Wer denkt abstrakt? Wie Philosophie in der Corona-Krise unter Anleitung von Hegel praktisch werden kann

Von Olivia Mitscherlich-Schönherr (München)


Ein Rückblick auf Hegels Essay „Wer denkt abstrakt?“ vermag die Leerstelle nicht zu schließen, die Gottfried Schweiger der Philosophie in der Corona-Krise attestiert: Leitbilder einer künftigen, gerechten Gesellschaft zu entwerfen. In Auseinandersetzung mit Hegels Text können wir jedoch ein Philosophieren bahnen, das auf andere Weise praktisch wird: indem es Abstraktionen überwindet, zu einem nicht-reduktionistischen Beurteilen der gegenwärtigen Krise befähigt und dergestalt politische Lernprozesse unterstützt.

In dem posthum veröffentlichen Essay „Wer denkt abstrakt?“ (1807) verfolgt Hegel das Doppelprojekt einer Kritik des abstrakten Denkens und einer Einführung in konkretes Denken. Hierfür bringt er das Phänomen des abstrakten Denkens zunächst narrativ in Gestalt mehrerer kleiner Geschichten zur Anschauung. Eindrücklich ist etwa die Schilderung einer Gerichtsszene: „Es wird also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich: was, ein Mörder schön? wie kann man so schlechtdenkend sein und einen Mörder schön nennen; ihr seid auch wohl etwas nicht viel Besseres! Dies ist die Sittenverderbnis, die unter den vornehmen Leuten herrscht, setzt vielleicht der Priester hinzu, der den Grund der Dinge und die Herzen kennt“ usw. (Hegel 1807, 580; https://www.signaturen-magazin.de/georg-wilhelm-friedrich-hegel–wer-denkt-abstrakt-.html). Hegel führt vor Augen, dass das „gemeine Volk“ und der Priester abstrakt denken, indem sie den Mörder nur auf sein Mörder-Sein und die „Damen“ nur auf ihren vornehmen Stand reduzieren; und dass sich die „Damen“ einer Auflösung ihrer konkreten lebensweltlichen Erfahrungen in Prinzipien des allgemeinen Denkens widersetzen.

Im Ausgang von derartigen Phänomen-Skizzen erreicht Hegel ein begriffliches Verständnis des abstrakten Denkens. Abstrakt denkt nach Hegel, wer über die „einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen“ an begegnenden Personen „vertilg[t]“ (vgl. ebd.). Im Verlauf seines Textes führt Hegel zugleich in eine Praxis des konkreten Denkens ein. Im Mitvollzug des Hegelschen Essays können wir konkretes Denken als reflektierendes Beurteilen einer Lebenssituation einüben: als einen Lernprozess, in dem eine konkrete Lebenssituation nicht unter allgemeine Regeln, eine andere Person nicht unter vorausgesetzte Allgemeinbegriffe subsumiert, sondern inmitten der konkreten Situation allererst nach deren Gesetzmäßigkeiten gesucht wird (zum Begriff des reflektierten Urteilens vgl. Kant 1983, B XXVIf.; Kersting 2017, 301f.).

In Auseinandersetzung mit der aktuellen Corona-Krise können wir in dem Hegelschen Essay nicht die „kraftvolle[n] Szenarien für eine gerechte Gesellschaft der Zukunft“ finden, die Gottfried Schweiger vermisst (https://praefaktisch.de/002e/die-coronamuedigkeit-der-philosophie-oder-wie-soll-die-zukunft-aussehen/). Von Hegel angeleitet können wir jedoch der Sackgasse entkommen, in die sich ein praktisches Philosophieren manövriert, das ebensolche Großtheorien politischer Gerechtigkeit entwirft, sich dafür aus den Zusammenhängen des gegenwärtigen Lebens herausstellt – hierfür aber den Preis zu entrichten hat, nicht mehr zur lebensweltlichen Umsetzung ihrer erdachten „Leitbilder“ (Kersting) der Gerechtigkeit motivieren zu können. Auf die resignierte Einsicht, dass der Staat die Wege zu mehr Gerechtigkeit nicht beschritten hätte, die von Seiten der Philosophie seit Jahren gewiesen worden seien, verweist auch Schweiger – und findet darin denn auch eine der zentralen Quellen der aktuellen Corona-Müdigkeit der Philosoph_innen, neue Großtheorien der Gerechtigkeit zu entwickeln (vgl. ebd.). Wir können diese Schwierigkeiten unterlaufen, indem wir – im Sinne von Hegels konkreten Denken – unsere Bindung an die Gegenwart wahren: indem wir die gegenwärtige Corona-Krise als Gegenstand unseres Erkennens und Gestaltens reflektieren, in den wir – die Erkenntnis-Subjekte – mitsamt unseren Begriffen und Leitprinzipien zugleich einbezogen sind. Damit fassen wir ins Auge, dass wir inmitten der Krise weder wahres Wissen von selbiger noch allgemeingültige Leitprinzipien zu ihrer Bewältigung haben, sondern dass verschiedene – erst-, zweit- und drittpersonale – Erfahrungsperspektiven Erkenntnis von unterschiedlichen Aspekten der Krise eröffnen, andere Aspekte damit zugleich jedoch abdunkeln.

Der Inbegriff abstrakten Denkens ist das Denken in Zahlen. Die Orientierung an Zahlen hat unsere Lebensrealität der Corona-Monate – in Gestalt der täglichen Neuinfektionen, des ‚R-Faktors‘, der ‚Sieben-Tage-Inzidenzen‘ – maßgeblich bestimmt. Um inmitten der Krise Abstraktionen im eigenen Nachdenken über die Krise zu überwinden, wäre von der Orientierung unserer politischen Maßnahmen an diesen Kennzahlen auszugehen. Dabei kann es – im Sinne konkreten Denkens – nicht darum gehen, die Orientierung an den Kennzahlen per se als abstrakt zu verwerfen. Vielmehr wären in einem ersten Schritt die Deutungen der Krise und die Strategien zu deren Bewältigung durchsichtig zu machen, die „hinter“ den Kennzahlen stehen. Es wäre zu fragen, welche Aspekte unseres geteilten Lebens mit Hilfe der Kennzahlen in Betracht gezogen und geschützt werden sollen. Im Frühjahr wurde v.a. die Auslastung der Kliniken genannt, inzwischen sind noch andere Aspekte unseres geteilten Lebens in den Fokus gerückt: u.a. die Arbeitsbelastung der Gesundheitsämter, die ökonomische Belastung des Einzelhandels, der Schutz und die Bildung unserer Kinder in Kitas und Schulen.

In einem zweiten Schritt können Abstraktionen unserer Deutungen der Krise – „hinter“ den Zahlen – kritisiert werden. Dabei handelt es sich um keine Kritik im ‚luftleeren Raum‘ des allgemeinen theoretischen Denkens. Die Kritik bezieht sich auch nicht auf den Umstand, dass alle Deutungen als Deutungen notwendigerweise Abstraktionen implizieren. Vielmehr handelt es sich um praktische Kritik. Sie setzt an praktischen Formen der Abstraktheit – und d.h. insbesondere: an Formen des Ausschlusses und der Normalisierung – an, die bestimmte Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise zeitigen. In Bezug auf den sog. Frühjahrs-Lockdown geht sie etwa von dem Leiden aus, das diese politischen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung bei vielen vulnerablen Personengruppen durch Ausschluss oder Normalisierung hervorgebracht haben. Im Ausgang von solchen Formen der Ungerechtigkeit werden die Deutungen der Krise in praktischer Hinsicht als abstrakt kritisiert, denen die jeweiligen Maßnahmen zu Bewältigung der Krise verpflichtet sind: als abstrakt, indem sie bestimmte Aspekte an unserem Leben in der Krise abblenden, die es bei deren politischer Bewältigung zu berücksichtigen gilt – wenn letztere keine Ungerechtigkeiten hervorbringen soll. In Auseinandersetzung mit dem Frühjahrs-Lockdown wäre etwa die Auffassung der Krise als abstrakt zu kritisieren, die letztere auf die Gefährdung der intensivmedizinischen Versorgung der Covid-19-Patient_innen reduziert. Die Übungen in konkretem Denken stellen sich dergestalt als ein offener unabgeschlossener Lernprozess dar, in dessen Verlauf die politischen Maßnahmen der Krisen-Bewältigung und die dahinterstehenden Deutungen der Krise im Lichte ihrer praktischen Abstraktionen reflektiert, kritisiert und revidiert werden (zu solchen politischen Lernprozessenvgl. Jaeggi 2014, 392-446).

Und drittens hätte sich konkretes politisches Denken noch von einem weiteren Aspekt des abstrakten Denkens in der Krise zu befreien, das die aktuellen politischen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung bestimmt: von einem undemokratischen Durchregieren der Exekutive. Solch ein Durchregieren ist nicht in seinen Inhalten, sondern in seiner Form abstrakt. Es zeichnet sich dadurch aus, die politischen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung erst zu beschließen und im Nachgang Akzeptanz für die beschlossenen Maßnahmen im Parlament und in der Öffentlichkeit herstellen zu wollen. Darin überspringt es jedoch nicht nur die Bedingungen, unter denen die ‚breite Bevölkerung‘ die Maßnahmen als die ihrigen bejahen könnte. Es verbaut sich auch selbst die Möglichkeiten, konkretes Denken im Dialog einzuüben: in Form von pluralen Debatten, in denen Demokrat_innen einander wechselseitig von den Abstraktionen ihrer Krisen-Deutungen befreien. Als demokratische Institution werden aktuell die Bürger_innenräte wiederentdeckt. Wenn Philosoph_innen sich künftig am wissenschaftlichen Beirat von Corona-Bürger_innenräten beteiligten, dann setzten sie keine Großtheorie der Gerechtigkeit um. Sie könnten allerdings einen Beitrag zur Ausgestaltung von Corona-Bürger_innenräten zu Foren leisten, in denen Ungerechtigkeiten überwunden werden. Indem in Corona-Bürger_innenräten Vorschläge zur politischen Pandemiebekämpfung nicht nur ‚von unten‘, sondern auch in pluralen Debatten erarbeitet würden, könnten darin nämlich die formalen und inhaltlichen Abstraktionen unserer politischen Maßnahmen der Krisenbewältigung abgebaut – und miteinander inmitten der Krise konkret über die Krise und deren guter Bewältigung nachgedacht werden.


Olivia Mitscherlich-Schönherr ist Dozentin für Philosophische Anthropologie mit Schwerpunkt auf Grenzfragen des Lebens an der Hochschule für Philosophie in München


Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1807): Wer denkt abstrakt? In: ders., Werke, Bd. 2, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michels, Frankfurt a. Main 1986, 575-581.

Jaeggi, Rahel (2014): Kritik von Lebensformen, Berlin.

Kant, Immanuel (1983): Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werke, Bd. 8: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Darmstadt, 233-620.

Kersting, Daniel (2017): Tod ohne Leitbild? Philosophische Untersuchungen in einem integrativen Todeskonzept, Paderborn.