Nachdenken über den Frieden in Zeiten des Krieges

Von Philipp Gisbertz-Astolfi (Göttingen)


Es tobt ein Krieg in Europa. Was vor Kurzem noch undenkbar schien, ist heute traurige und schockierende Realität. Die philosophische Ethik des Krieges bietet vieles, was sie uns Bereicherndes über diesen Krieg lehren kann. Am Ende bringt sie uns dorthin, woran ohnehin kein Zweifel bestehen darf und kann: Dieser Krieg ist ungerecht und verwerflich. Ich will hier einen anderen Fokus wählen, einen Ansatz der Hoffnung, einen Blick auf das gerade beinahe Undenkbare: den Frieden.

Keine Frage: Als Ethiker:in sollte man sich nicht vor dem Ungerechten verstecken, sollte es aushalten, dass einen diese Ungerechtigkeit zur Verzweiflung bringt, und dennoch weiter darüber nachdenken, Gedanken und Argumente sortieren und die Vernunft und Moral vor jenen zynischen Stimmen verteidigen, die sie entweder mit Lügen verdrehen oder mit einem vorgeschobenen und nur scheinbaren Realismus bestreiten. In der Ethik des Krieges finden wir zahlreiche kluge und leider aktuell allzu notwendige Argumente gegen einen solchen Realismus und gegen einen solchen Krieg. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis: Selbst, wenn man die von der russischen Regierung vorgeschobenen Kriegsgründe für bare Münze nehmen würde, selbst, wenn man annähme, dass die zum Teil absurden Behauptungen stimmten, würde das nicht genügen, um diesen Krieg ethisch zu rechtfertigen.

Zu diesen Punkten darf die Ethik nicht schweigen, und dennoch kann uns die Ethik gerade jetzt, gerade in einer so verzweifelten Situation mehr bieten als das bloße argumentative Rüstzeug gegen die um sich greifende Unmoral. In diesem kurzen Beitrag wird genau deswegen (und nicht, um der anderen Aufgabe der Ethik auszuweichen oder sie gar kleinzureden) der Blick auf die Kehrseite all dessen gerichtet, auf die Philosophie des Friedens.

Wie so oft findet sich einer der klügsten, im Laufe der Philosophiegeschichte ausgebauten Gedanken bereits bei Platon. In Bezug auf den Bürgerkrieg schreibt Platon in der Schrift Nomoi/Über die Gesetze: „Was würde nun jemand lieber wollen: daß durch Vernichtung der einen Partei und Sieg der andern der Friede beim Bürgerzwist zustande kommt oder daß durch eine Aussöhnung Freundschaft und Friede entsteht und sie somit gezwungen sind, ihren Sinn auf die auswärtigen Feinde zu richten? (628b f.)“

Frieden, so lernen wir, kann zweierlei bedeuten: die Unterwerfung einer Konfliktpartei oder die Aussöhnung und Freundschaft beider Parteien. Dieser Gedanke wurde in der Philosophiegeschichte vielfach aufgegriffen und im Laufe der Jahrhunderte changiert der Begriff des Friedens zwischen diesen beiden Polen. Bei einigen der größten Friedensdenkern wie Augustinus, Thomas von Aquin oder Erasmus von Rotterdam wird der Frieden mit Harmonie gleichgesetzt. Wahren Frieden gebe es nur dort, wo das Fehlen bewaffneter Konflikte aufgrund von Harmonie und Freundschaft zwischen den Menschen zustande gebracht werde. Die bloße Unterwerfung und einseitige Durchsetzung ist für diese Denker bestenfalls ein mangelbehaftetes Minus des wahren Friedens. Die Lektüre von Erasmus‘ wunderschönen Schriften zum Frieden kann ich – insbesondere in Zeiten des Krieges und der Verhöhnung seines Erbes als Namensgeber einer parteinahen Stiftung, die seinem Werk so fernsteht, wie keine andere – nur jedem ans Herz legen.

Dieser Begriff des Friedens als Freundschaft, Aussöhnung und Harmonie ist eine schöne Utopie im positivsten Sinne des Wortes. Er zeigt uns, wonach wir streben sollten, selbst wenn wir es wohl nie erreichen. Immanuel Kant hat diesem Gedanken einen nach eigener Aussage nicht weniger utopischen (1797, 350 f.), aber doch greifbareren Inhalt gegeben. Sowohl in der Metaphysik der Sitten als auch in Zum ewigen Frieden zeigt er, dass Frieden nur durch gemeinsames Recht zu erreichen ist (1797, 355; 1795, 354). Frieden erfordert, wie der Friedens- und Konfliktforscher Johann Galtung es im 20. Jahrhundert formuliert, Mechanismen gewaltloser Konfliktbeilegung (1998, 31). Für Kant ist der einzige Mechanismus, der dies gewährleisten kann, gemeinsames Recht und daher ein Staatenbund, in dem die Staaten vertraglich-rechtliche Garantien des Friedens etablieren. Am Ende des 18. Jahrhunderts ein bahnbrechender und beeindruckender Gedanke.

Doch diese utopischen Friedensverständnisse haben einen Preis. Wenn Frieden eine Utopie ist, dann ist der Krieg der Zustand der Welt. Nicht zufällig teilt auch Thomas Hobbes in seiner Rechtfertigung absoluter Herrschaft im Leviathan ein solches Verständnis von Frieden. Nur in einem etablierten Staat mit Gesetzen, die vom Herrscher durchgesetzt werden, gebe es Frieden. Ansonsten (und das heißt auch: zwischen Staaten) gebe es nur den Krieg im Sinne des ständigen potenziell gewaltsamen Interessenkonflikts (1651, 186).

Daher haben viele Denker:innen wie Grotius, Pufendorf, Locke und Rousseau den anderen Weg gewählt. Frieden bedeutet für sie die Einhaltung des Rechts und der Gerechtigkeit. Frieden liege also dort vor, wo niemandes moralische oder juridische Rechte verletzt würden. Etwas verkürzt gesagt, ist der Frieden dann vor allem das Fehlen militärischer Konflikte. Statt Krieg wird Frieden, allerdings ein reduzierter Frieden, zum Standard der internationalen Beziehungen. Platon hat diese beiden Verständnisse von Frieden in gewissem Maße schon vor fast 2.500 Jahren in deutlich weniger ausgearbeiteter Fassung vorausgedacht. Freundschaft bzw. Partnerschaft oder Unterwerfung. Frieden durch gemeinsame Konfliktbeilegung oder Frieden durch das Fehlen von Krieg.

Sie können uns heutzutage einiges lehren. Zunächst einmal – mit Blick in die Vergangenheit – müssen wir uns fragen, welche Art des Friedens die westlichen Staaten und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges eigentlich etabliert und angestrebt haben. Wir müssen heute wohl eingestehen, dass für die russische Regierung und große Teile der russischen Bevölkerung der Frieden mit dem Westen ein Frieden im Sinne des Fehlens von Krieg, ja einer Art Unterwerfung, war. Man hatte den Kalten Krieg verloren, war nicht länger in der Lage, den Konflikt mit Aussicht auf Erfolg auszutragen. Doch der Konflikt wurde dadurch offenbar für Wladimir Putin und viele Russ:innen nicht freundschaftlich beendet. Er wurde nicht in eine Form von Partnerschaft oder gemeinsamen Rechts übertragen, sondern mangels besserer Optionen ausgesetzt.

Die verbreitete Diktion in den Vereinigten Staaten, man habe den Kalten Krieg gewonnen, legt nahe, dass dort eine ganz ähnliche Sichtweise herrschte: Nicht Partnerschaft, sondern ein Fortwähren potenzieller Gegnerschaft, deren Eskalation sich der Gegner nicht leisten kann. Ich verlasse mit solchen Analysen natürlich den Bereich meiner philosophischen Expertise. Doch meinem Eindruck nach war das in Deutschland anders. Die Abhängigkeit von russischem Gas, der offenbar desolate Zustand der Bundeswehr – Deutschland macht nicht den Eindruck eines Landes, das glaubte, einen Gegner einhegen zu müssen, damit der Frieden gewahrt bleibt. Man verstand sich – auch wenn ich diese Aussage mit vielen Vorbehalten und politisch-strategischen Sternchen versehen muss – als Partner, hatte zumindest die Idee eines Friedens im Sinne einer Partnerschaft vor Augen.

Wenn man aber jemandem, der sich noch in einer Art Gegnerschaft begreift, ohne aggressive Gedanken, sondern vor dem Hintergrund eines gänzlich anderen (und sicherlich sympathischeren) Verständnisses internationaler Beziehungen und des Friedens zu nahe rückt, so entsteht ein kommunikatives Missverständnis. Was für den einen nicht so tragisch ist, mag dem anderen als Bedrohung erscheinen. Wohlgemerkt: Weder würde ein Naherücken der NATO einen russischen Angriffskrieg – und ganz gewiss nicht gegen die Ukraine – rechtfertigen noch liegt in dem nun häufig angeführten strategischen Fehler der Osterweiterung der NATO eine denkbare Begründung einer moralischen Mitverantwortung oder gar -schuld an dem russischen Angriffskrieg. Wer dies insinuiert, verdreht die moralphilosophischen Zusammenhänge auf zynische Weise. Eine Erklärung ist keine Rechtfertigung.

Doch auch mit Blick auf die Zukunft mag uns die Philosophie des Friedens etwas mitgeben, das wir hoffentlich bei aller richtiger und gerechter Empörung nicht vergessen: Wenn wir nur nach einem pragmatisch reduzierten Frieden statt nach der Utopie der Freund- und Partnerschaft streben, werden wir auch nicht mehr bekommen. Für den Augenblick hat Wladimir Putin den Gedanken an eine Partnerschaft in seinen Grundwurzeln zertrümmert. Wie kann man Partner sein mit jemandem, der lügt, manipuliert und Menschenleben seinen Machtinteressen opfert? Und so ist es nur folgerichtig, dass man sich, wenn jemand für den wahren Frieden ungeeignet scheint, für einen erzwungenen Frieden wappnet. Es ist daher verständlich und vermutlich auch richtig, wenn nun über Aufrüstung diskutiert wird. Ebenso ist es richtig, diesen Krieg mittels straffer Sanktionen zu beenden zu versuchen. Doch am Ende werden wir uns irgendwo auf dem Kontinuum zwischen erzwungenem Frieden und Partnerschaft einordnen müssen. Wenn wir also mit unseren Nachbarn nicht in einem Zustand der gegenseitigen Einhegung wie im Kalten Krieg leben wollen, dann werden wir den Weg zu einem partnerschaftlichen Verständnis von Frieden zurückfinden müssen – und zwar dieses Mal von allen Seiten und nicht nur einseitig. Dafür ist noch nicht die Zeit, aber hoffentlich vergessen wir es nicht, wenn es so weit ist. Denn am Ende sollte es die Hoffnung auf einen Frieden für alle sein, die uns durch diese Zeiten trägt.


Dr. Philipp Gisbertz-Astolfi lehrt Rechts- und Moralphilosophie sowie Öffentliches Recht an der Georg-August-Universität Göttingen. Für seine Forschung zur Philosophie von Krieg und Frieden wurde er im Jahr 2017 mit dem Young Scholar Prize der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie ausgezeichnet.


Erasmus von Rotterdam, Über Krieg und Frieden: Die Friedensschriften des Erasmus von Rotterdam, hrsg. v. Wolfgang F. Stammler, Hans-Joachim Pagel und Theo Stammen, Essen, Stuttgart: Alcorde Verlag; Franz Steiner Verlag, 2018

Johann Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln, Opladen 1998

Thomas Hobbes, Leviathan, London 1968 (Erstfassung 1651)

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Akademie-Ausgabe, Band 6 (Erstfassung 1797)

Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in Akademie-Ausgabe hsrg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Band 8, Berlin 1900 ff. (Erstfassung 1795)

Platon. Nomoi, in Werke. Bd. 8., hrsg. v. Gunther Eigler. 7. Aufl., Darmstadt 2016