Zwischen Kleben und Verstehen: Ziviler Ungehorsam der Klimaaktivist:innen. Arroganz oder gelebte Demokratie?

Von Marlon Possard (FH Campus Wien)


Klimaaktivist:innen und ihre Aktivitäten werden in den letzten Monaten vermehrt kontrovers diskutiert. Häufig ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Warum und dem Wie der Aktivist:innen. Während ihre Anliegen, das heißt der Klimaschutz und die Senkung der Treibhausgase, von vielen Menschen positiv aufgenommen werden, wird das Kleben an öffentliche Straßen und das Beschmutzen von Museen kritisch gesehen. Man sieht: Das Warum verträgt sich nicht immer mit dem Wie. Also: Wie weit darf ziviler Ungehorsam überhaupt gehen? Keine einfache Frage und eine Frage, die die Rechtswissenschaft und die Philosophie gleichermaßen beschäftigt.

Es ist der 7. August 2023, Innsbruck, frühmorgens. Auf dem Weg zur Bibliothek sehe ich eine Schar von friedlichen Klimaaktivist:innen der Gruppierung „Letzte Generation“ auf mich zukommen, die gerade eine vielbefahrende Brücke mit autogroßen Holzleisten überqueren. Eine Dame auf der gegenüberliegenden Seite hält eine Tafel mit der Aufschrift „Ziviler Ungehorsam! Jetzt!“ in die Luft. Eine Frau neben mir ruft den Aktivist:innen energisch zu: „Ja nicht auf die Straße kleben! Geht doch lieber mal arbeiten!“. Im Wissen, dass für mich solche Begegnungen nicht neu sind, ziehe ich weiter. Als Wissenschaftler beschäftigen mich solche Phänomene aber trotzdem, speziell die Frage nach dem Nutzen und der Berechtigung des zivilen Ungehorsams. Und dann kommen mir beispielsweise Jürgen Habermas, der im zivilen Ungehorsam einen öffentlichen Akt sieht, und Hannah Arendt in den Sinn, die sich beide auf philosophischer Ebene intensiv mit dem Terminus eines solchen Ungehorsams beschäftigt haben. Der Begriff erlebt gegenwärtig jedenfalls eine Renaissance, wie am Innsbruck-Beispiel demonstriert werden kann. Wie kann dieses Phänomen, das ich in Innsbruck beobachtet habe, bewertet werden?

Das bloße Spaziergehen der Aktivist:innen ist jedenfalls nicht als Akt des zivilen Ungehorsams zu bewerten, weil hier keine direkte Konfrontation mit geltendem Recht erfolgt. Werden jedoch öffentliche Straßen blockiert oder Museen verunstaltet, liegt die Möglichkeit einer (straf-)rechtlichen Verfolgung aufgrund eines Rechtsbruches vor, die von den Aktivist:innen weitestgehend akzeptiert wird. Dieses In-Kauf-Nehmen, also die Bereitschaft, die Konsequenzen für das Handeln zu tragen, kann somit als eine Form des zivilen Ungehorsams klassifiziert werden, sofern dieses auf dem Grundsatz der Gewaltlosigkeit basiert und die Beteiligten den Rechtsstaat grundsätzlich anerkennen. Gewaltlosigkeit der Durchführung, also ohne Eintritt eines Schadens oder einer Verletzung, und prinzipielle Bekennung zum Staat sind nämlich Grundvoraussetzungen dafür, dass überhaupt erst von zivilem Ungehorsam gesprochen werden kann. Dadurch lässt sich ziviler Ungehorsam vom klassischen Widerstandsrecht differenzieren. Ziviler Ungehorsam ist grundlegend kein neues Phänomen, im Gegenteil. Es kann attestiert werden, dass bereits einige politische Entscheidungen auf Akte des zivilen Ungehorsams zurückgeführt werden können (z. B. aufgrund des civil disobedience in Bezug auf die Apartheid der Bevölkerung, v. a. bewirkt durch Nelson Mandela), wenngleich solche Praktiken und ihre Legitimität auch dort bis heute umstritten sind. Speziell in Österreich wird ziviler Ungehorsam meist dann als Mittel eingesetzt, wenn es um wesentliche gesellschaftliche Fragen geht. Immer mehr zeigt sich, dass sich gerade jüngere Menschen an solchen Formen beteiligen, was durch die gegenwärtige Klimakrise deutlich wird. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, weil sich auch für ihn neue Fragestellungen hinsichtlich der Rechtssicherheit, z. B. in Bezug auf Fragen der Versammlungsfreiheit und des gerechtfertigten Notstands, ergeben.

Aus philosophischer Perspektive heraus betrachtet ist die Eigenheit des zivilen Ungehorsams ebenfalls von Interesse, da sich in seinem Vollzug ein Widerspruch feststellen lässt. Die Klimaaktivist:innen wollen mit ihren Aktionen zwar einerseits das Wohl aller fördern, andererseits jedoch missachten sie dabei jene rechtlichen Normen, die gerade demokratisch legitimiert sind. So wird auch eine philosophische Rechtfertigung zunehmend zum Problem, wenngleich aufgezeigt werden kann, dass ziviler Ungehorsam prinzipiell nur in jenen Staaten akzeptiert wird, die auf demokratischen Aspekten basieren. Es bestehen primär zwei Rechtfertigungsmöglichkeiten des zivilen Ungehorsams: Einerseits eine juristische und andererseits eine moralische Begründung unter dem Element der Legitimation. Ziviler Ungehorsam kann nicht die Lösung aller Dinge sein. Das Auf-die-Straße-kleben wird auch keine bleibende Methode darstellen, um auf den Gesetzgeber und seine Entscheidungen einzuwirken. Herausfordernd für demokratische Rechtsstaaten wird es ebenso sein, die Balance zwischen Ungehorsam und Gehorsam, d. h. zwischen Legalität und Illegalität, zu finden.

Und was will uns das nun Geschriebene sagen? Es steht unzweifelhaft fest, dass wir uns in einer Welt vieler kritischer Umstände, ich nenne sie Diffizilitäten, befinden. So wie von einer Gesellschaft nicht gewollt werden kann, dass ziviler Ungehorsam in allem das letzte Mittel ist, so darf auch nicht gewollt werden, dass die jungen Menschen die „letzte Generation“ sind, denen der Planet Erde in dieser Form erhalten bleibt. Und gerade deshalb müssen sie vielleicht laut sein, beunruhigen und störend wirken. Nur wer wirklich versteht, was die juristischen und philosophischen Quintessenzen des zivilen Ungehorsams sind, kann aktuelle Phänomene richtig einordnen. Ich schließe mich dem Verständnis des deutschen Sozialwissenschaftlers Robin Celikates an, wenn er den zivilen Ungehorsam als einen „anarchischen Moment der Demokratie“ (R. Celikates, 2010, Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie – konstituierende vs. konstituierte Macht, S. 298) definiert. Vom Nichtstun wird sich jedenfalls auch unser Klima nicht verändern und ziviler Ungehorsam ermöglicht es, sich im Kontext einer Art Störung des Politischen und einer Reflexion demokratischer Gegebenheiten bestenfalls gewaltfrei zu Wort zu melden. Problematisch hingegen sehe ich die vermehrt in Erscheinung tretende und pauschalisierte Phrase der „Klimaterrorist:innen“. Ein solche sprachliche Verselbstständigung, nämlich von „Klimaaktivist:innen“ hin zu „Klimaterrorist:innen“, ist, v. a. aus juristischer Sicht, nicht unproblematisch und findet häufig dafür Verwendung, die Aktivist:innen einer engmaschigeren (straf-)rechtlichen Verfolgung auszusetzen und verschärfte Maßnahmen ihnen gegenüber de facto zu legitimieren. Solche sprachliche Verschiebungen können jedenfalls als gefährlich qualifiziert werden.

Summa summarum kommt es, wie in so vielen Angelegenheiten, die rechtlichen, politischen und philosophischen Sphären gleichermaßen zugeordnet werden können, auf einen Mittelweg und auf das Agieren eines jeden Individuums an. Auch die Wissenschaft kann dazu ihren Beitrag leisten.


Dr. Marlon Possard, geb. 1995, ist Dozent, Habilitand und Präsident a. D. des Akademischen Börsenvereines Innsbruck. Er lehr und forscht u. a. an der FH Campus Wien. Die Rechtsphilosophie bildet einen seiner Lehr- und Forschungsschwerpunkte.

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