ihnen in den substantiellen Momenten des Staates zurückstehen (Viehzuchttreibende die Jägervölker, die Ackerbauenden beide u.s.f.), als Barbaren mit dem Bewußtsein eines ungleichen Rechts, und deren Selbständigkeit als etwas Formelles betrachten und behandeln“. Auch das ist zwar wieder deskriptiv formuliert, aber mittels der Formulierung „Aus derselben Bestimmung“ referiert die Passage auf den vorangehenden §350, genauer auf die Aussage: „In gesetzlichen Bestimmungen und in objektiven Institutionen, von der Ehe und dem Ackerbau ausgehend, hervorzutreten, ist das absolute Recht der Idee“, wobei dieses „Recht der Idee“ u. a. deshalb „absolut“ ist, weil es unabhängig davon gilt, ob „die Form dieser ihrer Verwirklichung als göttliche Gesetzgebung und Wohltat oder als Gewalt und Unrecht erscheine“. Ein „absolutes Recht“—normativer geht es eigentlich nicht. Dass sich für Hegel die in §351 angesprochene Kolonialisierung demnach aus dem „absolute[n] Recht der Idee“ ergibt, lässt sich folgendermaßen verstehen: Kolonialisierung ist – selbst wenn sie „als Gewalt und Unrecht erscheine“ und die Souveränität der Kolonisierten verletzten würde – aus Hegels Sicht gerechtfertigt, weil sie durch ihre angeblich zivilisierende Wirkung die Entstehung von moderneren Institutionen und letztlich von vernünftigen Staaten in den kolonialisierten Gebieten ermöglicht und so zur Realisierung der „Vernunft in der Geschichte“ beiträgt (die „Idee“ ist für ja Hegel das rationale Grundprinzip der Wirklichkeit, das sich durch die Natur und die Menschheitsgeschichte hindurch verwirklicht).
Hegel scheint also der Auffassung zu sein, dass die Besitz- und Herrschaftsansprüche zivilisatorisch überlegener Kolonialmächte die Souveränität und Rechte der Kolonisierten (sofern überhaupt vorhanden) übertrumpfen. Erschwerend kommt aber noch hinzu, dass es angesichts von Hegels Auffassung von Eigentum und Person, die wir ebenfalls in unserem Beitrag angesprochen hatten, noch nicht einmal ausgemacht ist, ob aus Hegels Sicht die im modernen europäischen Kolonialismus unterworfenen indigenen Völker überhaupt für sich genommen so etwas wie Eigentumsrechte (an sich selbst und an Sachen) sowie Souveränität haben, die gegen Versklavung und Landnahme sprächen. Dies liegt u. a. an den spezifischen Besonderheiten der Hegelschen Auffassung von Eigentum und Person. (Dass es übrigens, anders als Zanders es behauptet, keinen „Umweg“ darstellt, im Lichte dieser Begriffe zu fragen, wie es nach Hegel um die Rechtmäßigkeit des europäischen Kolonialismus bestellt, lässt sich schon daran festmachen, dass Hegel selbst im Kontext seiner Eigentumstheorie auf die mit ihr einhergehenden Versklavung zu sprechen kommt, weil er die „Persönlichkeit des Willens“ offensichtlich für das hier einschlägige normative Prinzip hält. Ein weiterer Kandidat wäre die Souveränität, um die es allerdings auch nicht besser bestellt ist.) Wir verstehen Hegel so, dass er einerseits Eigentumsrechte (an sich selbst und an Sachen) – und letztlich „überhaupt die Rechtsfähigkeit“ (GPhR §36) – an Bedingungen knüpft, die sehr anspruchsvoll sind und einen langen historischen Bildungsprozess voraussetzen: eine „Persönlichkeit des Willens“, die sich in der Distanznahme von äußeren und inneren Beschränkungen äußert (GPhR §39); ein Bewusstsein der in dieser Distanznahme ausgeübten Fähigkeit (GPhR §35); eine Aneignung von Sachen, unter anderem durch Bearbeitung, und des eigenen Lebens und Körpers, durch „Bildung“ (GPhR §57, handschriftlicher Zusatz – vgl. §197); und, nicht zuletzt, die wechselseitige Anerkennung als Eigentümer und Person (GPhR §36: ‚Respekt‘), wobei diese Anerkennung wiederum als soziale Praxis oder „Sitte“ verwirklicht sein muss, damit wir gesichert über Sachen wie über uns selbst verfügen und dadurch unsere „Persönlichkeit“ verwirklichen können (GPhR §209). Andererseits schreibt Hegel im Rahmen seiner rassistischen Anthropologie kolonialisierten Menschen mentale Beschränkungen zu, die sie außerstande setzen, von sich aus und ohne Beistand der Kolonialmächte die genannten Bedingungen zu erfüllen (GW 25.1, 35: „Sie sind von außen sehr bildsam, doch haben sie diesen innern Trieb nicht“). Da sie unfähig seien, von sich aus Allgemeines im Denken zu erfassen (GW 25.1, 35: „das Allgemeine steigt in ihrem Kopfe nicht auf“), können nach Hegel insbesondere Afrikaner:innen kein Verständnis von allgemeinen Prinzipien wie der „Persönlichkeit“ und dem wechselseitigen „Respekt“ vor anderen als Eigentümern erlangen. Vielmehr behauptet Hegel, der Mensch sei in Afrika „noch ungebildet, nicht zur Sittlichkeit, zum Bewußtseyn seiner vernünftigen Freiheit erwacht“ (GW 27.3, 837), und er attestiert Afrikaner:innen eine „vollkomne Rechtlosigkeit“: „denn der Mensch, der das Bewußtsein seiner Freiheit nicht gefaßt hat, hat auch den Unterschied seiner Persönlichkeit nicht begriffen“ (ebd.). „Recht, Sittlichkeit, freie Verfassung“ schränkt Hegel dementsprechend auf die europäische ‚Rasse‘ ein (GW 25.1, 38) und behauptet, aufgrund des mangelnden Freiheitsbewusstseins sei „[u]nter den Negern […] Sclaverei allgemein herrschend“ (GW 27.3, 841): „sie werden verkauft und lassen sich verkaufen, ohne alle Reflexion darüber, ob dies recht ist oder nicht“ (Enz. §393Z, TW 10, 59). Hegel scheint also nicht-europäische Menschen, sofern sie nicht von Kolonialherren ‚erzogen‘ wurden, schlicht für unfähig zu Eigentumsrechten (an sich selbst und an ihrem Land), ebenso wie zu staatlicher Souveränität („freie Verfassung“ – vgl. GPhR §331: „ob [der Staat] ein so an und für sich Seiendes in der Tat sei, kommt auf seinen Inhalt, Verfassung, Zustand an“) zu halten. Damit gäbe es aber auch – anders als im Falle der Besteuerung der Wohlhabenden, die für Hegel dem Grundgedanken der bürgerlichen Gesellschaft widerspricht – kein normatives „Prinzip“, das gegen ihre Kolonisierung spräche. Im Gegenteil: Mit der Aussicht auf eine Lösung des Armutsproblems sowie der ‚Bildung‘ anderer Völker zu „Recht, Sittlichkeit, freie[r] Verfassung“, die mit der Kolonialisierung einhergehe, führt Hegel allein Gründe an, die für den Kolonialismus sprechen.
Anders als Zander glauben wir nicht, dass es in manchen Fragen der Hegel-Interpretation keinen Raum für unterschiedliche Deutungen gibt. Wir haben dafür argumentiert, dass manche Aspekte bei Hegel mehr Aufmerksamkeit verdienen, als sie in der Regel erhalten, und dass es textliche Evidenz dafür gibt, dass rassistische und pro-kolonialistische Elemente in Hegels Denken oft in sehr viel engerem argumentativem Zusammenhang mit den „lebenden“ Teilen seines Denkens stehen, als uns lieb sein kann. Die „Sache“, um die es uns dabei geht, ist weit entfernt von einer „Denunziation“ oder einem „Abkanzeln“ Hegels. Vielmehr steht sie selbst ganz im Geist der Aufklärung: Ausgehend von der – paradox anmutenden[v] – Beobachtung, dass aufklärerische Ideen wie die von Freiheit und Vernunft in der Philosophie Hegels mit der Annahme einer Hierarchie von „Menschenrassen“ und Zivilisationen sowie auf dieser Grundlage der Rechtfertigung von Sklaverei und Kolonialherrschaft einhergehen, geht es uns darum, zu fragen, ob – und, wenn ja, wie – wir solche Ideen von ihrem kolonialrassistischen Ballast trennen können. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir allerdings das Verhältnis dieser Elemente bei Hegel eingehend untersuchen. Erst dann können wir das emanzipatorische Potenzial von Hegels Philosophie, das auch einige antirassistische und antikoloniale Autor:innen in ihr erblicken, angemessen einschätzen.[vi] Wir haben in diesem Sinn ansatzweise erklärt (und haben vor, dies bei anderer Gelegenheit noch genauer ausführen), wie wir z. B. Hegels Diskussion der Sklaverei in §57A der Rechtsphilosophie, seine späteren Stellungnahmen zur Herr/Knecht-Dialektik oder seine Aussagen zu den „Menschenrassen“ verstehen—wohl wissend, dass man auch für andere Interpretationen solcher Texte und ihrer Kontexte argumentieren kann. Wenn unsere Diskussionsbeiträge Skeptiker:innen dazu anregen würden, im Einzelnen zu erklären, wie sie einschlägige Probleme bei Hegel verstehen—beispielsweise die Verhältnisse zwischen geografischen, biologischen und mentalen Faktoren in Hegels Ausführungen zu den „Menschenrassen“; die Beziehung zwischen der Phrenologie-Kritik in der Phänomenologie des Geistes und Hegels späterer Rezeption von Blumenbach und Camper; Hegels positive Äußerungen zur Sklaverei im Kontext seiner späteren Verwendung der Herr/Knecht-Dialektik; den Begriff des „absoluten Rechts“ im Kontext der Kolonialgeschichte; und nicht zuletzt auch die „Antinomie“, die Hegel in der Debatte zwischen Gegnern und Verteidigern der Sklaverei erblickt—, so wäre damit aus unserer Sicht in dieser Sache schon viel gewonnen.
[i] Wir verwenden die folgenden Abkürzungen für Werke Hegels: GW = Gesammelte Werke. Hg. Nordrein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und Künste, Hamburg: Meiner, 1968ff.; TW = Werke in 20 Bänden (Theorie-Werkausgabe). Hg. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969–1971. GPhR = Grundlinien der Philosophie des Rechts, TW 7; Enz. = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, TW 8-10; PhGesch = Die Philosophie der Geschichte. Vorlesungsmitschrift Heimann (Winter 1830/1831). Hg. Klaus Vieweg. München: Wilhelm Fink, 2005.
[ii] Man vergleiche z.B. Guillaume-Thomas Raynal, Histoire philosophique et politique des établissemens et du commerce des Européens dans les deux Indes. Genf: Jean Léonard Pellet, 31780, u.a. Buch VIII.1 und XI (ein Werk, aus dem laut Rosenkranz der junge Hegel exzipiert hat); Denis Diderot, Supplément au Voyage de Bougainville. Paris: Gallimard, 2002; Johann Friedrich Blumenbach, Beyträge zur Naturgeschichte, Göttingen: Heinrich Dieterich, 21806, 1. Teil, Kap. 13; Antoine Louis Claude Destutt de Tracy, Traité d’économie politique. Paris: Bouguet & Lévi, 1823, 208f. (ein Buch, das Hegel in seiner Bibliothek hatte); Alexander von Humboldt, Essai politique sur l’île de Cuba, Band 1. Paris: Gide fils, 1826, 306-336 (zu Hegel und Humboldt, der 1827/28 seine vielbeachteten Kosmos-Vorlesungen an der Berliner Universität hielt, vgl. Friedrich Herneck, „Hegel und Alexander von Humboldt“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe XX (1971) 2, 267–270, online verfügbar unter https://www.uni-potsdam.de/verlagsarchivweb/html/9893/html/6-herneck.html).
[iii] Montesquieu, De l’esprit des lois, London: Nourse, 1772 [1748], Buch XV, Kap. 5.
[iv] Vgl. Louis Sala-Molins, Le Code Noir ou le calvaire de Canaan. Paris: PUF, 1987, 248f.
[v] Ein solches Paradox konstatierte schon Richard Popkin hinsichtlich der Philosophie der Aufklärung in seinem Aufsatz „The Philosophical Basis of Eighteenth-Century Racism”. In Racism in the Eighteenth Century, Hg. Harold E. Pagliaro, Case Western Reserve University Press, 1973, 245–262, insbes. 246.
[vi] Ein in dieser Hinsicht vorbildliches Beispiel für ein solche Diskussion, die letztlich zugunsten der Vertragstheorie ausfällt, findet sich in Charles Mills‘ Aufsatz „Rousseau, the Master’s Tools, and Anti-Contractarian Contractarianism“, CLR James Journal 15 (1) (2009), S. 92-112.