Radikaler versus behutsamer Klimaschutz: warum Behutsamkeit angesichts der Risiken ungerecht wäre

von Eugen Pissarskoi (Tübingen)


Die internationale Staatengemeinschaft hat sich im Jahr 2015 darauf geeinigt, die globale Erwärmung auf maximal 2°C, nach Möglichkeit auf 1,5°C, zu begrenzen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen nahezu alle Staaten, insbesondere aber die wohlhabenden, frühzeitig industrialisierten wie Deutschland, ihre Treibhausgasemissionen reduzieren. Politisch umstritten ist jedoch, in welchem Umfang und wie schnell ein Land wie Deutschland seine Treibhausgasemissionen reduzieren soll. Zivilgesellschaftliche Akteure wie beispielsweise Vertreter*innen der Fridays for Future Bewegung fordern, dass politische Maßnahmen getroffen werden, mit denen die Treibhausgasemissionen bis 2035 vollständig reduziert werden. Teils tun sie das mit reißerischen Slogans („I want you to panic“; „Wir sollen handeln, als wenn unser Haus brennt“). Hingegen halten andere gesellschaftliche Akteure wie beispielsweise der Klimawissenschaftler Hans von Storch (SPIEGEL 43/2019) solche Forderungen für naiven Aktionismus und Panikmache. Von Storch zieht in Zweifel, dass die Forderungen aus der Zivilgesellschaft sachlich fundiert seien: „Was die jungen Klimaaktivisten anbieten, ist ein wilder Mix aus Fakten und Spekulationen.“ Er plädiert vielmehr dafür, Treibhausgasemissionen langsamer und insbesondere durch neuartige Technologien zu reduzieren. Die Politik soll insbesondere die Entwicklung solcher Technologien fördern, radikalere Schritte sind eher kontraproduktiv, lässt sich aus seinen Aussagen schlussfolgern.

In diesem Beitrag will ich aufzeigen, dass die Forderungen von beiden Lagern – Fridays for Future auf der einen Seite und behutsamere Klimaschützer*innen wie Hans von Storch auf der anderen – mit dem naturwissenschaftlichen Stand des Wissens im Einklang stehen: Keinem der beiden Lager kann vorgeworfen werden, Erkenntnisse der Naturwissenschaft zu ignorieren oder sachlich nicht fundiert zu sein. Ihre Auseinandersetzung resultiert vielmehr aus konträren moralischen Festlegungen darüber, wie angesichts unterschiedlicher Gewissheitsgrade über mögliche Klimafolgen gehandelt werden soll. Ich werde ein Analogieargument dafür vorbringen, dass die Risikoeinstellung der Fridays-for-Future-Position moralisch angemessener ist als die ihrer Kritiker*innen.

1. Klimawissenschaftliches Hintergrundwissen

Folgen des Klimawandels können nicht präzise vorhergesagt werden. Zum einen liegt dies daran, dass die zukünftigen Treibhausgasemissionen, die die Menschheit emittieren wird, nicht präzise vorhersagbar sind. Zum anderen liegt es daran, dass nicht eindeutig bekannt ist, wie stark die zunehmende Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre die Erdoberfläche erwärmt. Klimawissenschaftler*innen haben hierfür eine Größe eingeführt, die sogenannte Klimasensitivität. Sie beschreibt, wie stark die Oberflächentemperatur (im langfristigen Gleichgewicht) ansteigen würde, nachdem sich die Konzentration des CO2 in der Atmosphäre verdoppelt hat, also von 280 ppm CO2 (vorindustriell) auf 560 ppm CO2 angestiegen ist. Die Größe der Klimasensitivität ist nicht eindeutig bekannt. Abbildung 1 veranschaulicht den Stand des Wissens über die Höhe der Klimasensitivität aus dem letzten Bericht des Weltklimarates.

Quelle: Weltklimarat, 5. Bericht, 1. Arbeitsgruppe, Abschnitt „Technical Summary“, Abbildung TFE 6, 1.

Es ist nahezu gewiss, dass die Klimasensitivität nicht unter 1°C liegt. Es gibt keine Evidenzen dafür, dass sie über 10°C liegen würde.[1] Doch ihre Größe innerhalb der Bandbreite von 1 bis 10°C ist nicht sicher.

Der Weltklimarat versucht, die Stärke der Gewissheiten bezüglich des Wertes der Klimasensitivität zu beurteilen. Hierfür verwendet er den Begriff der Wahrscheinlichkeit. So schreibt der Weltklimarat, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass die Klimasensitivität höher als 6°C betrage. Als wahrscheinlich beurteilen Klimawissenschaftler*innen die Bandbreite zwischen 1,5 und 4,5°C, wobei sie sich nicht darauf festlegen, welcher Wert die höchste Wahrscheinlichkeit aufweist.

Führen wir uns vor Augen, was dieser Wissensstand bedeutet. Es ist physikalisch möglich, dass die Klimasensitivität bei 6°C liegt. Ist dies der Fall, wird bei einem Anstieg der CO2-Konzentration auf 560 ppm CO2 die globale Oberflächentemperatur langfristig um 6°C ansteigen. Nach Einschätzung der Klimawissenschaftler*innen ist dies wenig wahrscheinlich. Es ist auch physikalisch möglich, wenn auch gemäß dem Weltklimarat sehr unwahrscheinlich, dass die Klimasensitivität 9°C beträgt. In diesem Fall steigt die Temperatur um 9°C bei Verdoppelung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Im Jahr 2018 betrug die CO2-Konzentration in der Atmosphäre 407 ppm CO2, die Konzentration aller Treibhausgase 496 ppm CO2-Äquivalente. Sollte es der Fall sein, dass die Klimasensitivität bei 6°C oder gar höher liegt, induziert die bereits heute emittierte Menge der Treibhausgase einen langfristigen Temperaturanstieg von über 2°C. Selbst wenn die Menschheit sofort aufhört, fossile Rohstoffe zu verbrennen, Zement herzustellen und Wälder zu roden, kurzum: anthropogene Treibhausgase zu emittieren, ist es möglich, wenn auch nach Einschätzung des Weltklimarates wenig wahrscheinlich bis sehr unwahrscheinlich, dass die zukünftigen Generationen mit einem Temperaturanstieg von 4°C oder höher zu leben haben. Es besteht kaum Zweifel, dass die Folgen klimatischer Veränderungen in einem solchen Ausmaß als katastrophal zu beurteilen sind. Die Folgen werden auch höchst ungerecht verteilt sein: Am schlimmsten wird es Weltregionen im Globalen Süden treffen, Teile ihrer Lebensräume werden bei einem solchen Temperaturanstieg unbewohnbar, wobei ihre Bewohner*innen am wenigsten zur Erderwärmung beitragen haben.

Der Wissensstand impliziert aber auch das Folgende: Es ist möglich und nach Einschätzung der Klimawissenschaftler*innen wahrscheinlich, dass die Klimasensitivität 1,5°C beträgt. Ist dies der Fall, kann die CO2-Konzentration bis 560 ppm CO2 ansteigen, um das vereinbarte klimapolitische Ziel zu halten. Zwar müssen hierzu die derzeitigen CO2-Emissionen dennoch sinken, aber das kann behutsam geschehen.

2. Kontroverse über die Klimapolitik

Die Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung lassen sich nun wie folgt interpretieren: Es ist naturwissenschaftlich möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich, dass die bereits emittierten anthropogenen Treibhausgase in der Zukunft höchst ungerechte und katastrophale Folgen verursachen werden. Angesichts dieser möglichen Konsequenzen fordern sie radikale politische Reformen, um auszuschließen, dass die ungerechten Konsequenzen eintreten, sollte es der Fall sein, dass die Klimasensitivität den als unwahrscheinlich eingestuften hohen Wert hat. Ihre Gegner*innen werfen dieser Argumentation hingegen unbegründete Panikmache vor. Die als wahrscheinlich eingestufte Bandbreite der Klimasensitivität liegt zwischen 1,5 und 4,5°C. Hieran sollten sich Entscheidungsträger*innen orientieren, wenn sie klimapolitische Maßnahmen begründen, so die normative Überzeugung der Gegner*innen. Angesichts einer Klimasensitivität um 3°C gibt es zwar gute Gründe, THG-Emissionen zu reduzieren, es gibt aber keine Gründe zur Panik. Der Klimaschutz sollte behutsam angegangen werden, insbesondere durch Einführung Treibhausgase einsparender Technologien.

Wir sehen, diese Kontroverse richtet sich nicht auf klimawissenschaftliche Erkenntnisse. Vielmehr sind sich die Vertreter*innen beider Lager darüber uneinig, welche Handlungen angesichts der Unsicherheiten moralisch geboten sind. Die einen behaupten, politische Handlungsempfehlungen sollen an denjenigen klimatischen Szenarien ausgerichtet werden, denen der Weltklimarat die höchste Gewissheit zuschreibt. Die anderen legen sich hingegen darauf fest, klimapolitische Maßnahmen so auszurichten, dass sehr unwahrscheinliche, aber katastrophale Folgen verursachende klimatische Entwicklungen verhindert werden. Das heißt, sie legen sich darauf fest, dass es moralisch geboten ist, angesichts von klimatischen Auswirkungen sehr risikoavers zu entscheiden. Welche Einstellung gegenüber Risiken ist nun geboten?

3. Moralisch angemessene Entscheidungen unter Unsicherheit

Auf den ersten Blick mag es erscheinen, dass die Haltung der Riskoneutralität vernünftig sei: Wir orientieren uns stärker an denjenigen Werten, die Klimawissenschaftler*innen als am wahrscheinlichsten ansehen. So entscheiden wir ja in sehr vielen Fällen in unserem Alltag. Mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit können wir auf einer Zugreise umkommen oder vom Fahrrad tödlich stürzen. Mitmenschen, die uns von Zugreisen oder dem Fahrradfahren mit dem Argument abhalten, es sei möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, dass wir dabei umkommen, bezichtigen wir berechtigterweise, unbegründete Panikmache zu verbreiten. Sollten wir im Falle von Klimapolitik nicht genauso urteilen?

Ich halte es tatsächlich für moralisch geboten, im Falle der klimapolitischen Entscheidungen sehr risikoavers zu sein und eben anders zu entscheiden als wir es bei der alltäglichen Benutzung von Verkehrsmitteln tun. Das will ich mithilfe einer Analogie begründen.

Stellen Sie sich vor, Sie sind mit einer Freundin auf einer winterlichen Wanderung im Hochgebirge. Nehmen Sie auch an, bislang ist niemand diesen Weg gegangen. Sie erreichen eine Wegegabelung mit zwei Optionen, die beide zu Ihrem Nachtlager führen.

Gehen Sie nach rechts, haben Sie die Möglichkeit, auf einem gut begehbaren Pfad einen Pass zu besteigen, von dem aus sich eine überwältigende Aussicht bieten dürfte. Ihre Begleiterin ist Geologin und warnt, dass sie es angesichts des Geländes für möglich hält, dass sie beim Lauf über den Pass eine Schneelawine auslösen. Diese kann wiederum die im Tal liegenden Dörfer begraben. Sie schätzt aber diese Möglichkeit für sehr wenig wahrscheinlich ein.

Gehen Sie nach links, haben Sie einen sehr anspruchsvollen Weg vor sich. Sie müssten erst ein Nebelfeld im abschüssigen Gelände mit ausgesetzten Stellen überqueren. Aus Ihrer Erfahrung mit solchem Gelände wissen Sie, dass es eine gefährliche Route ist: Wenn Sie nicht aufmerksam und konzentriert wandern, können Sie abstürzen. Ihre Erfahrung sagt Ihnen aber auch, dass Sie es zu zweit prinzipiell schaffen könnten: Sie müssten sich langsam vortasten und sich stets gut sichern. Ob sich das Nebelfeld auflöst und Sie auf diesem Pfad noch die Aussicht genießen können, das können Sie an der Gabelung nicht abschätzen: Vielleicht wird die Aussicht noch atemberaubender als beim rechten Weg, vielleicht wandern Sie die ganze Zeit im Nebelfeld. Es ist aber ausgeschlossen, dass Sie auf diesem Weg Dritte benachteiligen würden.

Wie sollen Sie sich in einer solchen Situation entscheiden? Ich behaupte: Sie haben die moralische Pflicht, den linken Pfad zu wählen. Denn beim Begehen des rechten Pfades besteht eine ernsthafte Möglichkeit, dass unbeteiligte Dritte durch Sie enorm geschädigt werden. Diese Möglichkeit ist ernsthaft, weil sie auf Einschätzung einer einschlägigen Expertin basiert. Die Gewissheit darüber, dass diese Möglichkeit eintritt, schätzt die Expertin als sehr gering ein. Doch diese als gering eingeschätzte Wahrscheinlichkeit des Lawine-Auslösens gibt Ihnen kein Recht, das Risiko einzugehen, dass sie eintritt, solange es eine Alternative gibt, bei der Dritte nicht gefährdet werden können, selbst wenn die Alternative mit Gefahren für Sie verbunden ist. Und diese Alternative gibt es im genannten Beispiel. Sie birgt zwar Lebensgefahren für Sie. Doch diese Lebensgefahr ist prinzipiell unter Ihrer Kontrolle: Wenn Sie den Weg vorsichtig genug und mit ausreichender Sicherung begehen, wissen Sie aus Erfahrung, dass sie ihn unverletzt zurücklegen können. In einer solchen Situation ist es moralisch falsch, wenn Sie sich für den rechten Pfad entscheiden.

4. Fazit

Kehren wir nun zu unserer Ausgangsfrage zurück: Welche Einstellungen gegenüber Risiko sind im Falle der klimapolitischen Entscheidungen geboten?

Wenn Sie meiner Begründung der Handlungswahl im Wander-Beispiel folgen, stimmen Sie zu, dass es Situationen gibt, in denen wir Handlungen unterlassen sollen, bei denen die Möglichkeit besteht, dass durch sie Dritte signifikant geschädigt werden, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten dieser Möglichkeit als sehr gering eingeschätzt wird und die Alternativen deutlich unangenehmer für uns sind. Hierbei wird unterstellt, dass es moralisch geboten ist, gemäß einem sehr risikoaversen Prinzip und nicht gemäß einem risikoneutralen Prinzip zu entscheiden.

Klimapolitische Entscheidungen ähneln in ihrer Struktur viel mehr Entscheidungssituationen unter Unsicherheit, in denen gemäß unseren moralischen Grundüberzeugungen wir sehr risikoavers entscheiden sollen, als Entscheidungssituationen unter Unsicherheit, in denen wir risikoneutral entscheiden sollen. Deshalb ist es moralisch falsch, klimapolitische Ziele mit risikoneutralen Entscheidungsprinzipien zu rechtfertigen. Da die klimapolitischen Handlungsempfehlungen der Fridays-for-Future-Bewegung implizit auf risikoaversen Entscheidungsprinzipien basieren, die Handlungsempfehlungen von ihren Kritiker*innen risikoneutrale Entscheidungsprinzipien unterstellen, unterläuft letzteren ein moralischer Irrtum.


Eugen Pissarskoi ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich „Natur und Nachhaltige Entwicklung“ am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Er studierte Philosophie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Mannheim und Freie Universität Berlin, war Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und wurde 2012 mit einer Arbeit zu Klimaethik promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Entscheidungen unter Unsicherheit; Methoden angewandter Ethik, Klimaethik sowie Philosophie der Ökonomik.


[1] Es wäre ein Irrtum, hieraus zu schlussfolgern, es sei ausgeschlossen, dass die Klimasensitivität über 10°C liegt. Auch solche Werte sind physikalisch möglich. Doch für meinen Gedankengang reicht es, dass wir uns darauf einigen, dass die Klimasensitivität bei 8 oder 9°C liegen kann.