Zur Aktualität Hegels: Hegel als Denker des Anthropozäns
von Stascha Rohmer (Medellín)
Im Zentrum eines jüdischen Witzes, der Schopenhauer und Beckett gleichermaßen faszinierte, steht das problematische Verhältnis der Welt zu einer Hose. Ein Mann geht zum Schneider und beschwert sich: „Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, und Sie brauchen sechs Monate, um eine Hose zu machen.” Darauf antwortet der Schneider: “Aber, mein Herr, sehen Sie sich doch die Welt an, und sehen Sie da Ihre Hose!” Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade der Hegel-Antipode und Welt-Verachter Schopenhauer einen tiefen Gefallen an diesem Witz fand. Denn die Diskrepanz zwischen der defekten Welt und der Perfektion der Hose offenbart den Riss im Herzen der Welt, den Hegel mit seinem Denken immer überwinden wollte.
Hegel hat das Problem, mit dem er seine Zeit konfrontiert sah, mit dem Begriff „Entzweiung“ charakterisiert. Entzweiung ist aus Hegels Sicht dialektisch verfasst, denn sie ist zwar ein falscher Zustand, doch zugleich die Quelle des Bedürfnisses nach Philosophie. Sie ist insofern ein falscher Zustand, als sich das Absolute gleichsam in Isolation begeben hat und auf diese Weise die „Macht der Vereinigung“, die doch an sich das Weltganze in seinem Innersten zusammenhalten sollte, verloren gegangen ist. Jetzt existiert das Ganze nur noch in der Zersplitterung seiner eigenen, verselbständigten Teilwesen. Entzweiung aber ist als eine „zerrissene Harmonie“ auch zugleich ein Gefühl, das die „neuere Religion beherrscht“, das Gefühl nämlich, dass „Gott selbst tot ist“. Die Philosophie sollte dieses Gefühl ernst nehmen. Sie darf dabei allerdings nicht übertreiben, sondern muss den Tod Gottes „rein als Moment, aber auch nicht mehr denn als ein Moment der höchsten Idee“ begreifen. So kommt Hegel zu seiner eigenwilligen Charakterisierung der Philosophie als „spekulativen Karfreitag“.
Als ein solcher Tag hat die Philosophie die Aufgabe, die Zersplitterung der Wirklichkeit aufzuheben und die Totalität zu re-konstruieren, die das Ganze an sich, aber noch nicht für sich ist. Dies impliziert aus Hegels Sicht den Aufweis, dass das „Ganze“ eine vernünftige Grundstruktur besitzt. Hegel hat diese vernünftige Grundstruktur „Geist“ genannt und versucht, alle Phänomene in Natur und Geschichte auf denselben als ihren gemeinsamen Ursprung zurückzuführen: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“. Mit diesem provokanten Diktum hat Hegel seinen Standpunkt vereinfacht charakterisiert. Auch die Natur ist aus dieser Sicht ihrem innersten Wesen nach Geist, aber „sich entfremdeter Geist“ d. h. Geist, der sich als Geist noch nicht objektiv geworden ist. Umgekehrt ist aus seiner Perspektive das humane Selbstbewusstsein, das sich im Gang der Geschichte zum Bewusstsein der Freiheit herausbildet, eben dasjenige Phänomen, in der der Geist sich seines eigenen Wesens vergewissert: „Absolutes Wissen“ hat Hegel jenen Zustand genannt, in welchem der Geist sich selbst erfasst. „Absolut“ ist dieses Wissen, weil in ihm der Geist die Gewissheit erlangt, dass er alle Wirklichkeit ist. Das bedeutet konkret, dass der Mensch als individuelle Verkörperung des Weltgeistes in allem, was ihm in der Welt gegenübertritt, zugleich sich selbst gegenübergestellt ist. Könnte vielleicht die eigentliche Aktualität von Hegels Denken in der These liegen, dass der Mensch in allem, was ihn umgibt, in Wahrheit sich selbst gegenübertritt, wie dies auch bestimmte Interpretationen der Quantentheorie nahelegen?
Im August 2016 hat die angesehene Internationale Geologische Gesellschaft zur Charakterisierung unseres Erdzeitalters den Vorschlag angenommen, unsere geochronologische Epoche als „Anthropozän“ zu bezeichnen. Das Anthropozän ist das Zeitalter, in dem der ánthropos selbst zum wichtigsten Einflussfaktor für die geologischen, biologischen und atmosphärischen Prozesse dieser Erde geworden ist: Klimawandel, Artensterben, Übersäuerung der Ozeane und Anreicherung der Böden mit radioaktivem Müll sind hier die Stichworte, welche die offizielle Einführung des Begriffes rechtfertigen sollen. Denn während im früheren Erdzeitalter, dem Holozän, der Mensch einer unvordenklichen und in ihrer Ursprünglichkeit scheinbar unhintergehbaren Natur gegenübertrat, tritt er nun im Anthropozän sich selbst als Naturgewalt gegenüber – einer Naturgewalt allerdings, die so feindlich ist, dass sie das Potenzial hat, alles höhere Leben auf der Erde und damit zugleich sich selbst zu vernichten. Kann man das Anthropozän, in dem der Mensch mit sich selbst in einer Weise konfrontiert ist, die Hegel so nie vorhersehen konnte, dennoch als eine Erscheinungsweise des Geistes im Hegelschen Sinne deuten? Auch wenn es in gewisser Weise paradox klingen mag, lässt sich in der Tat eine Hegelsche Sicht auf das Anthropozän entwickeln, wobei man freilich den ungebrochenen Vernunftglauben Hegels aufgeben muss: Insofern die „Natur“ aus Hegels Sicht an sich entfremdeter Geist ist, lässt sich die These vertreten, dass das Anthropozän, in dem der Mensch sich selbst als einer blinden Naturgewalt gegenübertritt, das Zeitalter der vollendeten Selbstentfremdung des Menschen ist. Die Frage, die sich im Ausgang von dieser Thesestellt, ist natürlich, wie es zu einem solchen Ausmaß an Selbstentfremdung des Menschen überhaupt kommen konnte.
Wollte man diese Frage ausgehendend von Hegel untersuchen, müsste man zunächst genauer analysieren, wie die Selbsteinigung bzw. die Aufhebung der Selbstentfremdung des Weltgeistes in Hegels Philosophie konkret zustande kommt. In der Tat nehmen im Prozess der Selbstaneignung des Weltgeistes in Hegels Geschichtskonzeption zwischenmenschliche Beziehungen einen absolut privilegierten Stellenwert ein: Der Weltgeist findet zu sich selbst, indem die Menschen solidarisch zueinander finden. Zentral ist hier Hegels Konzept der gegenseitigen Anerkennung; eine Anerkennung, die Hegel zunächst im Phänomen der Liebe und später in der gelebten Sittlichkeit realisiert sah. Die Menschen müssen aus Hegels Sicht ihr Getrenntsein voneinander überwinden, indem sie ihr eigenes Selbst in ihren Anderen als wesensmäßig Gleichen finden; sie müssen sich “ineinander wiederfinden wollen”. Hegel wollte mit dieser Konzeption der Anerkennung nicht nur die Ideale der Französischen Revolution philosophisch rechtfertigen, sondern er verfolgte noch eine weiteres, ambitioniertes Projekt: die Lösung der schon von Platon aufgeworfenen Frage, wie denn die Menschen als sterbliche und endliche Wesen an der Idee des Guten teilhaben können, wenn letztere doch unendlich und unsterblich ist. Zentral ist hier Hegels Gedanke, dass die Menschen im Prozess der gegenseitigen Anerkennung eine Form von Freiheit realisieren, die als „freie Liebe“ prinzipiell die Macht hätte, die Beschränkungen und Bedingungen ihrer endlichen Existenz zu transzendieren. Hegel glaubte im Strudel der Euphorie, die die Französische Revolution ausgeübt hatte, sich in einer Zeit zu befinden, in der diese Freiheit das Bewusstsein ihrer selbst erlangt hat und sich in einer vernunftgemäßen Gestaltung der menschlichen Lebenswelt manifestieren würde.
Angesichts von Auschwitz und Hiroshima, aber auch angesichts der ökologischen Katastrophe können wir heute hingegen nicht umhin, zu der Auffassung zu gelangen, dass Hegel sich mit seinem Geschichtsoptimismus in eine fixe Idee verrannt hat. Das heißt aber nicht, dass Hegel der Philosophie keine Denkanstöße für brennende Fragen unserer Zeit anbieten würde. Zwar können wir aus Hegels Philosophie zeitbedingt nicht so etwas wie eine Technikphilosophie oder Umweltethik ableiten. Wohl aber könnte uns Hegels Philosophie der Anerkennung dazu verhelfen, entscheidende Einsichten über den unlösbaren Zusammenhang zwischen der ökologischen und der sozialen Krise zu gewinnen, der von Klimaforschern, wie Hans Joachim Schellnhuber, und von Sozialphilosophen, wie Thomas Pogge, aber auch von Papst Franziskus immer wieder ins Zentrum der Problematik gestellt worden ist. Denn wenn der Mensch sich einerseits selbst im Anthropozän als einer blinden Naturgewalt gegenübertritt und anderseits Hegel darin Recht haben sollte, dass der Weltgeist seine Selbstentfremdung in der gegenseitigen Anerkennung vernunftbegabter Subjekte überwindet, dann konfrontiert uns die ökologische Krise auch mit der Frage, ob wir uns als Menschen in dieser Welt wirklich und wahrhaft gegenseitig anerkennen. Denn wenngleich die Menschenrechte von fast allen Staaten dieser Welt formal anerkannt worden sind, so gibt es doch Gegenden in dieser Welt, in denen etwa ein Smartphone oder ein T-Shirt einer Markenfirma eventuell höher bewertet wird als ein menschliches Leben. Sollte man von hier aus auf den scheinbar verwegenen Gedanken kommen, dass Reichtum und Anerkennung in dieser Welt miteinander zusammenhängen könnten, dann wird man auch zu dem Schluss kommen müssen, dass knapp der Hälfte der Weltbevölkerung, die z.T. in schwerster Armut lebt, „Anerkennung“ in hohem Maße versagt bleibt. So scheint sich im 21. Jahrhundert die gegenseitige Anerkennung auf einen immer kleiner werdenden Teil der Menschheit zu beziehen.
Eine Anerkennung aber, die sich nur als solche verwirklichen kann, wenn sie den Anderen ausgrenzt, wäre aus Hegels Sicht bestenfalls ein schlechter Scherz. Denn eine Anerkennung, die die reale Ungleichheit, d. h. die Negation der Universalität des Menschen zur Grundlage hat, verhält sich zur Welt wie ein verrückter Ingenieur, der alles, was auf dieser Welt zu haben ist, zusammenbastelt, um ein Schiff zu bauen – allerdings mit dem Vorsatz, es grandios sinken zu lassen. Das globale Wirtschaftssystem, aus dem die Weltarmut, die Nichtanerkennung des Anderen und die ökologische Krise hervorgehen, ist nun eben ein solches, vom Menschen selbst gezimmertes Schiff: eine als „Arche Noah“ verkleidete Titanic. Der jüdische Schneider aber, der auf dem Deck dieses Schiffes sein Können beweist und eine perfekte Hose zu schneidern vermag, fände – so ungeheuerlich auch die Situation ist – sicherlich dennoch Hegels Anerkennung.
Stascha Rohmer studierte Philosophie und Hispanistik an der Freien und der Technischen Universität Berlin 1999 promovierte er mit einer Arbeit zu Whiteheads Kosmologie an der TU-Berlin. In den Jahren 2000-2014 von war er u.a. Stipendiat und Lehrender an der Humboldt-Universität Berlin und arbeitete als Research Fellow am Institut für Philosophie des „Obersten Rates für wissenschaftliche Forschung“ (CSIC) in Madrid. Im Jahr 2015 nahm er einen Ruf an die Universidad de Medellín“ in Kolumbien an, wo er als Direktor der Forschungslinie „Rechtsphilosophie und allgemeine Rechtstheorie“ das internationale Forschungsprojekt „Schutz der Biodiversität als philosophisch-juristisches Problem“ leitete. Im Jahr 2019 war er als Mercator-Fellow Gastprofessor an der Ruhr-Universität Bochum. Momentan arbeitet er zusammen mit Georg Toepfer (ZfL, Berlin) an dem Band „Anthropozän-Klimawandel-Biodiversität“ (Alber, 2020). Seine wichtigste Veröffentlichung zu Hegel ist die Monographie „Die Idee des Lebens.“ (Alber, 2016)